Recherche bei Polizeimeldungen

Gerade hat der Journalistenskandal “Hitzacker” ersten Geburtstag. Die völlig recherchefreie Übernahme einer Polizei-Pressemitteilung und deren mutige Ausschmückungen hatte zu einer bundesweiten Fehlinformation der Medienkunden geführt und teils heftige Wortreaktionen provoziert, auch aus der Politik. Dabei waren die Kernaussagen falsch, doch sie dienten zahlreichen Lobbyisten als Anknüpfungspunkt für ihre eigene PR, die wiederum dankbar und kritiklos von den Medien verbreitet wurden. (Siehe hierzu ausführlich die Dokumentation sowie den Kommentar “Journalismus im Pfingsturlaub“)
Hitzacker war aber kein Einzelfall, natürlich nicht, denn die blinde, zumindest blindgläubige Übernahme von Polizeimitteilungen ist Gang und Gäbe. Da sich viele Journalisten in Gesprächen zu ihrer “Berichterstattung” über Hitzacker oder die “Wacken-Opas” völlig verwundert zeigten, wie man denn die Wahrheit von behördlichen Pressemitteilungen anzweifeln könnte, soll hier einmal ausführlich auf die journalistische Bearbeitung von Polizei-PR eingegangen werden (als Prozess, weitere Anregungen werden gerne aufgenommen). Man mag sog. “priviligierten Quellen” eher trauen als anderen, von der Sorgfaltspflicht und konkret der Prüfung von Eigeninteressen (Polizei als Partei) entbindet das Konstrukt jedoch nie (vgl. dazu auch Schultz 2019).

Was sind “Polizeimeldungen”?

Die Polizei- oder “Blaulicht”-Meldungen sind Pressemitteilungen einer staatlichen Einrichtung, z.B. einer Polizeiinspektion, eines Polizeipräsidium oder einer Kreispolizeibehörde. Sie sind wie jede Pressemitteilung Bestandteil der Öffentlichkeitsarbeit, also PR. Entsprechend haben die Verfasser eine eigene Agenda, ein eigenes Entscheidungsmuster, welche Themen sie wie nach außen kommunizieren. Wie alle Öffentlichkeitsarbeiter hat auch die Polizei Interessen, die sie mit ihren Nachrichten und deren zunehmend aktiver Verbreitung verfolgt. Ebenso sind Eigeninteressen im Spiel, Ereignisse nicht zu thematisieren.
Zudem ist die Polizei nicht irgendeine Lobbygruppe, die für oder gegen etwas publiziert – sie ist immer auch Akteurin ihrer Meldungen. Es liegt also weder in ihrem Interesse (PR), noch in ihrer gesellschaftlichen Rolle (Beteiligte), objektiv über Vorgänge zu berichten. Damit wird keineswegs, wie gerne im Umkehrschluss polemisiert wird, pauschal die Verbreitung von Lügen unterstellt. Aber die Polizei ist eben Partei und damit parteiisch. Dabei gibt es sehr offensichtliche Konflikte: insbesondere jede Ausübung des staatlichen Gewaltmonopols, jeder Eingriff in die Grundrechte oder andere Rechte von Bürgern wird natürlicherweise von der Polizei anders bewertet als von den Betroffenen. Aber auch vermeintlich harmlose Geschichten können Konfliktpotential bieten – schließlich kommt die Polizei nur selten, um jemandem zum Geburtstag zu gratulieren. Jede Aufnahme eines Verkehrsunfalls kann von einem oder mehreren Beteiligten kritisiert werden – die Gerichtsverfahren sind voll von Vorwürfen gegen polizeiliche Arbeit (was in den Medien nur bei den ganz großen Fällen thematisiert wird, und da sind die Fehler oder sogar Vorsätzlichkeiten oft genug erschütternd).

