Wenn der Scheiß-Kahn sinkt

Die Wahlberechtigten in Deutschland reden vier Wochen vor der Bundestagswahl am 22. September 2013 übers Wetter und Essen, nicht aber über Politik, beklagt Günther Lachmann in der Welt aktuelle Meinungsumfragen. Und konstatiert am Ende:

„Das Land [Deutschland] scheint eine Insel der Seligen, eine Oase des Wohlstands zu sein. Es verharrt in einem eigenartigen Stillstand, der die Schatten der Zukunft fernzuhalten scheint. Dieses Land, das so oft und so sehr nach einem Wandel strebte, will derzeit nur eines: die Zeit anhalten. Es gibt sich einer gefährlichen Illusion hin.“

Selige und Wohlhabende gibt es ohne Zweifel, aber dass sie „das Land“ sind, müsste erstmal bewiesen werden – viel Spaß bei dem Versuch.

Natürlich „steht viel auf dem Spiel“, wie es im Vorspann heißt, – doch die erforschte Interesselosigkeit ist gerade kein Wunder, sondern Zwangsläufigkeit. Lachmann führt zwar einige „Highlights“ deutscher Politikdiskussionen an, verkennt aber, dass genau ihre Folgenlosigkeit zum Politikerverdruss geführt hat, und zwar, wie richtig analysiert, fortwährend – wenn auch nicht kontinuierlich – steigend.

„Politisch interessiert blieben die Deutschen dennoch. Die Atomenergie spaltete die Gesellschaft in zwei Lager, in das der Befürworter und das der erbitterten Gegner. Aus der Ablehnung der Aufrüstung zwischen Ost und West formierte sich die Friedensbewegung. Bis zur Bundestagswahl 1987 lag die Wahlbeteiligung bei weit über 80 Prozent.“

Eben: Atomkraftwerke hat die Mehrheit der Bevölkerung immer schon abgelehnt, schlicht aus Angst. Dennoch wurden immer mehr gebaut, und selbst der rot-grüne Ausstieg war nur eine Vertröstung, kein Ende der Gefahr. Wen oder was soll man da wählen, wenn ohnehin Politiker im Verbund mit Wirtschaft, „Experten“ und im schlimmsten Fall auch noch Journalismus-Onkels als Kaste der Weisen entscheiden, wo es zum Wohl des dummen Volkes hingehen soll? Und Atommüll hinterlassen, für das nun – völlig ernstgemeint! – ein auf eine Million Jahre sicheres Lager gefunden werden soll! Jetzt, nachdem Politiker in ihrer unendlichen Weisheit sechs Jahrzehnte lang das Land mit Atommüll angereichert haben. Allein dieser langanhaltende Wahnsinn macht alle beteiligten Parteien unwählbar.

„Zum anderen gelang es SPD und Grünen, den Menschen das Gefühl zu vermitteln, mit ihnen breche eine neue Zeit an. Als diese neue Zeit dann in Form der Hartz-Gesetze wirkungsvoll in den Alltag eingriff, stürzte Schröder über massive Proteste auf der Straße, aber auch aus der eigenen Partei.“

Eben. Gewählte Politiker setzen eben nicht um, was die Wähler wollen (wozu natürlich auch die Kommunikationswege fehlen), sondern sie machen, was sie wollen. Deshalb gibt es eine wahlerfolgreiche Links-Partei, die natürlich im Falle der Regierungsbeteiligung auch wieder nur machen würde, was ihren Karrieristen nützt.

