Julia Bönisch hat während ihres Studiums vier Monate lang als Praktikantin bei Spiegel Online gearbeitet und vertrat anschließend mehrmals Redakteure in den Ressorts Wirtschaft und UniSpiegel. In ihrem vom Netzwerk Recherche veröffentlichten Buch “Meinungsführer oder Populärmedium? Das journalistische Profil von Spiegel Online” plaudert sie Details aus dem Innenleben der Redaktion aus und beschreibt, wie Geschichten wie “Rollstuhl-Randale: Betrunkener Beinamputierter attackiert Polizisten” oder “Alltag in Bagdad: Fickificki one Dollar” entstehen:
Artikel von diesem Kaliber erscheinen meist im Ressort Panorama, intern gern als Pornorama verspottet. Denn auch Bildergalerien von halbnackten Sambatänzerinnen in Rio de Janeiro oder von jungen Models, die neueste Bademode präsentieren, sind Klickgranaten, die die PageImpressions in die Höhe treiben und bei anderen Redakteuren schon mal für Unmut sorgen.
Zu den besonderen Förderern des Ressorts gehört nach Bönischs Darstellung Spiegel-Online-Chefredakteur Mathias Müller von Blumencron:
Chef Müller von Blumencron ruft seine Leute auch schon mal aus der U-Bahn an, weil er dort auf dem Info-Screen eine besonders skurrile Boulevard-Geschichte gelesen hat, die er unbedingt auf der eigenen Seite sehen will. […] Unter der Führung Müller von Blumencrons wird man wohl kaum auf Bildergalerien mit sambatanzenden Schönheiten oder Artikel über die Plazenta von Tom Cruises Freundin verzichten.
38 Redakteure, zwei Volontäre, zwei Bildredakteure und zehn Techniker arbeiten laut Bönisch in einem Großraumbüro in der Hamburger Ost-West-Straße, direkt gegenüber des Spiegel-Gebäudes, an Spiegel Online. Im Berliner Spiegel-Büro arbeiten fünf weitere Online-Redakteure, die die Bundespolitik betreuen, sowie vier Journalisten für das englischsprachige Angebot. Direkten Kontakt zu den Redakteuren des Magazins gibt es fast nur bei den Begegnungen während des Mittagessens – dabei gilt für die Print-Kollegen:
alle lesen die Artikel, die bei der kleinen Schwester erscheinen: Ist den Onlinern mal wieder ein Rechtschreibfehler in einem Aufmacher durchgerutscht, sind die Spiegel-Kollegen oft die ersten, die bei der Redaktionsassistentin gegenüber anrufen und sich beschweren.
Der Tagesablauf:
Der erste Mann erscheint um sechs Uhr morgens. Binnen zwei Stunden, so die interne Vorgabe, soll er eine frische Homepage bauen, sprich: alle fünf Aufmacher durch aktuelle Geschichten ersetzen. Diese undankbare Aufgabe muss ein Politik-Redakteur übernehmen, Hilfestellung bekommt er ab sieben Uhr von einem Wirtschaftsredakteur, der eine Aufmacher-Story beisteuert. Bleiben für den Politikmann noch vier – aber immerhin. Für große Hintergrundberichte oder Analysen ist natürlich keine Zeit, deshalb bestehen die Stücke meist aus Agenturmaterial.
Höhepunkt des Tages ist es, in der gleichen Kantine wie die Redakteure des Magazins zu essen:
In den denkmalgeschützten Räumen werden Lammkarré, Hechtklößchen und Caipirinha-Gelee von adretten Frauen in schwarzen Kleidern und weißen Schürzen direkt auf die Tische gebracht. Donnerstage und Freitage sind bei den Redakteuren besonders beliebt: Dann steckt der Print-Spiegel mitten in der Produktion, Überstunden und Nachtschichten sind inbegriffen. Damit die Damen und Herren während der langen Nacht nicht aufgeben, wird an diesen beiden Tagen auch ein Abendessen angeboten. Der Koch tischt gern besonders Deftiges zum Durchhalten auf: Schnitzel mit Pommes oder Gyros mit Tsatsiki, Krautsalat, Pommes und Zwiebelringe stehen häufig auf dem Speiseplan. Auch die Onliner lassen sich das nach Dienstschluss gerne schmecken. Die Mittagspause in diesem stilvollen Ambiente ist das tägliche Highlight im Nachrichtenticker-Alltag der Hamburger Redakteure.
