Anlässlich der Debatte hier auf SpKr um die Persönlichkeitsrechte von Susanne Klatten, den teilweise schon bizarren “Fotos” auf Spiegel-Online wie in vielen anderen Medien und anlässlich des lesenswerten Spiegel-Artikels “Im Leben der anderen” (45/2008, S. 110-112) bringen wir hier nochmal einen Diskussionsbeitrag, der vor drei Monaten in epd Medien (Nr. 63/2008, S. 3-6) erschienen ist:
In Amstetten kumuliert das Böse. Es belagert Straßen, Plätze, Türen, es soll sogar in Bäumen sitzen. Böses zieht Böses an. Wo sich gruselige Verbrechen ereignet haben, wo sich prominente Familiendramen abspielen, da sind die nächsten Täter nicht weit: die professionellen Persönlichkeitsrechtsverletzer der Journaille. Sie zerren Privates und Intimes an die Öffentlichkeit, fleddern strauchelnde Prominente und stellen jedem mit dem Fotoapparat nach, dessen „Abschuss“ Geld bringt. Sie leben davon, den Voyeurismus der Völker mit Medienopfern zu befriedigen.
So schlimm muss es mit den Journalisten in Amstetten sein, dass sich sogar der österreichische Presserat neu formieren will – der war seit sechs Jahren klinisch tot. Doch das alleine wird nach Einschätzung einiger Experten nicht genügen: Gesetze müssen hinzukommen, um das Problem in den Griff zu bekommen, meinten sie bei einer parlamentarischen Enquete Anfang Juli. So wird überlegt, die im Sicherheitspolizeigesetz verankerte Schutzzonenregelung auszuweiten, um Journalisten von Straßen, Plätzen und Bäumen verbannen zu können. Aufdringliche Paparazzi erfüllten womöglich den Stalking-Tatbestand. Und der Salzburger Verfassungs- und Medienrechtler Walter Berka regt eine Ausweitung des für Opfer und Täter geltenden Anonymitätsschutzes auf Familienangehörige bzw. Zeugen an.
Für all diese Vorschläge gibt es Applaus in den sich selbst seriös nennenden Medien, deren Sorge nicht ist, sie könnten auch künftig erst 24 Jahre nach dem Beginn eines Verbrechens darauf aufmerksam werden. Alexandra Föderl-Schmid galoppiert mit einem Kommentar im „Standard“ der staatlichen Reglementierung weit voraus. Das österreichische Mediengesetz verbietet in den Paragraphen 7 und 7a bereits eine identifizierende Berichterstattung von (mutmaßlichen) Tätern und Opfern und legt Entschädigungsgrenzen bei Verstößen fest. Doch zum Tag der Pressefreiheit fordert die Chefredakteurin: „Es kann nicht sein, dass alles erlaubt ist, was medienrechtlich – noch – nicht verurteilt ist.“
Was ist eigentlich passiert? Die Verbrechen von Amstetten erregten – völlig zurecht – weltweites Aufsehen. Und so wurde schon bald nach seiner Festnahme am 26. April 2008 aus einem anonymen Tatverdächtigen Josef Fritzl, aus einem anonymen Hauptopfer seine Tochter Elisabeth. Es ging das Polizeifoto von Josef um die Welt und es folgte alles, was verfügbar zu machen war. Das Ereignis bekam Namen, Gesichter und Etiketten (Horror-Keller, Inzest-Drama), Einschätzungen, Begleitgeschichten – und laufend neue Details aus vertraulichen Ermittlungsakten.
In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung stellte Christoph Schultheis, Medienjournalist und Verantwortlicher des boulevard-kritschen BILD-Blog, Mitte Mai viele richtige Fragen – doch seine Antwort ist so kurz wie verkehrt: „Ist die Empathie mit Josef F.s Ehefrau wirklich größer, wenn wir sie auf einem Foto sehen? Macht sich, wer heute, zwei Wochen nach Bekanntwerden der Tat, immer noch ’Josef F.’ schreibt, lächerlich? Ist, wer Josef F. nur verkachelt, gebalkt, geblendet, geblurrt gesehen hat, weniger gut informiert? Ändert sich der Grad der Unvorstellbarkeit dessen, was in Amstetten passiert ist, wenn der Täter ein Ponyfrisurenträger mit Pilotenbrille wäre? Nein.“
Mit seinem vierfachen „Nein“ stellt der Profi Christoph Schultheis die Aufgabe von Journalismus grundlegend infrage. Sind Fakten nicht mehr die Handelsware des Journalismus? Dürfen oder müssen es gar künftig nur noch Halbwahrheiten sein, Verzerrungen, ja Lügen? Qualitätsjournalismus als große Nebelmaschine, deren Dunst all jene vor der Öffentlichkeit verschleiert, die keine Öffentlichkeit wünschen?