„Die Menschen glauben nicht mehr, dass Politik die Probleme dieser Zeit lösen kann. Sie wissen aber auch nicht, wer diese Probleme sonst lösen könnte.“

Im ersten Satz muss es richtig heißen „lösen will“, nicht „kann“: Politiker leben schließlich von ihren selbstgeschaffenen Problemen – „alles in Ordnung“ ist für sie keine Geschäftsgrundlage. Der zweite Satz ist nicht mehr als eine freche Behauptung, schließlich gibt es unzählige Bürgerinitiativen, engagierte Gruppen, Vorschläge von Verbänden und Kirchen und weiß der Kuckuck wem alles, die jedoch eint, dass sie nicht gewählt werden können. Vom Politikjournalismus wird das jeweils nur soweit zur Kenntnis genommen, wie es für die eigene Leserschaft notwendig ist, sei es als Skandal oder Hoffnung.

Die Ignoranz des Journalismus‘, zumindest in diesem Fall des Springer-Journalismus‘, quillt zum Beispiel aus folgenden zwei Sätzen:

„Angesichts der Zustände in Südeuropa bangen viele Bundesbürger um ihr Erspartes. Sie fürchten eine Inflation. Erinnerungen an die Weimarer Jahre werden wach.“

Die Euro-Zone ist sicherlich ein kompliziertes Ding, das nicht jeder am Frühstückstisch durchdenken mag. Aber zwei sehr einfache Dinge verstehen auch wir volkswirtschaftlich nicht vorbelasteten Bürger:
a) Wenn in einer Währungsunion die „schwachen Mitglieder“ alle anderen mit herunter ziehen, ziehen wohl die starken auch alle gemeinsam mit herauf. Von diesem zweiten Teil des Zusammenspiels liest man aber nichts. Und das könnte daran liegen, dass
b) ein ständig als vorbildlich und wirtschaftsstark gepriesenes Deutschland selbst die höchste Verschuldung hat, und zwar in einer Höhe, die auch ohne viel Interpretation und ohne Berücksichtigung der inklusiven, nicht ausgewiesenen Schulden (für zukünftige Verpflichtungen) jeder Mittelstufenschüler mit einem online-verfügbaren Zinseszins-Rechner als schlicht und ergreifend nicht tilgbar ermitteln kann.

Auf die griechischen Staatsschulden zu blicken mag so befriedigend sein wie das Elend der inszenierten Trash-Familien im deutschen Fernsehen zu belachen, weil es kurzzeitig vom eigenen Desaster ablenken kann, aber mit dem verbliebenen Restverstand sehen die Meisten, wie egal es ist, ob man auf der Titanic im günstigen Unter- oder im teuren Oberdeck gebucht hat, wenn der Scheiß-Kahn sinkt.

Auch wenn es das Geschäftsmodell des deutschen Politikjournalismus ein wenig durcheinander bringt: Wahlen sind sinnlos! Nur das spiegelt die Politikerverdrossenheit der Bevölkerung! Nicht von ungefähr haben wir heute jede Menge (staatlich, d.h. auf Geheiß der Parteien) finanzierte Wahlwerbung: Erstwähler sollen motiviert werden, Minderjährige werden aufs Wählen eingeschworen, und wer immer etwas auf sich hält im Medienzirkus wirbt natürlich – wenn auch augenzwinkernd -, der Bürgerpflicht nachzukommen, den Zirkus am Tanzen zu halten.

Dass der 22. September 2013 irgendetwas mit Demokratie zu tun hat ist nicht mehr als Propaganda. Das war bei allen vorangegangenen Wahlen nur graduell anders. Aber nach 64 Jahren ist das Spaßpotential eben so ausgereizt, dass auf Spiegel-Online Martin Sonneborn seit Jahren ungestört für seine Kasper-Partei Werbung machen darf (was leider außer ihm und seinen dürrappeligen Bafög-Jüngern auch niemandem Freude bereitet).