Wie aus Pressemitteilungen Journalismus wird

Um aus der Darstellung der Polizei eine journalistische Meldung oder gar einen größeren Beitrag zu machen, braucht es mehr als etwas Redigierkunst oder – bei Radio, TV und Internet – einen O-Ton der Polizei. Die Pressestellen sind längst so professionell, dass viele Texte formalsprachlich den Nachrichtenstandards entsprechen. Zwar ist die korrekte Angabe der Quelle (“laut Polizei”) unabdingbar, sofern noch nicht im PR-Text enthalten, doch mit dieser Distanzierung allein ist es in vielen Fällen nicht getan. Erst eigene Recherche kann aus einer angelieferten Information ein journalistisches Stück machen. Alles andere ist PR, wie etwa ein kommunales “Mitteilungsblatt”, in dem jeder Verein und jede Partei Ankündigungen und Berichte veröffentlichen darf.
Journalistisch wird es also, wenn Menschen das vermeintliche Thema journalistisch aufarbeiten. Dass sie dabei auf “für gewöhnlich gut informierte Kreise” zurückgreifen können, ist eine Hilfe, aber noch nicht einmal die halbe Miete.
Übrigens: Schon die Einschätzung der Polizei vor Ort und die Darstellung später in einer PM können sich erheblich unterscheiden.

Erste Frage: Was ist das Thema?

Die erste journalistische Frage an eine Polizei-PM klingt banal, schließlich ist jeder Text mit einer (griffigen) Überschrift versehen, die häufig verbreiteten Sammelberichte (z.B. vom “Einsatzwochenende”) benennen wenigstens Schlagworte, doch sie ist essentiell: Was ist eigentlich das Thema? Hier beginnt die Differenzierung in Journalismus und PR: Was ist das Thema, das die Öffentlichkeitsarbeit der Polizei anbietet? Es ist zum Beispiel – außer vielleicht in ganz ruhigen Gegenden – nie einfach nur ein “Unfall”; es ist ein bestimmter Unfall, einer, der unter mehreren ausgewählt wurde, und der so oder so mit einer Intention vermeldet wird. Nirgends wird man nur lesen, auf der A, B, K oder L 123 habe es einen Unfall gegeben. Das Thema ist zumeist: Was genau ist passiert oder wie bzw. warum ist es passiert? Und beide Aspekte sind regelmäßig viel zu komplex, als dass sie in wenigen Zeilen hinreichend geklärt werden könnten – nicht von ungefähr beschäftigen alle Unfälle die Beteiligten, ihre und andere Versicherungen, Anwälte und Gerichte. Schon hier ist es mit einem einfachen “nach Angaben der Polizei” oder “nach ersten Erkenntnissen” nicht getan.
Denn die Frage: “Was ist das Thema” bedeutet ja für den Journalismus: “Weshalb sollte das jemanden interessieren, der nicht selbst betroffen ist und ohnehin seine eigene Sicht auf die Dinge hat?”
Geht es um die von der Polizei erwähnte Marken der in den Unfall verwickelten Fahrzeuge und damit um Größe, PS-Stärke, vermutete Geschwindigkeit? Geht es um Alter oder Zustand Beteiligter (“alkoholisiert”, “vermutlich unter Drogen”)? Geht es ums Fahrverhalten (Alter, regennasse Fahrbahn, Überholmanöver)? Stehen bestimmte Emotionen im Mittelpunkt (Kinder, Beifahrer, Fußgänger)? Geht es um Schuldfragen (Fahrerflucht, überhöhte Geschwindigkeit)?