Sicherlich ist es schrecklich zu wissen, weltweit Gegenstand von Berichterstattung, von Nachbarschaftsgesprächen, von Phantasien zu sein. Aber die Verletzung findet dabei im eigenen Kopf statt. Diejenigen, die Täter und Opfer persönlich kennen, können die Geschehnisse auch ohne jedes Foto und ohne Namensnennung zuordnen, sie brauchen dafür auch keine mediale Hilfe – und ihr Wissen lässt sich nicht reglementieren. Allen anderen aber helfen Namen, Fotos und Details der Ermittlungen, ein möglichst realistisches Bild der Geschehnisse zu entwickeln, anstatt sich Horrortaten, -täter und –opfer selbst bunt auszumalen. Andernfalls wäre jede journalistische Berichterstattung obsolet: Möglicherweise hat irgendwer irgendwo irgendwann irgendetwas getan. Damit ist keine Informationsgrundlage für gesellschaftliche Kommunikation zu schaffen.
Die Aufarbeitung und Ahndung von Verbrechen ist nach unserem rechtsstaatlichen Konstrukt ausschließliche Aufgabe des Gemeinwesens, welches sich dabei eines Justizapparats als Dienstleister bemächtigt. Statt Privat-Fehden gibt es Gerichtsurteile „im Namen des Volkes“. Deshalb muss auch die Aufarbeitung von sexueller Gewalt öffentlich sein, und zwar nicht erst ab der gerichtlichen Hauptverhandlung. Der Täter verantwortet nicht nur die Tat, nicht nur das unmittelbare Leid seiner Opfer, sondern auch die öffentliche Diskussion.
Die inzwischen 42-jährige Elisabeth Fritzl erklärte zu ihren polizeilichen Aussagen: „Ich verlange, dass keinerlei Gesprächsinhalte an irgendwelche Medien weitergegeben werden dürfen.” Natürlich darf kein Polizist Vernehmungsprotokolle unter der Hand weitergeben, auch nicht an die seriöseste Presse. Gleichwohl hat die Öffentlichkeit ein Recht zu erfahren, was da in ihrem Namen verhandelt wird. Und so wäre es letztlich an den jeweiligen Behörden-Spitzen, für so viel Transparenz zu sorgen, dass der Souverän sich beruhigt auf seinem Sofa zurücklehnen kann, wissend: es geht alles mit rechten Dingen zu.
Wenn dann aber auf anderem Wege Details aus der Akte Fritzl oder – wie geschehen – Kampusch bekannt werden, ist das keine Persönlichkeitsrechtsverletzung, sondern Teil der öffentlichen Aufarbeitung. Dass dabei Journalisten Informanten haben, die ihre Informationen nicht weitergeben dürften, ist Tagesgeschäft. Es wäre ein erbärmlicher Journalismus, der nur mit dem arbeitet, was ihm Behörden freiwillig zur Verfügung stellen.
Persönlichkeitsrechtsverletzungen durch die Medien haben auch in Deutschland Konjunktur – nach Ansicht von Anwälten und Gerichten. Woche für Woche wird erfolgreich gegen Presseveröffentlichungen geklagt: gegen Fotos von Prominenten, die ihnen nicht gefallen, gegen Behauptungen, die angeblich nicht stimmen, gegen die Berichterstattung über Leute, die nicht oder anders in die Öffentlichkeit wollen.
