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Nichtwähler ins SPIEGEL-Erziehungsheim

Wenn in einer Parteiendemokratie die größte Wählergruppe die Nichtwähler sind, dann – ist dies nicht das Ergebnis von Meinungswettstreit, von journalistischer Berichterstattung, von freien Entscheidungen – sondern dann hat diese größte Gruppe einfach einen Knall. Weil das in den letzten Monaten propagandamäßig von fast allen kommerziellen Medien verbreitet wird, hat der Spiegel die letzte Chance vor der Bundestagswahl zum Mitmachen genutzt und sein aktuelles Titelthema (38/2013) den Systemschmarotzern und Demokratiesaboteuren gewidmet: den “Schamlosen”. Erkenntnis war nicht zu erwarten, Unterhaltung fehlt etwas überraschend. Dazu nur ein paar lose Anmerkungen.

Argumente:

Nichtwähler sind irgendwie schuld an dem, was kommen wird. Auch daran, dass Ex-Nichtwähler “die populistische AfD” wählen und im schlimmsten Fall sogar ins Parlament bringen werden. Für das Ergebnis einer Wahl sollten daher nicht die Wähler haften, sondern die Nichtwähler.

Argumente einiger prominenter Nichtwähler haben es zwar in den Artikel geschafft, doch fast jeder Konter stammt von den Spiegel-Autoren selbst, der sich jeweils auf apodiktischen Demokratiedefinitionen speist. Demnach verhalten sich Nichtwähler “wie Schwarzseher, die keine GEZ-Gebühr bezahlen und trotzdem über das Programm der Öffentlich-Rechtlichen herziehen”. Sie “missbrauchen […] ihre Bildung, um sich über das politische System zu erheben”. Ausgerechnet Nichtwähler sind nach Spiegel-Logik “Konsumenten”, die “von der Politik etwas ‘geboten’ bekommen” wollen, “statt sich selbst über die politischen Angebote zu informieren”.

In keiner Zeile wird auch nur der Versuch unternommen zu erklären, warum Wählen sinnvoll sein soll, wie sich darin die Meinung gut informierter Bürger ausdrücken soll. Stattdessen wird mit Verweis auf Immanuel Kant erklärt, Nichtwähler seien “Schutzbefohlene” und hätten als solche gar kein Wahlrecht. (Sich darauf einen Reim zu machen bleibt wohl den Philosophen vorbehalten, ob jetzt mit offenem Hemd oder zugeknöpft krawattiert.)

Deutlicht macht der Spiegel nur, dass jedes Argument gegen die Wahl einer Partei albern sei, etwa wenn Theaterregisseur Sebastian Hartmann erklärt, er wolle die Grünen nicht wählen, weil er die Windräder nicht mehr sehen könne. Also informieren, Parteiprogramme lesen – und dann trotzdem wählen.

Recherche:
Der Artikel besteht überwiegend aus Recyceltem. Der Philosoph Richard David Precht wird als Prototyp der arroganten Intellektuellen-Schnösel dargestellt, “die derzeit durch Fernsehshows und Feuilletons der Republik schwirren, um sich auf Kosten der Demokratie zu profilieren”. Nicht erwähnt wird, dass die Sendung “Der Montag an der Spitze“, auf die sich der Spiegel bezieht, vom Spiegel mitveranstaltet wurde, die Moderatoren Vize-Chefredakteur Klaus Brinkbäumer und Ressortleiterin Britta Sandberg waren, die Diskussion live bei Spiegel.de übertragen wurde.
Aus der Günther Jauch Sendung vom 25. August wird nicht nur Ex-Spiegel-Mann Gabor Steingart recycelt, sondern sogar die wohl unbekannt zu nennende, 28-jährige Autorin Andrea Hanna Hünniger, die schon bei Jauch kaum was sagen durfte und als Nichtwählerin nicht ernst genommen wurde.

Auch ein brillanter Essay von Harald Welzer (“Das Ende des kleineren Übels”) kommt noch einmal vor, veröffentlicht vor vier Monaten – im Spiegel.

Selbst da, wo die Spiegel-Autoren Fragen entdecken, verzichten sie auf Recherche: Vor dem Hintergrund eines über Jahrhunderte erkämpften Grundrechts wirke “es besonders seltsam, dass der Anteil der Nichtwähler gerade in Ostdeutschland deutlich höher als im Westen ist”. Eigentlich sollte man als Journalist so etwas nicht seltsam finden, sondern aufklärungswürdig. Vielleicht ist es ja kein Unfall?

Völlig unerwähnt bleibt auch die Nichtwählerforschung, die inzwischen einiges mehr als (journalistische) Plattitüden anzubieten hat.