Anhand einer Polizei-PM allein lässt sich das journalistische relevante Thema natürlich noch nicht eruieren. Aber es ist meist recht leicht herauszuarbeiten: Was ist das Thema für die Polizei, was möchte sie vermitteln, darstellen, in die Öffentlichkeit bringen? Und daran muss sich die Recherche anschließen: Was ist aus journalistischer Sicht das öffentlich relevante Thema? Dazu gilt es, die Pressemitteilung gegen den Strich zu bürsten, sie eben aus einer anderen Perspektive als die der Polizei zu betrachten, Fragen aus Sicht anderer zu stellen. Groß formuliert muss die Frage im Journalismus natürlich immer heißen: Was ist wirklich passiert?
Das verlangt, bei aller guten Zusammenarbeit, bei aller persönlichen Nähe, die man im Laufe der Zeit zu den Beamten vor Ort oder in der Region hat, die behördliche Darstellung infrage zu stellen, in Betracht zu ziehen, dass ein Vorfall anders war als von der Polizei geschildert, dass ein anderer Aspekt als der dargestellte interessant ist oder auch, dass es bei allem Drehen und Wenden an Nachrichtenrelevanz fehlt.
Ist das Thema also vielleicht ein ganz anderes, als es die PR vermitteln will?

Zweite Frage: Was sind die Fakten?

Die erste und aufgrund der meist einseitigen Quellenlage gar nicht so einfache Aufgabe ist es, die Fakten herauszuarbeiten. In den meisten Mitteilungen stecken nämlich bereits Interpretationen, Bewertungen, persönliche Ansichten, Interessen, – und manches fehlt. Wie wir es aus jedem noch so belanglosen Krimi kennen: Aussagen müssen hinterfragt und überprüft werden.

Beispiel 1:
Unfall eines Schulbusses, Polizei vermeldet: keine Verletzten, bekannte Phrase: “Glück im Unglück”.
Ich befrage den einzigen hauptamtlichen Notfallseelsorger im Landkreis dazu. Er ist entsetzt, denn er wurde über den Unfall gar nicht erst informiert (Polizei und Feuerwehr rufen diesen erfahrungsgemäß nur, wenn sie eine Aufgabe für ihn sehen, die sie selbst nicht übernehmen wollen oder können, z.B. wenn (viele) Angehörige zu betreuen sind (= am Unfallort stören) oder wenn Todesnachrichten zu überbringen sind). Der Notfallseelsorger wird eigenständig aktiv, lädt zu Gruppen- und Einzelgesprächen ein, diese sogenannte “Nachsorge” zieht sich über viele Wochen. Ergebnis, wenig verwunderlich: Natürlich sind viele Kinder traumatisiert von dem Unfall. Nur weil sie körperlich unverletzt geblieben sind, brauchten sie dennoch Hilfe (der “Schock” ist übrigens eines der häufigen Symptome, die in Meldungen zur Angabe von “Verletzten” führen – doch dieser Schock muss eben medizinisch attestiert werden, sonst gibt es für die Statistik keine Verletzten).
Die naheliegende journalistische Frage war also: Haben wirklich alle Kinder den Busunfall unbeschadet überstanden? War das kein einschneidendes Erlebnis für sie? Und falls doch (wie in diesem Fall später klar dokumentiert): Warum wurde das dafür vorhandene Hilfsnetz nicht aktiviert?
Die Lokalzeitungen haben das nicht thematisiert und nicht weiter verfolgt.
Im selben Landkreis gab es später noch zwei ähnliche Busunfälle mit gleichem Ablauf. Warum das so ist, lässt sich recherchieren. Aber es steht natürlich nicht in der Polizei-PM.