Sabine Christiansen klagt erfolgreich gegen Fotos, die sie beim Einkaufen auf Mallorca zeigen (epd 53/08). Herbert Grönemeyer lässt Bilder von sich mit Freundin verbieten (epd 50/07). Günter Jauch wollte gleich jegliche Berichterstattung über seine Hochzeit unterbinden und versuchte später für veröffentlichte Fotos horrende Summen einzuklagen. Maxim Billers Buch „Esra“ darf nicht mehr verkauft werden, weil sich die ehemalige Freundin des Autors darin für erkennbar hält. Der Contergan-Film von Regisseur Adolf Winkelmann konnte erst nach einjährigem Rechtsstreit in der ARD gezeigt werden (epd 71/07). Gerhard Mayer-Vorfelder ließ in seiner Zeit als DFB-Präsident eine Radio-Comedy verbieten, in der seine Rolle Alkohol bedingt „Wortfindungsstörungen“ hatte. SPD-Vorsitzender Kurt Beck ging gegen ein Titanic-Cover vor („Problembär – Knallt die Bestie ab“). Der Darsteller der Witzfigur „Atze Schröder“ lässt die Nennung seines realen Namens verbieten (obwohl ihn jeder sehr einfach herausfinden kann).
Und eine freie Gesellschaft, die sich monatelang mit den doch hoffentlich legitimerweise abartig zu nennenden Gelüsten eines Menschen beschäftigen musste, der einen anderen auf dessen Wunsch hin massakriert und dann zum Teil aufgegessen hat, lässt sich verbieten, einen Film namens “Rohtenburg” anzusehen, nicht etwa weil die Tat eine evidente Ekelgrenze überschritten hätte oder weil Urheber- bzw. Patentrechte verletzt würden, sondern weil der “Menschenfresser” im Knast sitzend von diesem Film in seinem Persönlichkeitsrecht verletzt wird. „Im Namen des Volkes“ verurteilen Juristen das Volk, auf ein Eigenurteil –Machwerk oder Kunst -, auf eine durch den Film beförderte Diskussion um Absonderlichkeiten, auf Grusel-Unterhaltung oder was auch immer zu verzichten, weil, so sagt das OLG Frankfurt unter Verweis auf das inzwischen 35 Jahre alte „Lebach-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts: „Jedermann darf grundsätzlich selbst und allein bestimmen, ob und inwieweit andere sein Lebensbild im Ganzen oder bestimmte Vorgänge aus seinem Leben öffentlich darstellen dürfen.“
Das Procedere ist stets gleich: der Anwalt eines mit einer öffentlichen Äußerung in Presse, Rundfunk, Internet, Buch, Ausstellung, Vortrag oder sonst wo Unzufriedenen lässt dem Urheber und seinem Verbreiter, also etwa dem Verlag, Abmahnungen zukommen, wonach sie sich binnen weniger Stunden verpflichten sollen, die entsprechende Äußerung nicht mehr zu tätigen und sie ggf. zurückzuziehen (also etwa aus einem Blog zu löschen), bei künftigen Verstößen eine hohe Geldstrafe zu zahlen und die Anwaltskosten der Abmahnungen zu tragen. Unterwirft sich ein so Abgemahnter nicht, beantragt der Anwalt vorläufigen Rechtsschutz bei Gericht, wozu er nur glaubhaft vortragen muss, dass eine nicht akzeptable Persönlichkeitsrechtsverletzung vorliegt. Das Gericht erlässt dann nach Prüfung, meist „wegen Dringlichkeit ohne mündliche Verhandlung“, das heißt ohne die Beklagtenseite zu hören, eine Einstweilige Verfügung, gegen die zu verstoßen bis zu sechs Monate Ordnungshaft nach sich ziehen kann. In einem folgenden Hauptsacheverfahren kann das Problem dann juristisch gründlicher erörtert werden, außerdem folgen dann ggf. noch weitere Gerichtsverfahren für Richtigstellung und Schadenersatz bzw. Schmerzensgeld. Dabei wägen die Gerichte stets das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen, das sie – vereinfacht gesagt – schlicht aus der grundgesetzlich garantierten Menschwürde und freien Entfaltung der Persönlichkeit einschließlich Ehrenschutz konstruieren, mit möglichen Grundrechten des Beklagten ab, vornehmlich der Meinungsäußerungs-, Kunst-, Presse- oder Berufsfreiheit.