Auf eine peinliche, der Staatsunterwürfigkeit geschuldete Fehlinterpretation von Satire hat u.a. Markus Kompa hingewiesen

Quintessenz?

Was will diese Spiegel-Titelgeschichte eigentlich? Nichtwähler-Bashing geht  okay, aber wem gefällt das außer all jenen, die von der Parteienwirtschaft abhängig sind?

Geht es um die eigene Existenz? Schließlich leben Journalismusprodukte wie der Spiegel ganz wesentlich von dem Glauben, gut informiert wenigstens alle vier Jahre Einfluss auf die Parteien und damit auf die Fremdgestaltung des eigenen Lebens nehmen zu können.

Lieblingsargument “der Nichtwähler” sei die Ununterscheidbarkeit der Parteien, behauptet der Spiegel, der zwar nicht Woche für Woche, aber doch im Langzeitvergleich genau dies zeigt: es gibt nur Regierung und Opposition. Wenn wir die Namen weglassen (und durch Bundskanzler, Oppositionsführer etc. ersetzen) lesen sich Spiegel-Artikel seit 60 Jahren gleich. Nur ob man Regierung oder Opposition wählen sollte, wüssten wir am Ende immer noch nicht.

Zum Thema:
Nichtwähler-Debatte als Bankrotterklärung (stern)
Argumente fürs Nicht- bzw. Ungültigwählen (unwählbar.de)
Noch mehr Nichtwähler-Bashing bei Fleischhauer

Recall Zeitschrift Spiegel

“Es ist immer ein schlechtes Zeichen für eine Publikation, wenn sie sich zu sehr mit sich selbst beschäftigt.” Zitiert turi2 heute Klaus Harpprecht aus der Süddeutschen Zeitung zum Spiegel, was uns an eine Sternstunde der Eitelkeit zurückdenken lässt, in der sich Spiegel-Chefredakteur Georg Mascolo verbat, sein Blatt eine Zeitschrift zu nennen: “Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie es ein Magazin nennen könnten”.

Lesehinweis: Expertismus

Im Blog “surveillance and security” ist eine Auswertung zum Wortgebrauch “Experte” im SPIEGEL erschienen (wie üblich anonym). 6000 verschiedene Experten-Typen wurden demnach gefunden, und sie haben über die Jahre deutlich zugenommen, während akademische Grade als Beleg für Fachkenntnisse zurückgegangen sind:

“Vergleicht man die Frequenzentwicklung des Wortes “Experte” im gedruckten Spiegel mit der von Bezeichnungen für in akademischen Kontexten tätigen Personen wie “Wissenschaftler / Wissenschaftlerin”, “Forscher / Forscherin” und “Professor / Professorin”, dann wird offensichtlich, dass die 68er auch am Siegeszug des Expertentums Schuld sind…”

Interessant – gerade weil nicht überraschend – ist auch, in welchen Verb-Zusammenhängen die verschiedenen Expertentypen auftauchen. Aber lesen Sie selbst:
“Experten” in den Medien: schätzen, prognostizieren, warnen

Siehe dazu auch: Review zu Philip Tetlock’s “Expert Political Judgment: How Good Is It? How Can We Know?”

Bundespressekonferenz rügt Spiegel

Der Spiegel ist von der Bundespressekonferenz gerügt worden, weil er in der aktuellen Ausgabe aus einem als vertraulich deklarierten Hintergrundgespräch mit Bundesverfassungsrichter Andreas Voßkuhle berichtet habe.
Andere Medien haben das – wohl nicht undankbar – aufgegriffen. Bei Spiegel-Online findet die Berichterstattung interessanterweise bisher nur im eigenen Blog statt.

+ Der Spiegel-Artikel “Merkel zaudert, und Karlsruhe regiert” (derzeit nicht frei zugänglich)

+ Der offene Brief der Bundespressekonferenz an den Spiegel-Chefredakteur Georg Mascolo. Darin schreibt der Vorsitzende Gregor Mayntz (Rheinische Post):

Sie schreiben weiter: „Über das, was Voßkuhle sagte, darf, wie gesagt, nichts berichtet werden. Nur so viel: Ähnlich wie bei seinen Auftritten zuvor blieb den Zuhörern der Eindruck, dass Karlsruhe im Frühsommer das Ehegattensplitting auf die gleichgeschlechtliche Partnerschaft ausdehnen dürfte.” Das bewertet die Mitgliederversammlung der BPK als Bruch der Vertraulichkeit. Nach § 16 der BPK-Satzung sind Mitglieder an die Erklärung, dass Mitteilungen „unter 3″, also „vertraulich” gegeben werden, „gebunden”. Es gibt keine Möglichkeit, diese Vertraulichkeit mit den Worten „nur so viel” aufzuweichen und zu schildern, welchen Eindruck Zuhörer über die dann aufgeführte Mitteilung gewinnen konnten.
Deshalb gab es bei der Mitgliederversammlung eine große Bereitschaft, für den Fall einer Wiederholung von der in § 16 festgelegten Sanktionierung Gebrauch zu machen, die auf einen Ausschluss aus dem Verein hinausläuft.” (Der Brief wurde heute in der Bundespressekonferenz verlesen, vollständige Dokumentation unten.)