Es stehe viel auf dem Spiel, meint Lachmann. Wie wahr! Nur: er benennt es nicht. Staatsverschuldungen im europäischen Süden sind jedenfalls das geringste Problem, das wir haben. Ich nenne mal willkürlich fünf aus fünftausend:

* Zu den Staatsschulden von nominal 2 und realistisch wohl 6 bis 8 Billionen Euro in Deutschland (künftige Verpflichtungen eingerechnet) sagt der mal als schwarzer Finanzminister gehandelte Ex-Verfassungsrichter Paul Kirchhof trocken, Politiker müssten langsam aber sicher zum Recht zurückkehren, also nicht mehr permanenten Rechtsbruch begehen (Maastricht-Kriterien, Grundgesetz und so Papierkram halt). Eine tolle Aussicht, zumal eine Haftung für die illegitime Politik der letzten 40 Jahre ja ausgeschlossen ist. Politiker haften nicht – außer an ihrer Karriere.

* Die ganze Welt wird verändert, weil einige „reiche“ also „erfolgreiche“ Staaten die Erdschätze aus mehreren Millionen Jahren binnen Jahrzehnten vergeuden. Wählbare deutsche Politik setzt dem irgendwelche Heizkostenverordnungen entgegen, baut aber ansonsten lieber Straßen und Flughäfen und Fabrikgelände und sorgt sich Tag und Nacht neurotisch ums Wirtschaftswachstum.

* Die Polizei macht längst wieder als Streitmacht des Politikerstaates im Bürgerstaate, was ihre Herren und Damen wollen. Ob da wegen einer Nationalflagge im Fußballstadion rumgeprügelt wird, ob ein wehrloser Irrer vor dem Roten Rathaus in Berlin exekutiert wird, ob Achtklässler wegen angeblich gestohlener 5 Euro bis in den Intimbereich hin „durchsucht“ werden – alles in Ordnung, nichts wird sich ändern.

* Wenn von „Problemen im Süden“ – genauer: „des Westen“ – zu reden wäre, dann wohl über das, was mich schon seit 1984 mit Wolfgang Niedecken zu einer der besten Platten ever hat abkotzen lassen: dass „alle sechs Sekund e Kind verhungert irjendwo op dä Welt“, was fortschrittlich auf alle 5 Sekunden gesenkt wurde.

* Auch bei anderen Inlandsproblemen fehlt Journalisten wie Lachmann offenbar völlig die Wahrnehmung für den von Politikern verursachten Frust: Wer sich auch nur minimal für Tierschutz interessiert, kann keine der etablierten Parteien wählen, weil die Grausamkeiten unter dem Deckmantel des Verbraucherschutzes und tatsächlich ausschließlich für die Profitmaximierung einiger Weniger fortlaufend zunimmt, was auch ein „Veggie-Day“ der Grünen nicht zukleistern kann.

Wie soll eine Bundestagswahl demokratisch sein, also den Wählerwillen wiederspiegeln, wenn die wirklich wichtigen Probleme nicht öffentlich verhandelt werden (oder ob ihrer Komplexität auch tatsächlich nicht so nebenbei besprochen werden können), wenn nicht einmal klar ist, mit wem eine gewählte Partei am Ende eine Koalition bilden und damit völlig neue Politik aushandeln wird, ganz abgesehen von alle dem, was dann immer so spontan kommt und vorher nie diskutiert wurde?
Wie sollen Wähler ihre Interessen kund tun, wenn sie nur einer Partei eine pauschale Vollmacht erteilen können, mit der diese dann machen darf, was sie will? Was bringt dieses Dilemma besser auf den Punkt als der „Wahlomat“, der mir allenfalls ein Angebot macht, was das geringste Übel sein wird, ganz nüchtern rechnerisch abgewogen?

Der Politikjournalismus ist völlig festgefahren im Parteiensumpf. Er kann sich – im Gegensatz zu seinen schwindenden Rezipienten – nichts anders vorstellen. Vieles, was derzeit unter „Zeitungskrise“ o.ä. verhandelt wird, ist in Wahrheit nur nachlassendes Interesse an einer langweiligen Dauerwerbesendung für Parteifirmen und deren Darsteller.

Timo Rieg

(Mehr Politikverriss, aber auch einen umfangreichen Änderungsvorschlag des Autors gibt es hier: Demokratie für Deutschland)

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