Beispiel 2:
Bei (tödlichen) Verkehrsunfällen mit nur einem beteiligten Auto heißt es oft: “Der Wagen kam in einer langgezogenen Linkskurve aus bisher unbekannter Ursache von der Fahrbahn ab und …”
Rückfragen werden regelmäßig mit Verweis auf die “noch laufenden Ermittlungen” nicht beantwortet (obwohl bekanntlich laufende Ermittlungen allein kein Grund sind, vorhandene Erkenntnisse nicht im Rahmen der presserechtlichen Auskunftspflicht weiterzugeben, denn die Information müsste die Ermittlungen behindern oder gefährden können – was ganz oft nicht der Fall ist, aber viele Lokaljournalisten lassen sich damit abspeisen). Um die PM einschätzen zu können, braucht man natürlich Ortskenntnis, auch ein gutes Netzwerk an Informanten bei Freiwilliger Feuerwehr etc. hilft weiter, aber zur Not muss man den Unfallort auch mal selbst in Augenschein nehmen. Auch mit ein oder zwei Tagen Verzögerung kann man dort als Journalist oft wichtige Hinweise finden. Um nur zwei Situationen zu nennen, die ich selbst mehrfach bei Nachrecherchen festgestellt habe:
a) Die Bauweise der Fahrbahn macht einen Unfall möglich. In einem Fall lag ein klarer Baufehler vor, die Fahrbahn macht plötzlich einen kleinen Schwenk, weil die Straße von beiden Seiten aus gebaut wurde und an dieser Stelle nicht so wie geplant zusammenführt. Das muss natürlich nicht die Ursache gewesen sein, aber es ist ein wichtiger Hinweis für weitere Nachfragen bzw. für eine längere Beobachtung der Ermittlungsarbeit (zu der es meist keine Folge-PM mehr gibt, das Thema soll erledigt sein).
b) Es handelt sich um Suizid. Selbst mit Drahtschlinge um den Hals des Fahrers und einem hinterlassenen Abschiedsbrief hatte die Polizei von “unbekannter” bzw. “ungeklärter Ursache” gesprochen. Dass der Pressekodex verlangt, über Suizide nicht im Detail zu berichten, ist ein eigenes Kapitel der Medienkritik, der Recherche darf diese Ethiklinie jedenfalls nicht im Wege stehen, denn eine falsche Berichterstattung kann nie eine journalistische sein. (Ein Sonderfall ist, wenn die Polizei in einer PK oder im persönlichen Gespräch die Tatsachen offenlegt, aber darum bittet, dies “nicht so zu schreiben” – darauf will ich hier nicht eingehen.)

Beispiel 3:
Bei dem von Spiegelkritik.de intensiv behandelten “Fall Hitzacker” (siehe dazu auch Übermedien) ergaben sich zur ersten Polizei-PM, die fast durchgängig ohne weitere Recherchen verbreitet wurde und zu einem Eklat führte, zahlreiche solcher Fragen nach den Fakten, dass eine Verbreitung unverantwortlich war. Wie sich schließlich herausstellte, war der Verlauf des Geschehens ein ganz anderer, als von der Polizei dargestellt. Anders als bei den vorangegangenen zwei Beispielen kommen wir hier zur journalistisch sehr relevanten Grundfrage: Was bezweckt die Polizei mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit?

Zu den Fakten gehört natürlich gerade auch das, was nicht in der Polizei-PM steht. Man wird nie lesen: “Die Polizisten kamen zu spät, weil sie noch an der Würstchenbude stand und den Funkruf nicht gehört haben.”
Nach diesen Fakten muss man suchen, sobald sich aus den bekannten Ereignissen ergibt, dass sie relevant sein könnten.
Wertungen sind zunächst stets auf ihre Fakten zu reduzieren. “Die Polizei war unverzüglich zur Stelle” klingt unproblematisch, ist aber eine Wertung, die man auch mit Quellenzuschreibung nicht übernehmen darf, ohne die genauen Zeitstempel zu kennen (also z.B. wann ein Notruf einging und wann die Polizei tatsächlich vor Ort war).
Wenn Demonstranten “massiven Widerstand” leisteten, ist das, der Polizei-PR entnommen, kein Faktum, sondern eine Wertung, mit der der Journalismus ohne Kenntnis der Fakten gar nichts anfangen kann. (In dem Zusammenhang sei daran erinnert, dass Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte bei unberechtigten Maßnahmen recht logischerweise keine Straftat ist (§ 113 Abs. 3 StGB) , also selbst objektiv vorhandener Widerstand ohne exakte Kenntnisse des Gesamtzusammenhangs noch keinen Straftäter konstruiert, .)

