Auf den journalistischen Hund gekommen

Ein Gastbeitrag von Werner Loewe (vorwärts)

„Politjournalismus ähnelt immer mehr der Theaterkritik. Er notiert, wer wie auf- und abtritt, zeichnet die Dramen nach, wird schnell sehr persönlich. (…) Man darf auch mal launig schreiben, dass alle doof sind. Analyse dagegen ist Mangelware“, notierte im September 2005 Tom Schimmeck in einem Artikel in der „taz“, in dem er die Hauptstadtjournaille einer harschen Kritik unterzog.

Zu welcher bemerkenswerten Fertigkeit es bei „Spiegel Online“ die Großkritiker auf den Rängen des Polittheaters inzwischen gebracht haben, kann der Leser an der Berichterstattung über die Sommerreise Kurt Becks verfolgen. „König Kurt ganz klein“ stabreimen kühn die „Spiegel“-Schreiber in der Überschrift eines Artikels, in dem sie über einen Besuch des SPD-Chefs zusammen mit dem Hamburger SPD-Bürgermeisterkandidaten Michael Naumann auf der Werft Blohm + Voss in Hamburg berichten.

Mit allen Sinnen fangen die beiden Schreiber die Szenerie ein.

„Kurt Becks Augen leuchten. Entzückt wandert der Blick des SPD-Chefs über den gigantischen roten Bauch des Containerfrachters ‚Cap Roca’, der sich im Trockendock 11 der Hamburger Werft Blohm + Voss über seinem Kopf wölbt. Es riecht nach Lack, Diesel und Meer, Gabelstapler rattern vorbei, weiter hinten regnen Schweißfunken aus einer Luke, irgendwo schlägt Metall auf Metall.“

Aus gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen
Und während noch die kraftvolle Industrieszene im Leser nachwirkt, kommen die Autoren zur Sache:

„Der Landesfürst aus Rheinland Pfalz, den manche für zu provinziell für das Kanzleramt erachten, und der ehemalige Kulturstaatssekretär, von Kritikern als Schöngeist verspottet – sie wirken an diesem Ort der schmutzigen Arbeit ein wenig wie ein Fremdkörper.“

Tja, „manche“ erachten den Beck für zu provinziell, und „Kritiker“ verspotten den Naumann als Schöngeist, natürlich nicht die Spiegel-Leute, aber Chronistenpflicht gebietet, das dem geneigten Leser nicht vorzuenthalten.

Schwierigkeiten mit der Arbeiterklasse?
Zum Schluss wird es für die Sozis ganz bitter, wie das unbestechliche Journalistenauge feststellen muss:

„Später beim Rundgang über das Gelände gestaltet sich schon die Kontaktaufnahme zur Arbeitnehmerschaft schwierig. Am Dock eilt Beck auf ein paar ölverschmierte Arbeiter zu, die Gerüstteile neben der ‚Cap Roca’ stapeln. ‚Na, gleich geschafft?’ ruft er ihnen zu. Einer nickt kurz, während er eine Stahlstrebe auf den Haufen wirft. Dann ziehen die Männer wortlos ab. Und in der großen Reparaturhalle beobachten ein paar Männer irritiert den Tross um Beck und Naumann, der da an ihnen vorbeizieht. Beck bleibt stehen und winkt. Niemand winkt zurück.“

Recherche hat Ruh’
Warum aber „gestaltet sich schon die Kontaktaufnahme zur Arbeitnehmerschaft schwierig“? Müsste das einen Journalisten nicht interessieren? Hätte man nicht nachfragen können? Michael Naumann, selbst gelernter Journalist, fragt nach. Als er auf die Männer zugeht, weichen die scheu vor ihm zurück, bis sie fast die Stahlwand des Docks im Rücken haben. Auf seine Frage reagieren sie hilflos, verstört. Sie verstehen kein Wort. Es sind polnische Leiharbeiter, die gar nicht wissen, wer und was da zu Besuch ist. Der Betriebsratsvorsitzende erklärt Michael Naumann, dass es bei Blohm + Voss in der Fertigung inzwischen mehr Leiharbeiter als Festangestellte gibt. Der SPD-Spitzenkandidat ist fassungslos: „Die Werften sind über Jahre gut ausgelastet. Höchste Zeit, Leih- und Zeitarbeit in feste Jobs umzuwandeln und Ausbildung zu fördern.“

Auch das würde man gern bei „Spiegel Online“ lesen. Warum man es dort nicht findet? Weil es den schönen Artikel über den als „zu provinziell“ erachteten Kanzlerkandidaten Kurt Beck und den „Schöngeist“ Michael Naumann, den man schon fertig im Kopf hatte, durch die Realität ruinieren könnte?

Der „Spiegel“-Kollege Jürgen Leinemann hatte schon 2005 auf der Jahrestagung des Netzwerk Recherche schonungslos ehrlich mit der eigenen Zunft abgerechnet: „Die journalistische Freiheit wird in der Bundesrepublik viel weniger durch obrigkeitsstaatliche Pressionen bedroht als durch die weiche Knechtschaft einer eitlen Selbstverliebtheit.“

Manchmal ist es gar nicht die Schere im Kopf sondern das Brett davor.

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