Es ist eine typische Spiegel-Geschichte: Erst ein anschaulicher Einstieg mit Beispiel. Dann „die Aufblase“ oder „das Portal“, wo klar gemacht wird, warum das Thema von allgemeiner Bedeutung ist (das sind dann Sätze wie „Der Fall von Guido T. ist kein Einzelfall“). Dann folgen Absätze, die kunstvoll mit Fakten (Studien etc) und Zitaten gespickt sind. Es sind Artikel, die nicht abwägen, sondern klar in Richtung eines Ziels gehen.
Der Text von Manfred Dworschak, der am 20. März im Spiegel erschien, ist eine typische Spiegel-Geschichte. Es geht um das „freie Schreiben“, eine Methode, um Schülern das Schreiben beizubringen. Erst stellt der Autor einen Fall da: Vladko. Der geht in die erste Klasse und kritzelt die Wörter „TORANOSSAUROS REZ“ aufs Papier. Und dafür gibt es auch noch Lob, denn „Vladko darf schreiben, wie er will; alles ist richtig“. Dann kommt die Aufblase:
Nicht nur an seiner Hamburger Grundschule wird auf diese Weise das Alphabet erobert. Im ganzen Land ist die Methode „freies Schreiben“ verbreitet
Nun folgt ein zweiter Fall: Minna. Minna hat nach dieser Methode das Schreiben gelernt und geht jetzt in die vierte Klasse. Minna ist quasi Vladko drei Jahre später. Im Text heißt es:
In den ersten Schuljahren durfte sie Wörter, Sätze, Geschichten aufschreiben, und niemand behelligte sie mit Korrekturen. Sie liebte das. Nun aber, in der vierten Klasse, gibt es immer neue Regeln zu befolgen. Minna verliert oft den Überblick, sie macht Fehler über Fehler. Die Mutter muss fast jeden Tag mit ihr üben.
Durch diese Beispiele wird klar – ohne es bisher offen auszudrücken: Kinder, die freies Schreiben lernen, haben später ein Problem mit der Rechtschreibung. Der Autor tut jedoch in nun folgenden Absatz zunächst so, als hätte er gar keine vorgefertigte Meinung zu dem Thema. Erst danach folgt die These – freies Schreiben ist schädlich – aber das sagt der Autor nicht selber, dafür benutzt er eine andere Person:
Ob das freie Schreiben mehr nützt als schadet, weiß noch immer niemand so recht; die Fachleute streiten schon länger vor sich hin. Doch nun kommt neuer Elan in die Debatte: Renate Valtin, Leiterin der Abteilung Grundschulpädagogik an der Humboldt-Uni Berlin, hat den Bildungssenator der Hauptstadt aufgefordert, das freie Schreiben in seinem Machtbereich zu unterbinden.
Jetzt sind wir bei Absatz 6 des Textes angekommen. Es folgen nun noch 15 weitere Absätze – gespickt mit Fakten und Zitaten – die alles auf eines hinauslaufen: Das freie Schreiben in seiner aktuell zumeist praktizierten Form macht wenig Sinn.
Am 6. April veröffentlicht Reinhard Kahl in der Zeit den Text Fehler machen lohnt sich doch. Auch Kahl hat mit Renate Valtin gesprochen. Er schreibt:
Aber im Spiegel ist sie mit einem Satz zitiert, der, wie sie sagt, frei erfunden ist: „Renate Valtin hat den Bildungssenator der Hauptstadt aufgefordert, das freie Schreiben in seinem Machtbereich zu unterbinden.“ Quatsch, sagt die Professorin, sie habe bereits 1986 in dem Buch Schreiben ist wichtig die Vorteile des freien Schreibens herausgearbeitet. Auf Nachfrage räumt der Spiegel ein, Renate Valtins Kritik übermäßig verallgemeinert zu haben.
