Archiv des Autors: Timo Rieg

Ein Volksentscheid kann nicht durch Abstimmung scheitern

Nach dem Ergebnis des Volksentscheids  “Berlin 2030 klimaneutral” ist allerorten vom Scheitern die Rede. Können Journalisten so sprachlich unsensibel sein?

Wie sollte ein “Entscheid” scheitern? Indem eine (neuerliche) technische Panne ihn verhindert vielleicht, aber sicherlich nicht, indem Bürger abstimmen oder es bleiben lassen. Tatsächlich gescheitert ist das Bürgerbegehren, das Berliner Klimaschutz- und Energiewendegesetz vom 22. März 2016 per Volksgesetzgebung zu ändern. Gescheitert ist also wenn schon die Initiative “Klimaneustart”, die diese Gesetzesänderung vorgeschlagen hat. Wobei “scheitern” auch hier im demokratischen Kontext reichlich absurd klingt.

Es ist die von Wahlen bekannte “Horse Race”-Berichterstattung, in der Journalisten stets die Kandidaten zu Akteuren machen statt korrekterweise die Wähler.

Die Süddeutsche Zeitung titelt:

Berliner Volksentscheid für strengere Klimaziele gescheitert

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“Messerattacke” kein relevantes Thema

Dass die Medien sich wild auf die “Messerattacke” in Brokstedt stürzen würden war klar. Das Ereignis erfüllt alles, was über die Jahre empirisch als “Nachrichtenfaktoren” herausgefiltert wurde und schlicht beschreibt, womit sich Ab- und Umsatz machen lässt. Der Aufklärung, der Orientierung dienen Nachrichtenfaktoren noch lange nicht (weshalb sie auch keine Qualitätskriterien sind). Weiterlesen

Sozialtourismus in der journalistischen Notaufnahme

Über das journalistische Geschäftsmodell der Skandalisierung wird schon seit Jahrzehnten gesprochen. Und ja, derzeit erscheint es besonders ausgeprägt, besonders gegenwärtig und längst nicht mehr auf kommerzielle Medien begrenzt: von einer ganzen “hysterischen Gesellschaft” ist dann die Rede, was unmittelbar mit hysterischer Empörung ob des diskriminierenden Begriffs geahndet wird. Nun erscheint heute ein Buch der beiden Medienphänomene Harald Welzer und Richard Precht, das sich jedenfalls auch mit dem Skandalisierungsgeschäft des Journalismus befasst – und das  seit Monaten ungelesen selbst skandalisiert wird. “Die vierte Gewalt – Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist” heißt das Buch (S. Fischer Verlag, 22 Euro). Andreas Rosenfelder kommentiert zur Medienreaktion:

>Unendlich viel peinlicher aber ist das Reiz-Reaktions-Schema der beleidigten Medienblase, die gar nicht mehr bemerkt, dass sie auch im Falle von ‘Die vierte Gewalt’ jene routinierte Erregungs-, Verhöhnungs- und Ausschlussmaschinerie anwirft, von der das Buch handelt – und die schon an so vielen Migrations-, Corona- oder Ukraine-‘Skeptikern’ erprobt wurde.<

Dem ist fast nichts mehr hinzuzufügen – außer Praxisbeispiele (auch wenn die Hoffnung, mit Argumenten eine öffentliche Debatte beeinflussen zu können, nur noch sehr, sehr klein ist*).

Fall: “Sozialtourismus”

Friedrich Merz hat als CDU-Oppositionsführer des Bundestags in einem Gespräch mit BILD gesagt (auf die Frage, ob man in Krisen mit einer restriktiveren Flüchtlingspolitik arbeiten müsse): Weiterlesen

Faktenfinder zum Sturm auf den Reichstag vom Gesetzgeber offline genommen

Die 3-in-1-Medienkritik:

  • Von der beispielhaften Auskunftsbereitschaft im NDR
  • Falschbehauptung im ‘größten deutschen Online-Magazin für Juristen’
  • Autopsie eines Tagesschau-Faktenfinders

Ausgerechnet diejenigen, die beruflich anderen Menschen Fragen stellen, antworten besonders ungerne auf ebensolche: Journalisten. Und die extra zur Auskunftserteilung beschäftigten Pressesprecher bei Medienunternehmen sind auch nicht kooperativer.

