Autopsie: “Diskriminierung an Berliner Schulen verdoppelt”

„Die am weitesten verbreitete Manipulation ist nicht das Hinzuerfinden, sondern das Weglassen”, sagte Brigitte Fehrle kürzlich dem “journalist“, als eine der Erkenntnisse aus ihrer Arbeit in der Relotius-Aufklärungskommission des SPIEGEL Aus unserer langjährigen medienjournalistischen Arbeit können wir bestätigen: der vorsätzliche Fake ist das geringste Problem der  Presse. Schauen wir uns daher in unserer losen Autopsie-Serie einen eher belanglos wirkenden Beitrag von Spiegel-Online (SpOn) an:

1. Frage: Was ist das Thema? Warum sollte es von bundesweitem Interesse sein?

Ausgangspunkt ist die Veröffentlichung einer Auskunft des Berliner Senats (Regierung) zu einer schriftlichen Anfrage der der grünen Abgeordneten Sebastian Walter und Bettina Jarasch. Von der Idee handelt es sich also um ein Instrument der parlamentarischen Kontrolle, tatsächlich sind solche Anfragen allerdings stets Teil der Public Relations. Da in Berlin SPD, Linke und Grüne gemeinsam regieren, ist zu erwarten, dass die Fragesteller mit der Antwort “ihrer” Regierung wohlwollend umgehen werden.
Die wesentlichen Zahlen stammen von der ersten und einzigen “Antidiskriminierungsbeauftragten für Schulen”. Was also soll man mit Zahlen aus Berlin anfangen? Es gibt keine Vergleichsmöglichkeit, keine Chance auf Einordnung. Die Senatsverwaltung selbst verweist zudem – wie schon bei vorangegangenen Anfragen – auf die problematische Datenlage:

“Die Meldungen und Beschwerden bei der Antidiskriminierungsbeauftragten werden erfasst, lassen aber […] keine Interpretation hinsichtlich der stadtweiten Anzahl von Diskriminierungen von Schüler_innen zu noch zu genauen Angaben zu der Übereinstimmung von Diskriminierungsmerkmalen und Positionierungen von Betroffenen.”

Schon bevor man also einen Blick in das Material (oder auch nur auf die dpa-Meldung) wirft, stellt sich die Frage, wie mit den Daten journalistisch sinnvoll umgegangen werden soll. In jedem Fall wäre wohl einiges noch selbst zu recherchieren, um eine Orientierungsleistung erbringen zu können.
Spiegel-Online entschied sich dann routiniert (wie andere Redaktionen auch): einfach irgendwie ein paar Zahlen nennen, verbunden mit Interpretationen aus der Regierungspolitik.

2. Frage: Nochmal, was ist das Thema? Lässt sich das in einem Satz sagen?

Einen Teaser zu verfassen ist die geeignete Übung, ein Thema auf den Punkt zu bringen. Wenn damit allerdings nicht nur irgendwie Zeilen (oder Sekunden) gefüllt werden sollen, sollte man einige Mühe darauf verwenden zu prüfen, ob der Teaser auch stimmt. Bei SpOn hat das nicht geklappt:

Die Zahl von Diskriminierungen an Berliner Schulen hat sich seit 2016 fast verdoppelt. Vor allem Schüler und Schülerinnen beschwerten sich deswegen – besonders häufig über ihre Lehrer.

In der Überschrift hatte SpOn es schon etwas besser gemacht und von “gemeldeten” Diskriminierungen gesprochen, doch auch das trifft eben nicht zu: der Zählung liegt nur ein bestimmte Sammlung (von vielen) zugrunde. Es gibt keine Aussage über die “Zahl von Diskriminierungen”. Das ist alles andere als unerheblich, weil man sich natürlich das Meldeverfahren, seine Bewerbung und die Zugänglichkeit genauer anschauen müsste.
Zudem geht es nur darum, wer sich diskriminiert fühlt. Das kann zwar auch ein interessanter Wert sein (wenn es eine Einordnung gibt), aber es ist eine rein subjektive Wahrnehmung, genauer gesagt sogar nur die Behauptung einer subjektiven Wahrnehmung (denn in einen Menschen hineinschauen können wir bisher nicht, siehe “Beispiel 2” im Text “Nenn mir deine Quelle“).

Ferner muss sich die (empfundene) Diskriminierung keineswegs an einer Schule zugetragen haben. So bietet die Zählung als Auslöser bzw. “Effekt” der Diskriminierung auch an: “Prozesse von Schule, SIBUZ und/oder Jugendamt sowie Polizei”, “(Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter) außerschulischer Bildungsträger” und “Sonstiges (z.B. Bildungsmaterialien, Zugang/Aufnahme Schule, Regeln und Regelungen, Ge- und Verbote)”, wobei unter den letzten Punkt die meisten Meldungen fallen (55 von 258).
Unter “Diskriminierungen an Berliner Schulen” werden die meisten Menschen etwas anderes verstehen – die Berliner Morgenpost fokussiert sogar auf den Begriff “Mobbing“, der weder in der Statistik noch in den Erläuterungen des Senats überhaupt auftaucht.
Was also ist das Thema, wie schreibt man einen korrekten Teaser?