Das zeigt, wie typische Spiegel-Geschichten entstehen. Es geht nicht darum, die Wirklichkeit angemessen wiederzugeben oder Pro und Contra abzuwägen. Sondern es geht darum, eine steile These zu haben. Zu dieser These werden dann alle Fakten und Zitate gesammelt, die diese These unterstützen könnten. Dabei gibt es zwei bedenkliche Punkte:
1) Die Fakten und Zitate, die die These nicht stützen, werden weggelassen. Es wird also nicht etwa erklärt, dass es diese von der These abweichenden Belege zwar gibt, aber aus welchen Gründen sie unwichtig sind. Nein, sie werden weggelassen und damit wird so getan, als gäbe es diese von der These abweichenden Belege nicht.
2) Wenn die vorliegenden Zitate und Fakten nicht ausreichen, um die These angemessen zu stützen, dann werden sie hingebogen. So wie das Zitat von Renate Valtin. Jedoch dann sind diese Fakten und Zitate nicht mehr zutreffend – also ungeeignet, um die These zu stützen.
Wie hat nun der Spiegel reagiert, um seine Falschberichterstattung zu korrigieren? In der Ausgabe vom 10. April finden sich vier Leserbriefe zu Manfred Dworschaks Text. Der dritte von vier stammt von Renate Valtin:
Mit großer Verwunderung habe ich gelesen, dass ich den Berliner Bildungssenator aufgefordert hätte, das freie Schreiben zu unterbinden. Das ist eine Zeitungsente. Auch habe ich mich nicht gegen das freie Schreiben ausgesprochen, das ich für einen wichtigen Bestandteil des Erstunterrichts im Schriftspracherwerb halte, und zwar kombiniert mit einem systematischen Vorgehen beim Lesenlernen anhand von Schlüsselwörtern, so wie es der vielfach überarbeitete halboffene Leselehrgang „Fara und Fu“ realisiert. Ausgesprochen habe ich mich allerdings gegen den Ansatz „Lesen durch Schreiben“, der in der Tat viele Nachteile in sich birgt, vor allem für die Kinder, die kein lautreines Hochdeutsch beherrschen.
Berlin Prof. Dr. Renate Valtin
Abteilung Grundschulpädagogok
Humboldt Universität
Die Redaktion selbst hat zu dem Leserbrief nicht Stellung genommen (etwa durch den Hinweis „Frau Valtin hat recht, wir entschuldigen uns“ und eine Erklärung, wie es zu dem Fehler kam). Aus Sicht des Spiegels ist es auch nicht notwendig, sich für solche Fehler zu entschuldigen – weil die Zuspitzung von Zitaten aus Sicht des Spiegels keine Fehler sind, sondern die allwöchentliche Arbeitsweise.
In ihrem Leserbrief stellt Renate Valtin ihre tatsächliche Position zu freiem Schreiben dar: Kombiniert mit den richtigen Methoden ist es ein wichtiges Element des Unterrichts. Eine andere, ähnliche Methode hat dagegen Nachteile, vor allem für eine besondere Schülergruppe. Das heißt: Es gibt keine klare Antwort von ihr, ob das freie Schreiben an und für sich nun gut oder schlecht ist. So ist es häufig in der Wirklichkeit: Die Welt ist nun mal nicht schwarz-weiß.
Doch die Texte des Spiegel sind schwarz-weiß. Daraus folgt: Sie sind zwar gut gemachte Prosa mit Versatzstücken aus der Realität. Aber sie sind ungeeignet, um die Wirklichkeit zu beschreiben. Und ja: Auch viele Beiträge in anderen Medien sind nicht komplex genug, um die Wirklichkeit darzustellen. Die Frage ist aber, welchen Anspruch die Journalisten an sich selbst und ihre Beiträge stellen. Mein Eindruck ist: Während gerade die überregionalen Zeitungen häufig noch wenigstens versuchen, die Realität abzubilden, geht es vielen Spiegel-Autoren in erster Linie darum, eine schöne Geschichte zu schreiben. Hauptsache, es lässt sich gut lesen und alle Fakten und Zitate deuten in Richtung der Zielthese. Und wenn sie das nicht tun, dann werden sie eben zurechtgebogen.
