Demokratie als Journalisten-Phantasie

DeineDemokratie-RadiokampagneIm Radio wird das nächste große Nichtwähler-Bashing vorbereitet. 23 private und gebührenfinanzierte Sender in Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz werben bei ihren Kunden derzeit für die Teilnahme an den Landtagswahlen am Sonntag.

In einem von drei Spots wanzt sich beispielsweise eine Frauenstimme an die Hörer ran:

„Hallo. Hier spricht Deine Demokratie. Wir müssen mal reden. Weißt Du, ich bin nicht
besonders empfindlich. Ich halte einiges aus. […] Ich weiß, Du hast gerade viel um die Ohren. Aber bitte nimm Dir ein paar Minuten Zeit für uns. Ich verspreche, ich frage Dich erst in 5 Jahren wieder. Geh wählen, […]“

Werbung ist oft für Doofe konzipiert, doch für wie blöde die Radiovermarkter ihr3 Empfangsgerätenutzer halten ist doch einigermaßen überraschend. Denn an Hinweisen auf das Sonntagsevent fehlt es in den drei Bundesländern nun wahrlich nicht, die Landschaft ist ordentlich tapeziert mit Bewerbern, die gerne die nächsten fünf Jahre vom Steuerzahler alimentiert werden wollen, und via Medien wird der ganze deutsche Hühnerstall seit Wochen in hysterisches Gackern versetzt.
Warum sich Dudelsender, die sich bei passender Gelegenheit durchaus in die Nähe journalistischer Betriebe rücken, vor den Parteienkarren gespannt haben, machen die Spots nicht transparent. Sie bieten nicht mehr als den staatstragenden Appell, ordentliche Bürger sollten der ungeschriebenen Wahlpflicht nachkommen.

Dabei bildet die Teilnahme an der Wahl nur zwei von drei demokratischen Optionen, auf die Stimmbettelei der Berufspolitiker zu reagieren. Man kann natürlich im braven Trott einer Partei oder einem Bewerber seine Zustimmung erteilen. Man kann aber auch allen Bewerbern eine Absage erteilen und den Stimmzettel „ungültig“ machen. Die dritte und inzwischen meistgenutzte Möglichkeit besteht jedoch darin, niemandem seine Stimme zu geben, gar nicht an der Abstimmung teilzunehmen und durch diesen Boykott einen kleinen Beitrag zu einer geringen Wählerquote (und damit geringen Legitimation der Parlamentarier) beizusteuern.

Ein allgemeiner Wahlaufruf wäre allenfalls gerechtfertigt, wenn bei der Abstimmung selbst diese drei Optionen bestünden: Neben den Auswahlfeldern für Kandidaten und Parteien bräuchte es ein Enthaltungsfeld (das bedeutet, ich nehme zwar an der Wahl teil, kann oder will mich aber nicht entscheiden ) sowie ein Ablehnungsfeld (das eben über die Enthaltung hinausgeht und gerade nicht ausdrückt, dass einem egal ist, wer wie Politik macht).

Aber diese simple Erweiterung der Handlungsoptionen hat es in 65 Jahren bundesrepublikanischer Demokratiedebatte noch immer nicht ins Wahlrecht geschafft. ; im Gegensatz zu USA, Frankreich, Spanien und vielen anderen Ländern kennt die deutsche Wikipedia nichtmals das Stichwort dazu).

Man kann in Deutschland Parteien und Politiker nicht wegwählen. Alles, was nicht ihrer Unterstützung dient, wird ignoriert und gar pathologisiert: Warnung vor dem kranken (und alles krank machenden) Nichtwähler!

Jedem Journalisten sollte ein Wahlbeteiligungsaufruf peinlich sein, zeigt er doch, wie wenig man den Wahlvorgang und damit auch die Gründe gegen einer Teilnahme verstanden hat. Wer Wahlverweigeren zuruft, sie sollten sich einen Ruck geben und zwei Kreuze für die Demokratie machen, der kann Vegetarier auch auffordern, sich zwischen Schweine-Gyros, Kalbs-Döner und Hähnchen-Schawarma zu entscheiden, denn es ginge nunmal um den Erhalt der Junkfood-Kultur (und wer da etwas verändern wolle, der müsse natürlich erstmal mitessen – schließlich haben Fleischverweigerer jedes Recht verspielt über Ernährung zu sprechen). Oder Schwule unter die kalte Dusche schicken, damit sie hernach klassisch ehekompatibel sind – und da gehts ja wohl um den Erhalt der gesamten Menschheit.