* Reaktion des Spiegel im Hausblog von heute. Darin heißt es:

“Doch bereits einen Tag später [nach dem Hintergrundgespräch in der BPK] war Voßkuhles Auftritt im politischen Berlin Gesprächsthema Nummer eins: ob auf den Fluren des Bundestages, bei wichtigen Abgeordneten oder Mitgliedern des Kabinetts. In Interviews, die SPIEGEL-Redakteure unter anderem mit dem Unionsfraktionsvorsitzenden Volker Kauder und Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich zu anderen Themen führten, wurde klar, dass die Äußerungen Voßkuhles zum Teil wörtlich weitergetragen worden waren und nun überall im politischen Betrieb kursierten. Für das Hauptstadtbüro des SPIEGEL stellte sich die Frage, wie man über ein so wichtiges politisches Ereignis berichten könnte, ohne das Vertraulichkeitsgebot des Hintergrundgesprächs zu brechen.”

* Bericht: Welt

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Sinnvolle Updates

Journalismus kann nicht jede Geschicht bis zum Ende verfolgen – logisch. Vieles bleibt bei einer Ankündigung, einer Idee, eben einer Momentaufnahme. Da wird eben  jetzt und heute gefordert, angekündigt, versprochen. Was daraus wird, ist außerhalb des Fokus’.

Aber anders als bei den gedruckten Medien, denen man im Zweifelsfall, wenn man sie mit deutlichem Abstand zur Publikation aus einem Archiv zieht, ihr Alter und damit ihre Nicht-Aktualität ansieht (meist auch ohne Datumsangabe), wirkt in den Online-Archiven vieles frisch und wenig abgenutzt. Alt-Artikel bekommen mit jedem Relaunch ein neues Design verpasst, das sie zum Zeitpunkt ihrer Entstehung nicht hatten.  Sie sind bebildert – oder besser: finanziert – mit aktuellen Werbeanzeigen.

Da wäre es eine nette redaktionelle Übung, wenigstens mit einem Einzeiler bei Artikeln in Online-Archiven darauf zu verweisen, dass sich die Geschichte inzwischen deutlich weiterentwickelt hat. Dazu muss man eben nicht “jede  Geschichte bis zum Ende verfolgen” – es genügt, dort ein Update anzubringen, wo einem Redakteur gerade (bei der internen Recherche) auffällt, dass es für Archiv-Nutzer wichtige Neuerungen zur Kenntnis zu nehmen gäbe. Berufen fühlen sollten sich insbesondere auch Community-Manger, die Kommentare prüfen (und freischalten oder auch nicht) – sie dürften recht häufig auch Jahre nach der Veröffentlichung eines Beitrags noch von Änderungen Kenntnis bekommen.

Das Beispiel, an dem mir das heute wieder mal auffiel, ist vergleichsweise popelig: Spiegel-Online hatte 2010 von einem Anti-Verpixelkungs-Projekt zu Google-StreetView berichtet, das seinerzeit Jens Best beworben hatte.  Da ist offenbar nie viel entstanden.  Und ensprechend könnte ein redaktioneller Eintrag unter dem SpOn-Artikel informieren (und nur wenn Zeit ist sogar noch mit einer Anfrage beim – ehemaligen? – Aktivisten unterfüttert werden).

Relevanter ist das u.a. im Bereich der unendlichen Gesundheitsberatung, die heute in jedem Blatt und auf fast jeder Website zu finden ist. Viele der publizierten Erkenntnisse erweisen sich schon recht bald als Humbug – aber sie werden weiterhin rezipiert, und selbst eine kurze Suchmaschinen-Abfrage führt da ob der großen Verbreitung der ursprünglichen Meldung nicht zwingend zu einem anderen Bild.