Wobei die Auskunftsfreudigkeit von Behörden, die im Gegensatz zu Journalisten und ihren Firmen i.d.R. zur Presseauskunft verpflichtet sind (nach den Landespressegesetzen, Bundesbehörden mangels gesetzlicher Regelungen als Ausfluss von Art. 5  GG) regelmäßig ebenfalls deutlich unter dem ist, was man als kooperatives Level verstehen könnte.

Im Zuge einer medienjournalistischen Recherche (zum konkreten Thema am Ende noch ausführlich) stieß ich beiläufig darauf, dass ein mir bereits bekannter Text aus der Reihe “Faktenfinder” von Tagesschau.de nicht mehr online stand. Der Link zu diesem Beitrag vom 31. August 2020 (13:08 Uhr) wird auf die Startseite umgeleitet, im Juni 2022 war er  jedoch  laut Archive.org noch verfügbar. Ungeachtet inhaltlicher Fragen war dies merkwürdig, da andere Faktenfinder-Artikel rund um dieses Datum im Archiv noch verfügbar sind, sogar zum gleichen Thema vom selben Tag.

Also fragte ich am 18. August 2022 bei der Redaktion via Kontaktformular nach. Es gab, wie so oft [1], keine Antwort. Nach zwei Wochen Geduld kontaktierte ich die NDR-Pressestelle. Schon wenige Stunden  später antwortete am 2. September Iris Bents (Zitat vollständig bis auf Anrede und Grußformel): Weiterlesen

Absurde Verdrehungen in der heute-Show

Abstract: Die Darstellung von Till Reiners ist in wesentlichen Punkten unvollständig und verzerrend und damit irreführend. An einer juristischen Falschbehauptung halten er und sein Sender unvermindert fest. Der ZDF-Intendant hat die Redaktion bereits “für eine bessere Detailtreue sensibilisiert”. Eine Falschinformation zur Strafbarkeit des sexuellen Missbrauchs wurde vom ZDF erst nach Eingabe einer formalen Programmbeschwerde korrigiert – teilweise. Der Begleittext zur Sendung (“Dossier” “What the Fakt!?”) war mit einem falschen Datum ausgewiesen: tatsächlich entstand er erst deutlich nach der Veröffentlichung des Videos. Letztes Update: 24.04.2023

“So viele absurde Sonderrechte haben christliche Kirchen in Deutschland” betitelt die ZDF heute-Show ihren ersten Filmbeitrag von Comedian Till Reiners in der Sommerreihe “Till to Go“. Das journalistische Problem daran: Keines der von Reiners und seinem Co-Autor Stefan Stuckmann enthüllten “absurden Sonderrechte” ist ein Sonderrecht der christlichen Kirchen. Und eigentlich sollte das auch alles längst bekannt sein, es ist zumindest sehr leicht herauszufinden. Reiners Behauptung zur Verjährung von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung ist grob falsch und wurde trotz vielfacher Hinweise nicht korrigiert.

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Paul Ehrlich Institut erfasst keine Abrechnungsdaten zu Impfnebenwirkungen

Nicht erst “Fake-News” sind ein Problem in der öffentlichen Kommunikation – vorsätzliche Falschbehauptungen gibt es wenige und sie sind meist schnell entlarvt. Bedeutsamer dürften die vielen kleinen Fehler in der Berichterstattung sein, um die wir uns daher immer  mal wieder in diesem Blog kümmern. Brigitte Fehrle von der “Relotius-Kommission” des Spiegel sagte damals: “Die am weitesten verbreitete Manipulation ist im Übrigen nicht das Hinzuerfinden, sondern das Weglassen.”

Nachdem ich über einen kleinen Fehler in einem Bericht des Tagesspiegel gestolpert bin, hat ein genauerer Blick noch ein paar weitere Schwachstellen gezeigt. Daher erfolgt mal wieder eine Textautopsie: “Chef der Krankenkasse „BKK ProVita“ bezweifelt Impfdaten – und muss jetzt gehen” vom 2. März 2022; ähnliche Formulierungen wie die hier diskutierten finden sich in zahlreichen Beiträgen. Aus urheberrechtlichen Gründen sind wie immer Passagen ohne Anmerkungen ausgespart. Weiterlesen

“Wir wollen die Regierung unterstützen durch unsere mediale Berichterstattung”