Die Artikel sind inzwischen auf Vorgabe der Chefredaktion auch mit Kürzeln der Redakteure gekennzeichnet. Intern vermutet man dafür laut Bönisch folgenden Grund: “Kontrolle nach innen. Dank des Kürzels wissen CvD und Chefredakteure jetzt, wer für einen verbockten Artikel mit vielen Fehlern verantwortlich ist.” Eine Schlussredaktion, die aus Aushilfskräften und Studenten besteht, gibt es nur für die Homepageaufmacher.
Der Großteil der Redakteure “trudelt gegen neun Uhr ein” und bleibt bis 18 Uhr. Wirtschaft und Panorama machen um 20 Uhr Schluss, das Politik-Ressort eine Stunde später. Danach übernimmt der Nachtredakteur, der intern “Nachtschwester” genannt wird und oft ein jobsuchender Absolvent einer Journalistenschule oder ein ehemaliger Praktikant ist. Die Nachtschwester bleibt in der Regel bis halb eins.
Das Verhältnis der Hamburger zum Leiter des Politik-Ressort und des Berliner Ressorts, Claus Christian Malzahn, ist laut Böhnisch “nicht unbelastet”:
Bevor Malzahn, Spitzname CC, zu Spiegel Online kam, war er für den Spiegel unter anderem im Kosovo, in Afghanistan und im Irak unterwegs. Er gilt in der Redaktion als ziemlich aufbrausend – und nicht besonders organisationsstark. “Es gibt da ein altbekanntes Phänomen: Jemand ist ein guter Reporter, aber sobald er in eine Führungsposition aufrückt, geht das kolossal schief. CC ist so ein Fall”, urteilt ein ehemaliger Redakteur.
Der Schwerpunkt von Bönischs Buch liegt allerdings nicht auf diesen Schilderungen des Arbeitsablaufes – sie geht hauptsächlich der Frage nach, welchen Einfluss Spiegel Online hat. Dabei geht es nicht um die Reichweite – da scheint Bönisch klar, dass “Spiegel Online heute weitgehend konkurrenzlos das Geschäft mit Online-Nachrichten bestimmt” -, sondern um den Einfluss der Seite auf andere Journalisten. Für das Buch hat Bönisch Interviews mit Redakteuren der Süddeutschen Zeitung, der Sächsischen Zeitung, den Tagesthemen, RTL Aktuell, Radio NRW, n-tv und dem Bayerischen Rundfunk geführt und weitere 151 Journalisten einen Fragebogen ausfüllen lassen. Ihr Fazit:
Spiegel Online hat mittlerweile einen Stammplatz im Medienrepertoire der Nachrichtenredakteure. Über 95 Prozent besuchen die Spon-Seiten – ein unglaublich hoher Wert. Die Ressorts Politik, Wirtschaft und Panorama sind für die Befragten besonders wichtig. Genutzt wird das Angebot vor allem in seiner Eigenschaft als Informationslieferant: Auf den Spiegel-Online-Seiten werden vorhandene Daten und Zahlen überprüft und Angaben zu bestimmten Themen kontrolliert. Auch als Ideengeber spielt das Medium eine recht große Rolle, obwohl dies von den Befragten nur ungern eingeräumt wird.
Spiegel Online wird vor allem wegen seiner Schnelligkeit, Aktualität und der Tiefe der Hintergrundinformationen geschätzt. Kritik üben die Befragten kaum. Über 70 Prozent der Befragten sind der Meinung, das Medium genieße ein großes Prestige unter Journalisten. Etwa 60 Prozent denken, Spiegel Online weiche ab und zu vom allgemeinen Medientenor ab und sei in der Lage, ein bundespolitisches Thema zu setzen.
Spiegel Online sei somit zu einem echten Leitmedium geworden – was hier aufgegriffen werde, könne sich bald bundesweit in den Medien wiederfinden. Detaillierter und mit vielen lesenswerten Hintergründen über den aktuellen Stand der Gatekeeping-Forschung steht all dies und noch viel mehr in “Meinungsführer oder Populärmedium? Das journalistische Profil von Spiegel Online”, Münster 2006, 192 Seiten, 12,90 Euro, ISBN 3-8258-9379-0, Lit Verlag, hier bestellen.
interessant – aber wieso sollte gerade der spiegel päpstlicher als der papst sein. das ist ja nicht mal die zeit ….
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Ich lese SPON nicht. Ich wusste bis vorgestern nicht mal was das ist. Gehöre evtl. zu 5 Prozent Nicht-Lesergruppe.
@Martin Schulz
Ja ne ist klar geht mir genauso lese immer nur spiegelkritik.de und wusste bis vor 10min auch nicht das es spiegel.de gibt
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Gibt’s dieses Buch denn eigentlich auch Online? Würde ja eigentlich Sinn machen, oder?
