Biopsie-Befund: Eppendorf-Syndrom

Politikjournalisten leben in einem Paralleluniversum: im Gegensatz zu fast allen anderen Menschen haben sie täglich mit Politikern und deren nachgeordnetem Gezumsel zu tun, sie bearbeiten fast nur Themen,die ihnen Politiker vorgeben, sie denken in den Mustern und Kategorien von Berufspolitikern, sie sehen Politik praktisch immer durch die Brille der Politiker. Auch die Welt mancher Wirtschaftsjournalisten muss eine eigene sein, deren Sprache an keiner Schule gelehrt wird. Und während sich Sportjournalisten vermutlich am Stammtisch, dem Journalistensinnbild gemeinen Volkes schlechthin, bestens schlagen können, sind Kulturjournalisten unserem Diesseits komplett entrückt.

 Stefan Willeke, bis vor kurzem Ressortleiter Dossier bei der ZEIT und nun deren Chefreporter, nennt das freimütig – aber auch etwas verharmlosend – das „Eppendorf-Syndrom“:

„Natürlich stammt kaum jemand von uns aus einer Hartz-IV-Familie. Natürlich leben wir viel zu oft in denselben bürgerlichen Stadtteilen derselben Großstädte, in Berlin-Prenzlauer Berg oder in Hamburg-Eppendorf. Altbau, hohe Decken, Fischgrätparkett.” Und natürlich tendierten “die Journalisten der großen Zeitungen […] stärker zum rot-grünen Milieu […] als die meisten Wähler.”

Noch deutlicher macht Willeke sein Eppendorf-Syndrom allerdings mit seiner monströs vorgetragenen ZEIT-Arroganz: „wir, die Journalisten meinungsbildender Blätter“ schreibt er über sich, während er sein Haupt schüttelt über den von ihm recherchestark besuchten Pöbel, dessen Meinung die ZEIT bisher noch nicht zu seiner Zufriedenheit bilden konnte.
Und so interpretiert er aus seinem Paralleluniversum diese komischen Menschen, die er quer durch Deutschland besucht hat.

„Eine deutsche Präzisionsarbeit ist das, die Transformation von Angst in Wut. […] Wahrscheinlich hat sich der Wutbürger in einen Wutleser verwandelt. Politisch kann es jetzt um alles gehen, das von der hergebrachten Normalität abweicht. Und es kann zugleich gegen alle gehen, die Verschiedenheit zulassen.“

Verschiedenheit ist hier natürlich immer die Verschiedenheit der Gleichen, die Verschiedenheit derer, die mit unter der politischen Dunstglocke sitzen.

Stefan Kuzmany, Kulturredakteur im Berliner Büro von SPIEGEL ONLINE, lebt sein Eppendorf-Syndrom an Burger-King-Darmbakterien für Proleten aus. In einer Rezension der RTL-Sendung „Team Wallraff – Reporter undercover“ vom 28. April 2014 überlegt er kurz öffentlich, ob er als Fernsehkritiker die dramatisierende Aufmachung bemäkeln sollte, die Musik, die Floskeln, die unnötigen Inszenierungen, die einfältigen Recherchetipps des großen Enthüllers Günter Wallraff („Eigentlich fehlt nur noch, dass Wallraff sich bei seinen Eingebungen die Nase reibt wie Wickie, das superschlaue Besserwisserkind“). Doch er entschließt sich, heute mal auf Kritik zu verzichten angesichts der Ekelzustände bei Burger King – der Aufklärung der Unterschicht zuliebe:
„Setzt man voraus, dass Fast-Food-Kunden auch RTL-Kunden sind, ist es möglicherweise sogar zwingend notwendig, die eigentlich für sich selbst sprechenden Fakten publikumsgerecht auszuschmücken, damit die Zielgruppe dranbleibt – und vielleicht demnächst den Yildiz-Filialen fern.“

Im FAZ-Feuilleton lässt uns Christian Metz mit einem Blick auf David Fincks Roman „Das Versteck“ etwas von seinem Paralleluniversum erahnen:

„Bernhard und Gabriele, die Perspektivfiguren des Romans, sind ein Allerweltspaar. Er arbeitet als Anwalt in einer kleinen Kanzlei, sie als Architektin in einem Büro.“

2 Gedanken zu „Biopsie-Befund: Eppendorf-Syndrom

  1. Jochen Schmidt

    Vielleicht sollte man die Misere des deutschen Qualitäts-Journalismus nicht allein am Paralleluniversum der maßgebenden Journalisten festmachen. Denn es gibt ja auch handfeste Zwänge der Arbeitswelt.

    Seit etwa 20 Jahren geht es dem klassischen Journalismus wirtschaftlich schlecht – langsam aber sicher geht die Branche zu Grunde. Problem für die Journalisten: ihre Redaktionen, Verlage usw. werden geschrumpft oder ganz geschlossen, sie werden zusammengelegt, ausgedünnt, verjüngt – usw. usf.

    Jeder Journalist, der heute schreibt, muß sich zwangsläufig überlegen: Bei welcher Zeitung, bei welchen Verlag werde ich mich in ein, zwei Monaten bewerben müssen? Oder in einem halben Jahr? Was, wenn meine Redaktion in ein paar Monaten nicht mehr existiert …?

    Konsequenz: Jeder Journalist muß so schreiben – genau so schreiben -, daß er sich in der nächsten Woche schon bei einer Redaktion der Konkurrenz bewerben kann, ohne daß die ihn dort auslachen oder einfach fortjagen.

    Wie geht das? Er muß das schreiben – genau das schreiben -, was die Leute in den anderen Redaktionen, bei den anderen Zeitungen lesen und hören wollen. Und wie geht das? Er muß die Artikel der Konkurrenz lesen, verinnerlichen und nach demselben Schema gewissermaßen fortspinnen. So wird aus jeder journalistischen Glosse ein heimliches Bewerbungsschreiben …

    Und klar: die Journalisten der Konkurrenz machen natürlich genau dasselbe. So entsteht eine Vereinheitlichung der journalistischen Berichte, die von ihren Erzeugern nicht so ganz durchschaut wird – sie interpretieren sie nur zu gerne als Bestätigung ihrer Texte. Wenn sogar die FAZ schreibt, was immer wieder in der ZEIT steht, na dann können die Journalisten bei der ZEIT doch nicht so ganz falsch liegen …

    Das Paralleluniversum verfestigt sich, wird in den Köpfen zementiert. Ja, sehr traurig das Ganze …

    Mehr dazu findet man bei dem Politikwissenschaftler Thomas Meyer:

    https://www.heise.de/tp/features/Die-grosse-Meinungsvielfalt-in-der-deutschen-Presse-ist-Geschichte-3373110.html?seite=all

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