Dritte Frage: Was will die Polizei vermitteln?

Wie bei jeder Pressemitteilung gilt es auch beim Absender Polizei zu ergründen, was damit bezweckt werden soll. Im Regelfall will jede PM ihren Absender in ein gutes Licht setzen, Erfolge und gute Arbeit vermelden, Sympathie wecken, zu einem dem Absender genehmen Verhalten animieren. In spannenderen Fällen geht es um Deutungshoheit, Wettbewerb, echte Lösungsvorschläge für Probleme etc.

Selbstverständlich verbirgt sich hinter den meisten Polizei-PM keine große aber verdeckte Geschichte. Das Meiste dürfte wirklich “Chronistenpflicht” sein, womit aber gleichwohl eine Botschaft verbunden ist, und sei es nur: wir haben etwas zu tun, es ist keinesfalls so, dass bei uns (auf dem Land/ in der Provinz / im XY Bezirk) nur Hintern platt gesessen werden.
Bei “Hitzacker” vermuteten z.B. zahlreiche der inkriminierten Demonstranten, die Polizei habe mit ihrer Sichtweise das Narrativ setzen wollen. Denn dass die Protestler selbst später Öffentlichkeitsarbeit betreiben würden, war klar. Zudem hatten die ortsansässigen bzw. dort regelmäßig aktiven Demonstranten alle eine mehr oder weniger lange Vorgeschichte mit der Polizei (und vice versa), dies war ja – für jeden erkennbar und doch von kaum einem Journalisten weiter analysiert – der Grund für die Demonstration. Dies soll hier nicht nochmals ausgerollt werden, wichtig ist nur: bei Hitzacker lag wie bei jedem Fall polizeilicher Gewaltausübung auf der Hand, dass weniger Fakten als viel mehr Interpretationen vermittelt werden sollen. Von BILD bis taz sind auch brav alle darauf abgefahren – weil die Medien auf eigene Fragestellungen verzichtet haben und der Einfachheit halber die Erzählung einer anerkannten Partei übernommen haben, nämlich die der Polizei. Damit war der Tenor gesetzt, und die gesamte öffentliche Debatte fußte auf falschen Tatsachenbehauptungen.

Was die Polizei in ihren PM vermittelt, kann selbstverständlich auch nach ausgiebiger Recherche noch den Stand der Erkenntnisse wiederspiegeln. Aber ob dies so ist, muss eben journalistisch geprüft werden (und journalistisch heißt nicht “gerichtlich”, wie andererseits “gerichtlich” nicht gleichbedeutend ist mit “tatsächlich”).

Vierte Frage: Gibt es eine Geschichte hinter der Geschichte?