Das Strickmuster für die idealtypische Spiegel-Story mit szenischem Einstieg, Portal und „Beleg“ einer These ist seit ewigen Zeiten bekannt. Nur ist es längst kein Spiegel-Phänomen mehr: Die Methode wird an Journalistenschulen gelehrt, sie ist zum Beispiel auch in Wirtschaftsmagazinen Standard.
Solange man als Journalist gewissenhaft mit diesem Handwerkszeug umgeht, ist es aber überhaupt nicht problematisch: Man darf es eben nur anwenden, wenn die These tatsächlich durch handfeste Recherchen untermauert ist und sich beim besten Willen nicht falsifizieren lässt. Erfahrungswissen ist, dass sich so gestrickte Storys am besten verkaufen lassen, offenbar weil sie Erzählstrukturen aufnehmen, die dem Leser vertraut sind: Menschen unterhalten sich am liebsten über „Aufreger“ und Skandälchen. Eine Einerseits-Andererseits-Abwägung mit wissenschaftlichem Anspruch erreicht kein breites Publikum, sie gilt als langweilig.
Das Problem, dass Journalisten sich ihre schöne These nicht kaputtrecherchieren wollen und darum einseitig und tendenziös ans Thema herangehen, hat übrigens nichts mit dem Spiegel-Stil zu tun. Das findet sich in sämtlichen Stilformen, die die Zunft kennt.
Was die Trennung zwischen Nachricht und Kommentar betrifft: So naiv sind doch die Spiegel-Leser nicht, dass sie das Heft für ein „Nachrichten“-Magazin halten würden. Solche Blätter haben einen Standpunkt, von dem aus sie schreiben, und der ist normalerweise bekannt. Das gilt genauso fürs Fernsehen. Wie gewaltsam da manchmal die Wahrheit zurechtgebogen wird, kann man gelegentlich von Insidern lernen, die aus der Schule plaudern, etwa in Seminaren für potenzielle „Recherche“-Opfer.
Link zum Thema:
http://tinyurl.com/og9jm
Bedenklich ist es, wenn auch Tageszeitungen nicht mehr Kommentar und Nachricht trennen – was derzeit der eigentliche Trend zu sein scheint. Bei ihnen erwartet man kurze, klare, knappe Fakten – beim Spiegel die Analyse und Einordnung.
Hallo Ulf,
ich sehe das wie Du, dass es grundsätzlich legitim ist, einen Magazin-Artikel wie eine Geschichte zu schreiben und dort Einzelfall, Nachrichten und Meinung zu vermischen. Mein Kritikpunkt an dieser Stelle war, dass dabei Fakten zurechtgebogen werden. Darüber hinaus habe ich noch einen anderen Kritikpunkt: Wenn man sich darauf beschränkt, seine Inhalte als Geschichten zu erzählen, dann fallen die Inhalte weg, die eigentlich wichtig sind, aber sich kaum als Geschichte erzählen lassen. Die Form begünstigt damit bestimmte Inhalte. Artikel, die sich gut personalisieren lassen, haben es dann leichter, ins Blatt zu kommen, als ein Stück über die – sagen wir – Föderalismusreform. Und wenn ein Stück über die Föderalismusreform ins Blatt kommt, dann ist die Leitfrage des Autors nicht: Was ändert die Reform für die Menschen im Land, ist es eine sinnvolle Reform? Sondern: Wer hat sich bei der Reform durchsetzen können, wer ist Gewinner und wer ist Verlierer?
Ich finde: Die erste Frage wäre die wichtigere. Doch die zweite ist die, die sich leichter als Geschichte erzählen lässt.
Schöne Grüße
Sebastian
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