Allerdings lassen sich Pressefreiheit und Persönlichkeitsrechte gar nicht gegeneinander abwägen, allein schon, weil im Journalismus nicht alles gerichtsfest beweisbar ist: Journalismus lebt u.a. vom Informantenschutz und fordert (bzw. erarbeitet sich) das nötige Vertrauen seiner Kunden in seine Quellen. Ein Beispiel: Gegen das Buch „Der Deutschland-Clan“ des Journalisten Jürgen Roth ging Ex-Kanzler Gerhard Schröder erfolgreich vor. Weil Roth zum Beweis einer Behauptung einen seiner Informanten hätte auffliegen lassen müssen, kassierte er das Verbot einer wichtigen Passage. Ein simplerer Interessenausgleich, etwa durch Beifügung einer Gegendarstellung, ist juristisch nicht vorgesehen.
Ohne das Rechtsmittel der Einstweiligen Verfügung, sagen ihre Nutzer, liefe der Persönlichkeitsrechtsschutz leer, weil sich ein Betroffener bis zum Abschluss des Monate bis Jahre andauernden Rechtsstreits nicht angemessen gegen Berichterstattung wehren könnte. Tatsächlich führt dies allerdings dazu, dass gegen fast jede Veröffentlichung vorgegangen werden kann – zumindest einstweilen und das bedeutet: solange der Fall interessant ist. Die Einfallstore sind u.a. Ehrverletzung (die der Journalist vielleicht für Kritik oder Information hielt), persönlicher Lebensbereich und vor allem unwahre Tatsachenbehauptungen, für die es offenbar keine Bagatell-Grenze gibt, auch wenn auf diese Weise ganze Buchpaletten wegen eines Halbsatzes nicht mehr ausgeliefert werden dürfen und jeder einzelne Buchhändler mit einer kostenpflichtigen Abmahnung am Verkauf gehindert werden kann. Man denke an die Causa Gerhard Schröder und seine angeblich, in Wahrheit aber nicht getönte Haarpracht. Die schönste unwahre Tatsachenbehauptung fand 2005 das Bundesverfassungsgericht in der Wirtschaftswoche: Sie brachte eine satirische Fotomontage „eines Mannes in einem Geschäftsanzug, der auf einem bröckelnden, magentafarbenem großen ‚T’ sitzt und unbeschwert nach oben sieht“, wobei „der Kopf allerdings um ca. 5 % gestreckt worden“ war. Karlsruhe entschied: „Das fotografische Abbild des Kopfes enthält durch die technische Manipulation eine unrichtige Aussage, auch wenn der Beschwerdeführer trotz der Manipulation noch identifizierbar ist.“ Mit dem damals sehr prominenten T-Manager wurde also ein unerlaubter Schabernack getrieben: „Eine unrichtige Information, die der verfassungsrechtlich vorausgesetzten Möglichkeit zutreffender Meinungsbildung nicht dienen kann, ist unter dem Blickwinkel der Meinungsfreiheit kein schützenswertes Gut.“
Das Abendland geht sicherlich nicht unter, wenn die Bunte kein Foto von Herbert Grönemeyer mit Freundin veröffentlichen darf – aber das Problem ist tiefergehend. Denn Persönlichkeitsrecht ist Ansichtssache. Richter beurteilen, was fiktive Durchschnittsleser denken, verstehen, interpretieren. Sie bewerten den Informationsgehalt von journalistischen Beiträgen und wie berechtigt das Informationsinteresse der Öffentlichkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt ist. Der Spiegel-Rechtsexperte Dietmar Hipp schreibt: „Die Folgen, die solche elitären und zugleich höchst subjektiven Maßstäbe für die Prominentenberichterstattung sowohl in der Boulevard- als auch in der seriösen Presse haben, sind kaum abzusehen.“
Im Gefolge der viel diskutierten Promi-Fälle hat sich inzwischen eine Persönlichkeitsrechts-Wirtschaft entwickelt, die tagtäglich Pressefreiheit einschränkt, freie Journalisten finanziell in ihrer Existenz bedroht und für eine riesengroße Schere im Kopf sorgt. Freimütig bekennt der Berliner Anwalt Christian Schertz in seinem gemeinsam mit dem Journalisten Thomas Schuler herausgegebenen Buch „Rufmord und Medienopfer – Die Verletzung der persönlichen Ehre“: „Das Persönlichkeitsrecht ist der natürliche Feind der Presse- und Meinungsfreiheit.“ Allerdings sieht er darin kein großes Problem, und auch viele „Alpha-Journalisten“ sind derzeit auf dem Trip: wer als Journalist sorgfältig arbeitet, hat nichts zu befürchten. Richtiger wäre zu sagen: wer als Journalist nicht arbeitet, hat nichts zu befürchten, wobei selbst die Verbreitung von Agenturmeldungen böse enden kann. Christian Schertz behauptet: „Die Rechtslage ist klar und eindeutig.“ Wogegen denn doch sehr unterschiedliche Urteile sprechen, verlorene Klagen von Anwalt Schertz und sein offenbar notwendiges „Handbuch des Persönlichkeitsrechts“, das der Beck-Verlag für September mit reichlich 2000 Seiten ankündigt. Nach Rechtssicherheit für intensiv recherchierende Journalisten sieht das alles nicht aus.