Schon vor einigen Jahren hatte ich beim Spiegel angefragt, warum sie im gedruckten Spiegel veröffentlichte Gegendarstellungen nicht mit den ursächlichen Artikeln online verlinken. Auch wenn eine Gegendarstellung keine Korrektur, gibt sie wichtige Hinweise auf die andere Sichtweise eines Betroffenen. Nur ein Beispiel (beliebig aus dem Archiv gewählt): zum Beitrag “Das Schweigen der Hühner” (Spiegel 23/2011)  gibt es eine Gegendarstellung (37/2011), die man dank der vollständigen Digitalisierung auch findet – wenn man nach ihr sucht.  Unter dem Artikel ist sie nicht verlinkt (und der lange Zeitabstand zwischen Artikel und Veröffentlichung der Gegendarstellung lässt eine juristische Auseinandersetzung vermuten, der Spiegel distanziert sich letztlich auch von dieser mit dem bekannten, aber keineswegs immer verwendeten Satz: “Der SPIEGEL ist nach Paragraf 11 des Hamburgischen Pressegesetzes verpflichtet, die Gegendarstellung ohne Rücksicht auf ihren Wahrheitsgehalt abzudrucken.”

(Timo Rieg)

Der tratschende Reporter

Die “Berichterstattung” in eigener Sache  bei der Spiegel-Gruppe nähert sich allmählich ja der Marke mit ihren Mägden – Bild -. Überall Spiegel-Bücher, Spiegel-TV-Sendungen, Spiegel-Bestsellerlisten, Spiegel-Kooperationen… Nun gut.

Manch Eigending muss ja auch kolportiert werden – Spiegel-Online kann im Text über die Verleihung der Henri-Nannen-Preise die vielen Preisträger aus dem eigenen Haus nicht verschwiegen.

Aber die Kritik, die es am Reportage-Preisträger René Pfister gibt, hätte schon auch noch Platz finden dürfen. SpOn schreibt:

Den ersten Platz in der Kategorie Reportage und damit den traditionellen Egon-Erwin-Kisch-Preis gewann SPIEGEL-Redakteur René Pfister. Für seinen Artikel mit dem Titel “Am Stellpult” hatte er Horst Seehofer am Pult seiner Modelleisenbahn porträtiert.

Dabei hat Pfister offenbar gerade nicht Seehofer an seiner Modelleisenbahn porträtiert – oder nur in dem Maße, in dem er auch Seehofer auf dem Klo zu porträtieren vermag; vielmehr hat er ihn dorthin getextet.

Seit neuestem hat auch Angela Merkel einen Platz in Seehofers Keller. Er hat lange überlegt, wohin er die Kanzlerin stellen soll. Vor ein paar Monaten dann schnitt er ihr Porträtfoto aus und kopierte es klein, dann klebte er es auf eine Plastikfigur und setzte sie in eine Diesellok. Seither dreht auch die Kanzlerin auf Seehofers Eisenbahn ihre Runden.

In dieser Art schreibt Pfister jede Menge Details und Betrachtungen von Seehofers Eisenbahn. Nur dass er diese offenbar nie gesehen hat. Beim SPIEGEL fällt das kaum weiter auf, weil sich der geneigte Leser ja bei jedem zweiten Artikel fragt, wie der Spiegel-Autor denn bei dieser oder jener Situation schon wieder anwesend gewesen sein soll ( – aber es sind dann meist völlig harmlose Nacherzählungen unbekannter Quellen).

Die Dinge, die man in einer Reportage den Lesern nahe bringt, selbst nur aus Erzählungen zu kennen, ist ein – ungewöhnlicher Ansatz. Das sollte Spiegel-Online wenigstens herausstellen.

Update 10. Mai 2011:

Die Jury hat Pfister den Preis inzwischen wieder aberkannt. Bei Spiegel-Online zeigt sich das altbekannte Problem, dass Artikel nicht aktualisiert werden. Zwar wird “in eigener Sache” die Aberkennung erwähnt und auch die Begründung der Jury zitiert (neben einer Stellungnahme des Spiegel, wie imme sich ein Magazin artikulieren kann), der alte Jubeltext enthält aber keinen Verweis darauf.

Spiegel verkauft Jury-Plätze

Dass die Jury von Schülerzeitungs-Wettbewerben regelmäßig aus völlig Fachfremden weil Erwachsenen besteht, ist das eine. Darüber regt sich ja niemand auf, die Großen wissen schon, was gut, schön und innovativ ist für die Kleinen.
Dass aber Ahnung hat, wer 50.000 Euro auf den Tisch legt, ist dann in dieser Deutlichkeit doch überraschend: Wer Sponsor beim Spiegel Schülerzeitungswettbewerb wird, darf ein Jury-Mitglied und einen Laudator benennen.

Sponsoren beim Spiegel-Schülerzeitungswettbewerb dürfen Jury-Mitglied benennen
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