Frage 3: Welche Klischees hat eine Redaktion im Kopf?

Wie sehr Spiegel-Online das Thema vergeigt, zeigt das veröffentlichte “Symbolbild”, das nicht als solches gekennzeichnet ist und auch noch eine gestellte Szene zeigt, also Fiktion statt Journalismus: “Hänseln”, wie man es auf einer Bühne machen würde, damit es auch von der letzten Reihe aus einfach als solches zu erkennen ist. Doch darum geht es in dem Bericht höchstens am Rande, und die Botschaft könnte eine ganz andere sein: dass nämlich die Diskriminierung von Schülern untereinander nur einen kleinen Teil der gemeldeten Fälle ausmacht (33 von 258).
Bild und Überschrift/ Teaser gemeinsam ergeben die Botschaft: Massive Diskriminierung von Schülern durch Schüler an Berliner Schulen – was die Daten aber überhaupt nicht belegen.

Frage 4: Politiker-Geschwafel als Fakten?

Nach dem ersten Absatz mit ein paar Zahlen bringt SpOn direkt eine Interpretation der Abgeordneten und Fragestellerin Bettina Jarasch:

“Die gestiegenen Zahlen zeigen: Diskriminierung an Schulen kommt nicht von ungefähr, sondern ist systematisch und hängt auch von den Kulturen dort ab. Der bloße Appell von Schulleitungen zu mehr Toleranz genügt nicht: Verantwortung und Sensibilisierung muss Chefsache werden”, sagte Jarasch.

Journalisten dürfen natürlich jeden Quatsch zitieren – sie müssen ihn dann allerdings einordnen, andernfalls wird es ihr eigener Quatsch. Dass sich aus den “gestiegenen Zahlen” nichts ableiten lässt, sollte wie gesagt schon vorab klar sein, andernfalls müsste man ja fragen: Wieso gibt es mehr Diskriminierung, wenn mehr dagegen getan wird?
Und was soll das ewige Lamento von der “Chefsache” bedeuten, zumal in einer Demokratie?
Eine Spur finden wir im übernächsten Absatz:

Um die Meldebereitschaft künftig weiter zu erhöhen, sei es unter anderem nötig, die Befugnisse des Beauftragten “zur Unterstützung, Beratung und Intervention” auszuweiten, teilten die Grünen-Abgeordneten Jarasch und Walter mit.

Politik und Verwaltung arbeiten also wohl (wenig überraschend) aktiv daran, die “Dunkelziffer” zu verkleinern und das “Hellfeld” zu vergrößern.

Frage 5: Hat die Redaktion überhaupt ins Material geschaut?

Immerhin setzt SpOn ja ein Kürzel vor das Agenturzeichen (das im Impressum allerdings nicht aufgelöst wird). Doch im Text heißt es:

258 Kinder und Jugendliche hatten sich zuletzt an die Berliner Diskriminierungsbeauftragte gewandt

Das ist mit Sicherheit falsch. Denn in der Drucksache 18/16794, auf die explizit verwiesen wird, erläutert der Senat:

Die Meldungen von und Beschwerden zu Diskriminierungen wurden vor allem durch Schülerinnen und Schüler, Eltern/Fürsorgeberechtigte, weitere Familienmitgliedern, Lehrerinnenund Lehrer, Sozialarbeiterinnenund Sozialarbeitervon Jugendzen-tren/Jugendclubs, aber auch in Einzelfällen Schulleitungen und Schulaufsichten (per-sönlich, via Email, per Telefon) vorgebracht.

Frage 6: Journalismus oder PR?

Den letzten Absatz schenkt SpOn nochmal den Politikern. Sie dürfen ihre Regierung loben und erneut eine hanebüchene Interpretation der Daten verkünden:
>>Den beiden Abgeordneten zufolge sei der Anstieg der Fallzahlen aber auch ein Vertrauensbeweis für die bisherige Antidiskriminierungsbeauftragte Saraya Gomis.<<

Fazit:

Spiegel-Online hat eine fragwürdige Agenturmeldung zu einem ungenügenden Artikel verwurstet, der nichts erklärt und wie so oft “Alarm” ruft, wo erstmal Recherche not täte. Der Beitrag ist in mehreren Sachdarstellungen falsch, er verzichtet auf eine unabhängige, journalistische Einordnung und aktiviert mit einem ungekennzeichneten Symbolbild als Eyecatcher emotional Vorurteile, anstatt neue Informationen zu liefern.

 

 

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