Die Angst vor den mit einem Gerichtsverfahren verbundenen Belastungen ist inzwischen ein wichtiger Grund für Journalisten, Themen nicht anzupacken, – zumal es Kanzleien gibt, die auch noch das letzte quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit publizierende Blog vor den Kadi ziehen, sobald es eine Suchmaschine für sie findet. Dem Kölner Journalisten Werner Rügemer hat sein im Mai 2006 erschienenes Buch „Der Bankier. Ungebetener Nachruf auf Alfred von Oppenheim“ einen Gerichtsmarathon mit sieben einstweiligen Verfügungen gegen 30 Textpassagen eingebracht – 18 davon dürfen inzwischen wieder veröffentlicht werden. Einige Verfahren sind noch im Gange, die Kosten aller Verfahren belaufen sich nach Rügemers Angaben bisher auf etwa 50.000 EUR. Über eine Verhandlung hat Werner Rügemer in einer Online-Zeitung berichtet – und prompt gab es weitere Einstweilige Verfügungen.
Auch Exekutive und Judikative haben den Schutz von Persönlichkeitsrechten inzwischen merkwürdig verinnerlicht. Da beschlagnahmen Polizisten Foto- und Filmapparate von Journalisten, weil sich darauf persönlichkeitsrechtsverletzende Aufnahmen befinden könnten. Und auf Kopien von Gerichtsurteilen für die Presse ist inzwischen alles geschwärzt, was irgendwie „persönlich“ sein könnte : Personennamen, Firmen, Orte, Berufe, angegriffene Äußerungen – selbst die Namen der urteilenden Richter. Ohne Vorwissen oder investigative Recherche sind solche Urteile wertlos.
Formaljuristisch läuft sicherlich das meiste korrekt, de facto haben wir aber inzwischen eine Privatzensur, mit der einzelne erfolgreich gegen Veröffentlichungen sogar schon vor Erscheinen vorgehen können. „Presserechtliche Information“ heißen dann Pressemitteilungen, in denen Kanzleien klarstellen, was ihre Mandanten nicht wünschen, verbunden mit der Ankündigung von rechtlichen Schritten bei Nichtbeachtung. BamS-Chefredakteur Claus Strunz nannte auf einem VDZ-Kongress kürzlich diese “anwaltlichen Vorabdrohungen” eine „neue Eskalationsstufe“, die schon Recherchen unterbinden sollen.
