Einzelfälle können in Gesetzen kaum geregelt werden, und Sinn von Gerichtsverfahren ist auch abzuwägen zwischen den verschiedenen Interessen. Aber deutsche Richter haben in vielen Bereichen einen unglaublich großen, einen undemokratischen Ermessens- und Entscheidungsspielraum. Das inzwischen vollständig justizkapitalisierte „Allgemeine Persönlichkeitsrecht“ ist das Paradebeispiel dafür. Aus einer völlig abstrakten, alten und inhaltsarmen Formulierung leiten Gerichte landauf landab alles mögliche her. Beim Standardkonflikt „Pressebild“ kommt noch das recht irrsinnige „Recht am eigenen Bild“ hinzu, eine Regelung, völlig unpassend vor 100 Jahren in ein „Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste und der Photographie“ gepackt.
Auf dieser Grundlage und verstärkt durch seine „Sitzungspolizei“-Kompetenz hat der Vorsitzende Richter am Landgericht Potsdam nun ein komplettes Fotografierverbot in einem Prozess verhängt.
Es gibt sicherlich nicht wenige Sympathisanten dieser Linie, – vieles, was sich im Medienbereich für Qualität hält, viellleicht sogar für Elite, ist gerne für Recherche- und Publizierverbote; aber es ist vermutlich doch eine Minderheit, die mit ihren Argumenten dann auch die bis zum intellektuellen Erbrechen gescholtenen BILD-Zeitungs-Leser überzeugen müsste. Denn Elitenrecht ist nicht demokratisch.
Es ist dringend Zeit, dass sich die Gesellschaft darüber verständigt, ob sie mutmaßliche Straftäter im Bild sehen will, ob sie sich das Recht nehmen will, dies wenigstens selbst zu entscheiden von Fall zu Fall und nach Lust und Laune, – Bilder von Straftätern, deren Taten immerhin so mutmaßlich manifestiert sind, dass sie für eine Verhaftung, für Freiheitsentzug und für die Eröffnung eines Hauptverfahrens in einem Strafprozess gelangt haben.
Es ist ja eine absurde Informationsschere, die von Politik und Justiz immer weiter geöffnet wird: einerseits der allwissende Staat, dessen Behörden von jedem alles speichern darf, – keine Demo mehr ohne vollständige Bilderfassung aller Teilnehmer, nur als ein Beispiel – und andererseits der bevormundete Bürger, der von Prozessen ausgesperrt wird, von politischen Beratungen, der Verträge nicht sehen darf, die in seinem Namen geschlossen werden usw.
Ich bleibe dabei: Strafverfahren müssen öffentlich sein, und die damit verbundenen Eingriffe in Persönlichkeitsrechte müssen vorher abgewogen werden – vom Täter, bevor er eine Tat begeht, von der Staatsanwaltschaft, die Opfer und Zeugen in die Öffentlichkeit bringt, vom Gericht, das zu prüfen hat, ob es ein Verhandlungs- und damit Strafinteresse gibt. und wenn das alles so ist, dann gehört zur Öffentlichkeit des Verfahrens, dass ich die Beteiligten kennen kann (wenn es mich interessiert). (Unlängst sagte mir z.B. eine Richterin eines Amtsgerichts, als ich nach einem Urteil fragte, es gebe bei ihnen die feste Vereinbarung mit der örtlichen Presse, dass keine Namen in der Berichterstattung auftauchen, nicht von Richtern, nicht von Staatsanwälten, nicht von Verteidigern – eine anonyme Behörde agiert da, die sich eben nicht beim Einkauf am Samstag vor irgendjemandem rechtfertigen müssen will.)
Timo Rieg
Ein in engen Grenzen nachvollziehbares Sentiment. Grundsätzlich dient die öffentlichkeit von Strafverfahren ja dem Schutz des Angeklagten, da die Öffentlichkeit so ein waches Auge darauf haben kann, dass auch ja keine Willkürjustiz Einzug hält. Allerdings dient die Öffentlichkeit auch NUR diesem Zweck, es geht hier nicht um Informationsinteressen und ein vermeintliches Recht auf ´orrible murder stories.
Das Problem ist, dass die Pressearbeit von Staatsanwaltschaften, Verteidigern und Gerichten, insbesondere aber die sachlich völlig ahnungslose Berichterstattung diesen Zweck immer mehr konterkarieren. Vorverurteilungen von Angeklagten und Retraumatisierungen von Zeugen und Opfern sind die Folge. Was Sie insbesondere im letzten Absatz vergessen, ist, dass der Angeklagte in einem Strafverfahren der Täter sein mag oder auch nicht. Die Arbeit von Polizei und Staatsanwaltschaft ist längst nicht so gut, dass sich hier irgendetwas manifestiert haben muss – jeder kann auf der Anklagebank landen.
Diesem Umstand wird das deutsche Recht durch die Unschuldsvermutung gerecht. Bis die Schuld nicht durch rechtskräftiges Urteil festgestellt ist, hat der Angeklagte also grundsätzlich die gleichen Rechte wie Sie und ich, vor allem im Hinblick auf das Recht nicht in der nationalen Presse ausgestellt zu werden.
Im übrigen kann der zu Unrecht Angeklagte erst einmal gar keine Abwägung treffen, ob er ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt werden möchte. Und eben weil es die Unschuldsvermutung gibt, ist ersmal jeder Angeklagte zu unrecht angeklagt.
Grundlage für das Allgemeine Persönlichkeitsrecht inklusive seines Bestandteils „Recht am eigenen Bild“ sind die allgemeine Handlungsfreiheit vor allem aber die Menschenwürde. Vor diesem Hintergrund muss die Pressefreiheit nun einmal des öfteren hintanstehen. Die eigene Freiheit endet nun einmal dort, wo die des anderen beginnt. Der Umstand, dass einige gerichte insbesondere in Hamburg, Köln und Berlin auf der Grundlage des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts tatsächlich Zensur betreiben steht dem nicht entgegen und wäre durch eine Änderung der ZPO leicht auf ein erträgliches Maß reduzierbar.
In der Hoffnung juristisch und demokratisch weitergeholfen zu haben
Jan