Wer täglich Polizei-PM bearbeitet, kann allein nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit nicht glauben, die Uniformierten hätten stets so akkurat und beanstandungsfrei gearbeitet, wie es ihre Selbstdarstellung vermittelt. Man muss dazu nicht nur, aber eben auch an die großen Vorwürfe ungesühnter Polizeigewalt erinnern: wie sie von fast allen großen Demonstrationen filmisch dokumentiert sind (siehe z.B. “Hamburger Gitter”), an tödlichen Schusswaffengebrauch, der selbst in völlig skurrilen Situationen von der Staatsanwaltschaft als Notwehr gewertet und daher nie öffentlich vor einem Gericht aufgearbeitet wird (siehe hierzu auch Deutschlandfunk Kultur), an Misshandlung und Erniedrigung, die Amnesty international seit langem fordern lässt, endlich eine unabhängige Untersuchungsstelle für Anzeigen gegen Polizisten einzurichten (“Täter in Uniform“).
Wer Polizei-PR verstehen will, muss Polizeiarbeit wenigstens eine gewisse Zeitlang intensiv beobachten (ohne seine Unabhängigkeit aufzugeben, wie es leider viele “Blaulichtreporter” tun, die sich als Teil des Polizeiapparats sehen und von Pressesprechern nur schwer zu unterscheiden sind). Zwei einfache und notwendige Übungen sind Prozesse vor den Amtsgerichten und die Alltagsbeobachtung von Polizisten (was gar nicht mehr so einfach ist, da sie kaum noch irgendwo zu Fuß unterwegs sind, außer in Bahnhöfen und ähnlichen “Brennpunkten”). Meine Praktikanten und Volontäre haben sich vor allem gegen die zweite Übung immer gewehrt, hatten größtes Unbehagen, Polizisten “zu verfolgen” und stellten am Anfang immer die Frage, was das bringen soll. Nach zwei Wochen wussten sie es – und hatten einen neuen, kritischen Blick auf Polizeiarbeit, von “Toto und Harry” wenigstens zum Teil befreit. (Literaturhinweis am Ende.)
Es muss klar sein: Polizisten machen Fehler, missbrauchen ihre Amtsmacht, arbeiten mal schlampig und lügen. Wem das nicht eine Selbstverständlichkeit ist, der muss seine Finger von der journalistischen Bearbeitung aller Polizeithemen lassen, im Namen der Aufklärung.
Natürlich kann man auch hier nichts verallgemeinern, aber es gibt bestimmte Darstellungen, die routinemäßig vom Journalismus infrage gestellt werden müssen. Dazu gehört die Behauptung, eine Person habe “Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte” geleistet. Denn wann immer jemand Polizeigewalt erfährt, steht dieses Delikt im Protokoll (zusammen mit Beleidigung), schließlich ist nur so Polizeigewalt zu rechtfertigen. Ob es tatsächlich so war, steht auf einem ganz anderen Blatt (das auch vor Gericht nur selten hervorgezogen wird, weil die übliche Konstellation Aussage gegen Aussage ist, wobei regelmäßig mehrere Polizisten den von ihrer Seite dargestellten Sachverhalt bestätigen).
Auch hier ist es nicht mit einer kleinen Distanzierung getan in der Form “nach Angaben der Polizei soll…. Widerstand geleistet haben”. Es ist zumindest zu klären, wie dieser Widerstand ausgesehen haben soll und wie er gebrochen wurde. Danach muss sich entscheiden, ob auch ein “Beginn der Berichterstattung” (wie der NDR die ungeprüfte PM-Verbreitung nennt) unterbleiben muss, bis die andere Seite gehört wurde (ggf. über Anwälte, Verwandte, Freunde, Zeugen). Unterbleiben muss eine vorschnelle Kolportage, wenn es zumindest möglich scheint, eine “Geschichte hinter der Geschichte” zu finden, wenn also die Polizeiarbeit selbst begründet zumindest Teil der Berichterstattung werden könnte. Eile dürfte ohnehin nur selten zu begründen sein (dass andere Medien es schneller berichten werden ist grundsätzlich keine Rechtfertigung).

Ein paar Beispiele für “Geschichte hinter der Geschichte”:

+ Polizei stoppt nach Verfolgungsjagd Raser / Person ohne Führerschein o.ä. Doch war die Verfolgungsjagd mit erheblicher Gefährdung Unbeteiligter überhaupt verhältnismäßig? (Satirische Zuspitzung dazu im Vorboten)
+ Motorradpolizist will Fahrradfahrer stoppen, der kracht auf dem Gehweg gegen einen Baum. Die Polizei vermeldet: Kein Fremdverschulden. Doch was macht ein Motorradpolizist auf dem Gehweg? Verhältnismäßigkeit? Und dann meldet sich auf Facebook auch noch jemand, der den Vorfall ganz anders beobachtet haben will…

Fünfte Frage: Wie relevant sind die Erkenntnisse?