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Die Ausschnitte klingen sehr interessant. Ich werde mir das Buch auf jeden Fall mal in einer Buchhandlung genauer anschauen. Dass über 95 Prozent der Nachrichtenredakteure Spon-Seiten besuchen sollen, kann ich mir ganz gut vorstellen – auch wenn der Prozentsatz sehr hoch ist.
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Gäääääääähn!
Eigentlich habe ich unter dem hochtrabenden Titel ” Spiegelkritik ” etwas mehr substantielles erwartet, als diesen – eher untauglichen – Versuch einer Praktikantin, ihre vier monatigen ” Erfahrungen ” bei der SpON markträchtig verkaufen zu wollen. Was will die Künstlerin uns mit ihrer lauen Schilderung von den wenigen, erhaltenen Einblicken in das Innenleben des Medien-Konzerns sagen? Das es beim Spiegel eine völlige Loslösung von dem sonst üblichen, journalistischen Einheitsbrei gibt? Was hat sie erwartet? Das sie als Praktikantin im Garten Eden des medialen Establishements landet, wo die gebratenen Tauben ohne eigenes Dazutun in den halb geöffneten Schmollmund fliegen? Oder, dass sie nach vier monatigem Herumschnuppern als Mitarbeiterin eingestellt wird? So liest sich das veröffentlichte Machwerk denn eher als eine Retoure-Kutsche, ob der erlittenen Schmach der Nichteinstellung und der damit zerbarstenen Träume, als Redakteurin im Konzert der Großen mit schreiben zu dürfen.
Nee, Julia Bönisch, das war nischt mit der Kritik an dem Giganten von der Brandstwiete. Was soll an der Stellung von SpON als Nachrichtenquelle anderer Medien kritikwürdig sein? Doch nur, dass diese die dort eingelesenen Informationen häufig ungeprüft übernehmen. Der SPIEGEL ist und bleibt ein Exponent der Vierten Gewalt, weil er über viele Jahrzehnte journalistische Qualität garantiert. Deshalb kann sich das Haus seine Mitarbeiter immer noch danach aussuchen. Frau Bönisch gehört dann eben nicht zu den Auserwählten, wohl deshalb nicht, weil sie eben in den vier Monaten nicht die erwarteten, überdurchschnittlichen Leistungen gezeigt hat. Rache einer Verstoßenen.
Statt sich in Allgemeinplätzen zu verstricken,wäre es sinnvoller gewesen, über den bis dato vollzogenen Richtungswechsel des Nachrichtenmagazins zu recherchieren. Denn den gab es seit der Übernahme des Chefredakteurpostens durch Stefan Aust. Dieser manifestierte sich auch in der unverschämt arroganten und pseudo-klerikalen Stilistik des Ex-Fachressortleiters MM.
Nun sind sie beide weg: der Stefan Aust, der Privat-Reitstalleigentümer aus Stade und der Pfaffen-Lobhudeler Matthias Matussek aus dem katholischen Provinznest Münster. Der treue Abonnent darf wieder aufatmen und hoffen, dass er in 2008 wieder von dem alt-ehrwürdigen SPIEGEL-Haus in Hamburg mit exzellenten Nachrichten zu den großen und kleinen Halunkenstücken in der Welt beliefert wird und zukünftig von Ergüssen a´la´Bönisch, von Blumencron,Matussek und weiteren Pseudo-Journalisten verschont bleibt. Frohes Fest! Jürgen Wieloch
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Herr Augstein würde sich im Grabe umdrehen, falls diese Schilderungen wirklich stimmen sollten.
In der Ära Aust hat der Spiegel meiner Meinung nach schon nachgelassen, aber nach ihm ist das Niveau des Spiegels wirklich ins Bodenlose gesunken.
Mittlerweile ist die Print-Ausgabe auch nicht viel mehr als eine Ansammlung möglichst reisserischer Geschichten, die in Meldungen von Reuters/dpa/ap und Werbung eingebettet sind.
Die Einflüsse durch Gruhner+Jahr und Springer sind deutlich sichtbar. Die Formulierungen nähern sich nach und nach dem Springer-Niveau an.
Ich finde es traurig, dass der Spiegel sich zwar einerseits noch als Leitmedium versteht, aber andererseits keinen seriösen, investigativen und ernsthaften Journalismus mehr betreibt. Stattdessen reduziert sich auch hier wieder alles auf Auflage, Page Impressions und den daraus resultierenden Werbeeinnahmen.
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