Zahlreiche Medien haben bewusst den Corona-Kurs der jeweiligen Landesregierung unterstützt. Das hat der Geschäftsführer des Schweizer Medienunternehmens Ringier in kleiner Runde für alle Blätter seines Verlags als Strategie erklärt. Wörtlich sagte CEO Marc Walder bereits am 3. Februar 2021 beim «Inspirational Talk», wie erst jetzt vom Nebelspalter publik wurde: Weiterlesen

Beherzt aber faktenfrei gegen Bürgerräte

Journalistische Medienkritik zielt vor allem auf die Aspekte Richtigkeit und Ethik. (Wir haben das mal in einer Stichprobe fürs Bildblog ausgezählt, da war es überdeutlich, und wer sich die etwas über den Insiderkreis hinausreichenden Qualitätsdebatten in Erinnerung ruft, wird das bestätigt sehen: entweder schreibt die BILD-zeitung Quatsch (“lügt”), oder sie betreibt Hetze – das sind die Standardvorwürfe.) Gerade hatten wir wieder eine unerquickliche Diskussion um “False Balance“, die von viel Gefühl und wenig Fakten gespeist wurde und in dem ganzen Durcheinander letztlich wieder auf ethische Fragen hinauslief.

Womit wir uns in der Medienkritik nur selten beschäftigen, ist u.a. die Argumentation von Beiträgen (in der  Literatur noch sperriger “Argumentativität” genannt). Falsche Behauptungen kann man greifen. Aber unlogische Schlüsse, unpassende Vergleiche, rhetorische Tricks der Irreführung und vieles mehr verlangen eine sehr ausgefeilte Diskursanalyse.

An einem Beispiel soll die Problematik gezeigt werden. Es geht um einen Artikel, der die Dachzeile “Hintergrund & Analyse” trägt, aber nur kopfschüttelnd zurücklassen kann, wer ein wenig Ahnung vom analysierten Thema hat. Aber wie greift man das? Was ist eindeutig falsch, was abwegig, was eine – wie zu bewertende – Meinung?Es geht um den (inzwischen überwiegend beendeten) Hungerstreik in Berlin, mit dem ursprünglich sieben junge Leute ein Gespräch mit den drei Kanzlerkandidaten zur Klimapolitik erzwingen wollten. Weiterlesen

False Balance

Zu den Fehlinterpretationen von Jan Böhmermann, Dirk Steffens und Georg Restle

Zu den Lieblingsthemen der Medienjournalisten zählen Fake-News, Verschwörungtheorien und “False Balance”, die der Einfachheit halber um dieselbe Diskussion kreisen: Was darf oder muss in die Nachrichten, was gehört gategekeept? Die Argumentationen, die letztlich natürlich immer die Bedeutung des Journalismus herausstellen sollen, stolpern bei diesen drei verwandten Themen  über dieselbe Herausforderung: nämlich Fakten und Meinungen zu unterscheiden, sowohl beim Input (Recherche) als auch beim Output (Vermittlung).

Das Vermengen von Fakten und Meinungen über diese Fakten ist im Journalismus allgegenwärtig. Wie hoch dabei die Anteile von Schludrigkeit, Unvermögen und Propaganda sind, wäre eine der vielen Forschungsaufgaben für die Journalistik; für die reine Problembenennung ist dies egal, relevant ist es allerdings für Aus- und Fortbildung. Im “Corona-Journalismus” ist die falsche Einordnung von Fakten und Ansichten wohl der zentrale Grund für seine Dysfunktion. Weiterlesen

Der Tagesspiegel und sein Corona-Weltbild

Nach anderthalb Jahren Medienanalyse und -kritik zum Corona-Journalismus frage ich mich ganz grundsätzlich: hat Medienkritik irgendeinen Sinn? Bringt sie irgendeine Verständigung über Aufgaben und Qualitäten des Journalismus voran? Ich sehe das nicht. Und zwar nicht, weil ich mit speziellen Positionen nicht durchdringe – sondern weil dem Betrieb jegliche Kritik an seiner Arbeit vollkommen wurscht ist. Das ist leider auch keine neue Erkenntnis, sie begleitet mich seit bald drei Jahrzehnten, allerdings in unterschiedlicher Intensität. Allein dieser Blog “Spiegelkritik” ist über die 15 Jahre seines Bestehens immer weiter gefüllt worden mit Hinweisen auf eklatante, unbestreitbare Qualitätsmängel in der Berichterstattung, allem voran falsche Tatsachenbehauptungen, – die weder eine Entschuldigung, nicht einmal eine Korrektur nach sich zogen. Weiterlesen