Längst nicht alles, was die Polizei vermeldet, hat Nachrichtenrelevanz – wie umgekehrt viele spannende Ereignisse nicht als PM verbreitet werden (Begründung auch hier meist: laufende Ermittlungen). Doch in vielen Lokalredaktionen werden Polizei-PM behandelt wie die kostenpflichtigen “amtlichen Bekanntmachungen” – alles wird eins zu eins übernommen.
Eine meiner Stationen im Volontariat war bei einer wahrlich rebellischen Redaktion im Ruhrgebiet, wo auf viele Regeln gepfiffen wurde, bis hin zum herrschaftlichen Redaktionsschluss (der Bote, der die Zeitungsseiten ins Haupthaus bringen sollte, musste regelmäßig lange warten, weil: man war noch nicht so weit, die bierselige Mittagspause hatte sich wieder einige Stunden länger hingezogen, und überhaupt “können die uns alle mal”) – nur: die “Bullenmeldungen”, wie es so charmant hieß, fanden sämtlich alle Platz in der nächsten Ausgabe, und wenn dafür Artikel von Freien oder Volontären rausfliegen mussten. Mitteilungen der Polizei kamen ohne Wenn und Aber und vor allem ohne jede weitere Recherche ins Blatt, nicht dass irgendjemand was davon gehört hatte, und es fehlte in der Zeitung. Vermutlich wurde ich damals, Anfang der 90er Jahre, erstmals sensibilisiert für journalistische Schlampigkeit.

Ein einfacher, sicherlich sattsam bekannter Schnelltest für die Relevanz ist es, die Nachricht in einen einzigen, möglichst kurzen Satz zu fassen und dabei ausschließlich geprüfte Fakten zu nutzen. Denn an dieser Stelle zeigt sich schnell, wie banal eine Nachricht ist oder wie wenig man eigentlich weiß. Wie hätte eine solche Kurzfassung im Fall Wacken ausgesehen? Eben nicht so, wie es überall verbreitet wurde. Die Story sollte ja irgendwie sein, dass zwei tatterig-alte Herren ihr Altenheim unerlaubt verlassen und sich zum Heavy-Metal-Festival in Wacken aufgemacht haben, wo sie von der Polizei aufgespürt und zurück ins Heim gebracht wurden. Nur: Nichts davon hätte in dem einen Satz mit ausschließlich geprüften Fakten stehen können – denn die verbreitenden Redaktionen wussten ja gar nichts. Sie kannten nicht das Alter der beiden Männer – obwohl das doch der ganze Aufhänger für die lustige Geschichte sein sollte -, sie kannten nicht ihren Wohnort (Altenheim? oder Pflegeheim für psychisch Erkrankte?), sie wussten nicht, wie und wann und warum die beiden nach Wacken gekommen waren, und sie hätten auch nicht in eigenen Worten erklären können, warum die Beamten sie aufgelesen und – in einem Taxi, aber mit Polizeibegleitung – zurück an ihren Wohnort haben bringen lassen. Ein einfacher, rein Fakten basierter Satz, der die aus Schülerzeitungstagen bekannten W-Fragen beantwortet, war anhand der Pressemitteilung aus Itzehoe nicht möglich. Ob das Ereignis irgendwie relevant sein könnte, hätte sich erst nach Beantwortung all der offenen Fragen beurteilen lassen. Doch stattdessen wurde Unsinn verbreitet, der sich wie üblich später kaum noch einfangen lässt (was die meisten beobachteten Medien aber auch gar nicht versucht haben).