Selbstredend gibt es „Medienopfer“. Menschen, deren Leben durch die Medien tangiert wird, ohne dass sie dies wollten. Doch das sind im Verhältnis zu denen, die insgesamt gerichtlich ihre mediale Unantastbarkeit erstreiten wollen, sehr wenige – und bei diesen wenigen ist in vielen Fällen dennoch die mediale Aufarbeitung notwendig – siehe Amstetten – und zwar gerade auch gegen ihren Wunsch. Das „Medienopfer“ muss keine öffentliche Verhandlung seines Schicksals fordern oder zulassen, damit diese legitim wird. Als am 19. Juli am italienischen Strand von Torregaveta bei Neapel zwei Mädchen ertranken, schien das einige Touristen nicht weiter zu beeindrucken. Und sie sind auf den später für Aufregung sorgenden Fotos zurecht unverpixelt, weil sich jeder nach seinem Geisteszustand fragen lassen muss, der seine frei entfaltete Persönlichkeit neben zwei notdürftig mit Handtüchern abgedeckten Leichen sonnenbadet. Als Anfang Juli Fotos von idiotischen Aufnahmeritualen des Löschzugs Rapen in Oer-Erkenschwick auftauchten, mussten diese veröffentlicht werden, auch wenn einer der darauf Abgebildeten, der nackt auf eine Bank gefesselt mit einem Wasserwerfer abgespritzt worden war, bei Bild.de sagt: „Alles ist mit meiner Zustimmung passiert und hat mir nicht geschadet.“ Die Feuerwehren nehmen öffentliche Aufgaben wahr, haben hoheitliche Befugnisse und werden von der Allgemeinheit finanziert. Da sind Aufnahmerituale kein Privatvergnügen, sondern öffentliches Thema – unkaschiert.
Persönlichkeitsrechtsverletzungen passieren jeden Tag – ohne dass sie Debatte wären. Sie geschehen im Mehrbettzimmer des Krankenhauses, wo Verwandtengespräche und Bettpfannengebrauch gleich vom daneben liegenden Kassenpatienten kommentiert werden. Und die Persönlichkeitsrechtsverletzung der Verbrechensopfer beginnt mit Vernehmungen und Untersuchungen. In der Strafverfolgung und zunehmend selbst bei der Prävention werden Eingriffe in das Private hingenommen: die sogenannte Vorratsdatenspeicherung, Massengentests oder Massenortungen von Handys; Videoüberwachung von Plätzen, Bussen, Bahnen; Datenaustausch zwischen Behörden, Ländern und Kontinenten. Dabei ist hier die Verletzung der Privatsphäre weitaus massiver. Da werden Unschuldige bis ins letzte Detail ihres Lebens gescannt, nur um einzelnen Übeltätern staatliche Resozialisierung angedeihen zu lassen.
Weitaus wichtiger als die Sanktionierung einzelner Fehltritte ist jedoch die gesellschaftliche Kommunikation: über richtig und falsch, verzeihliche und unverzeihliche Fehler, über gute und schlechte Vorbilder, über Reichtum und Armut, Erfolgsgeschichten und Skandale, weil sich daraus überhaupt erst das Regelwerk ergeben kann, mit dem das Zusammenleben organisiert wird – und nach dem dann letztlich auch Gerichte zu entscheiden haben.
(Timo Rieg)
So, so, es ist für mich, der ich noch nie in Amstetten war und wohl auch nie hinkommen werde, also wichtig zu wissen, wie Josef F. mit vollem Namen heißt und wie er aussieht…
Wenn Schäuble den gläsernen Surfer fordert, ist das ein Angriff auf die Persönlichkeitrechte, wenn aber auch einem Vergewaltiger der übelsten Sorte Menschenrechte zugestanden werden, ist es ein Angriff auf die Informationsfreiheit.
Entweder man lehnt eine Unterhöhlung der Menschenrechte grundsätzlich ab und nimmt dafür in Kauf, dass sie ausgenutzt werden oder man sollte sie allgemein nur als grobe Richtschnur nutzen. Aber sich zum Richter darüber aufzuschwingen, wo der Bruch eines Grundrechtes zum Schutze eines anderen Grundrechts überwiegt, dass sollte niemand tun.
Aber natürlich möchten wir alle bei einem Unfall nicht nur die Zahl der Toten wissen, sondern auch möglichst große, möglichst detailreiche Fotos der Leichen (inklusive Namen der Toten, Alter, Beruf, Hobbies, …) und daneben die Fotos der geschockten und weinenden Angehörigen.
Menschenwürde? Braucht niemand, wir wollen Blut sehen! Und dazu müssen die Journalisten natürlich möglichst nah ran, koste es, was es wolle. Wenn sich aufgrund dieser Berichterstattung jemand genötigt fühlt, Selbstmord zu begehen, umso besser. Das gibt super Stoff für die nächste Berichterstattung. Lang lebe die BILD!
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