Die Relevanzfrage stellt sich stets auch zu einzelnen Informationen. Der Pressekodex sagt etwa (in der Branche durchaus umstritten): “Die Zugehörigkeit [der Verdächtigen oder Täter zu ethnischen, religiösen oder anderen Minderheiten] soll in der Regel nicht erwähnt werden.” Viele Polizeipressestellen nennen hingegen die Nationalität von Tatverdächtigen oder anderen Beteiligten immer, um sich nicht dem Vorwurf der Verheimlichung ausgesetzt zu sehen – eine gute Lösung, denn die Redaktionen können dann selbst entscheiden (andernfalls verlangt die o.g. Faktenregel nachzufragen). Drollig wird es dann, wenn Medien die deutsche Staatsbürgerschaft von Verdächtigen nennen – sie sind ja keine Minderheit und daher von der Richtlinie des Pressekodex nicht erfasst. Das führt aber natürlich dazu, bei jeder Nicht-Nennung der Staatszugehörigkeit einen Ausländer zu vermuten.
Und wie ist es mit anderen Angaben, etwa dem Alter? Verkehrsunfälle mit 18- oder 80-Jährigen werden bei ansonsten gleichen Fakten anders gelesen, als wenn es sich um eine 44-Jährige handelt.
Ist die Angabe, dass der verunglückte Radfahrer keinen Helm trug, relevant? Oder suggeriert diese Information ein Selbstverschulden? So oder so: fehlen solche Standardangaben in der Pressemitteilung, müssen sie erfragt werden, um danach über ihre Nutzung zu entscheiden.
Denn all solche Kleinigkeiten haben wesentlichen Einfluss auf die Gesamtdarstellung des Geschehenen und auf seine Relevanz.
Die vielen Entscheidungsmöglichkeiten sollen jetzt nicht durchgespielt werden, hier soll nur verdeutlicht werden, wie unerlässlich Recherchen bei Polizei-PM sind.
Im Fall “Wacken-Opas” haben ausschließlich Leser/ User erkannt, dass erst die Geschichte hinter der Geschichte zu klären ist (und dann die Relevanz des Ganzen), anstatt mit der unvollständigen Polizei-PM Verunsicherung zu schaffen und den Journalismus mal wieder als Versager dastehen zu lassen.

Zusammenfassung

Journalisten machen keine PR. Daher veröffentlichen sie auch niemals ohne weitere Recherchen/ Prüfungen Pressemitteilungen (PM). Zur PM-Verbreitung gibt es inzwischen genügend Distributionswege, in denen kein Journalismus vorgesehen ist. Wo keine Recherche möglich ist und das Ereignis trotzdem vermeldet werden soll, muss die Meldung auf die unbestreitbaren Fakten beschränkt bleiben.
Polizei-PM sind besonders kritisch zu prüfen, weil sie vermeintlich Tatsachenberichte sind, tatsächlich aber die Darstellung einer Partei, die so oder so selbst in den Vorgang involviert ist.
Insbesondere, wenn von der Polizei irgendeine Art von (juristischem) Vorwurf gegen andere erhoben wird, sind diese vor Veröffentlichung zu kontaktieren, wo dies nicht (mehr) geht müssen wenigstens Zeugen befragt werden.

Checkliste:
– Wie lässt sich der Informationsstand in einem möglichst kurzen, ausschließlich aus Fakten bestehendem Satz zusammenfassen?
– Welche Konflikte stecken in dem geschilderten Geschehen?
– Welche Fehler, Versäumnisse, Unrechtmäßigkeiten o.ä. könnte die Polizei begangen haben?
– Welche Beteiligten könnten die Sache anders sehen (und kommen selbstverständlich nicht im Text der Polizei vor)?

Links und Literatur:

Marcus Engert (2018): Achtung, Behörden-PR! (Kommentar, taz, 6. Mai 2018)

Timo Rieg (2003): Kleine Übung zur Beobachtungsrecherche, in: Trainingshandbuch Recherche, herausgegeben vom Netzwerk Recherche e.V., Westdeutscher Verlag, S. 155-157

Tanjev Schultz (2019): Quelle. In: Journalistikon – Das Wörterbuch der Journalistik, https://journalistikon.de/quelle/ [Stand: 10.04.2019]

Ergänzungen:

Weitere Fallbeispiele bei Netzpolitik.

Fall “Polizei schießt bei Bundesligaspiel” (Andrej Reisin, Übermedien, 24.08.2023)

 

5 Gedanken zu „Recherche bei Polizeimeldungen

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