Der Nichtwähler – vielleicht mit Ausnahme des Kollegen Gabor Steingart – wird von deutschen Journalisten nicht ernst genommen. Er gilt als faul oder spinnert, als Gefährder des Systems, als latent rechtsradikal, in jedem Fall dumm – deshalb auch die Radiowerbung für ihn.

Wobei die Wahlkampagne der „Radiozentrale“ vermutlich auf etwas anderes zielt, als der Welt zu zeigen, dass Deutschland noch (national)sozialistische Wahlbeteiligung kann: nämlich bestimmte Parteien nicht zu wählen. Oder sollten die Macher etwa zufrieden sein, wenn sich am Sonntagabend für die drei Landtage Ergebnisse abzeichnen, wie sie derzeit prognostiziert werden – allerdings mit einer 100% Wahlbeteiligung? Wäre dann die nicht sehr anspruchsvolle Lady „Demokratie“ zufrieden? Und was wäre damit gewonnen, außer dass Politikjournalisten weiterhin alles Politische außerhalb des Parteigeschehens ausblenden dürften?

Aber so wird es ja nicht kommen, und deshalb können wir uns schon jetzt auf das Nichtwähler-Bashing ab Sonntagabend freuen. Wer von keiner der kandidierenden Parteien regiert oder wenigstens aus der Opposition heraus getröstet werden möchte, wird wieder schuld sein daran, dass das Wahlergebnis den meisten Politikjournalisten nicht in den Kram passt. (HV)

PS: Gerade die in den Wahlwerbespots der „Radiozentrale“ benannte „Flüchtlingsherausforderung“ lässt wohl kaum jemanden glauben, Parteien seien hier die kompetenten Partner. Die Parteien haben das „Flüchtlingsproblem“ über Jahrzehnte ignoriert (und ignorieren weiterhin alle Flüchtlinge, die nicht nach Deutschland zu kommen  drohen), ja sie haben mit ihrer Politik aktiv für Flucht gesorgt. Was seit letztem Sommer von Seiten der Bundespolitik gemacht wurde, darf man im besten Fall als konfus beurteilen. Die AfD sticht mit ihren Forderungen keineswegs besonders unangenehm hervor, vertritt sie doch in weiten Teilen  wohl etwas, das man alte Unionspolitik nennen darf. Die Verstümmelung des Grundrechts auf Asyl jedenfalls wurde – ohne nennenswerten Medienprotest – von Schwarz-Gelb in roten Socken beschlossen.

Siehe zum Thema auch:
Schluss mit dem Nichtwähler-Bashing auf unwaehlbar.org
Die Nichtwähler sind schuld bei Tg

Info/ Doku: Pressemitteilung der Radiozentrale vom Mittwoch

Geh wählen! Radiosender starten Kampagne zu Landtagswahlen

In einer gemeinsamen Initiative geben die Radiosender in Baden-Württemberg,
Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt der Demokratie eine Stimme und rufen zur aktiven
Teilnahme an den Landtagswahlen am 13. März auf.

Berlin / Stuttgart / Mainz / Magdeburg, 9. März 2016 – „Hallo. Ich bin’s, deine Demokratie. Wir müssen mal reden.“ So beginnt einer der drei Spots, die im Endspurt vor den Landtagswahlen in ganz Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt im Radio zu hören sind und zur Stimmabgabe am kommenden Sonntag aufrufen.
Eindringlich und direkt appelliert die Demokratie in den Spots an die Bürger, die wichtigen Fragen, die unser Land derzeit bewegen dort zu klären, wo es drauf ankommt: an der Wahlurne. Denn: „Wir müssen wichtige Dinge entscheiden. Zum Beispiel, wie wir in unserem Land leben wollen. Wie wir mit der Flüchtlingsherausforderung umgehen wollen. Mit unseren Grenzen. Mit unseren Nachbarn. Ich weiß, Du hast gerade viel um die Ohren. Aber bitte nimm Dir ein paar Minuten Zeit für uns. Geh wählen!“

Die Kampagne, an der sich in den drei Bundesländern insgesamt 23 Sender beteiligen, ist unter dem Dach der Radiozentrale entstanden, der gemeinsamen Plattform der öffentlich-rechtlichen Radiosender in Deutschland. „Wir stehen in Deutschland vor großen Herausforderungen. Die Stimmung ist aufgeheizt. Es wird viel gehetzt und geschrien, es geht mehr um Angst und Schuld, als um Hoffnung und Lösungen“, sagt Lutz Kuckuck, Geschäftsführer der Radiozentrale. „Die politische Meinungsäußerung verlagert sich zunehmend in die Sozialen Netzwerke und auf die Straße. Dabei scheint manchmal in Vergessenheit zu geraten, dass wir ein wunderbares Instrument haben, um unsere Meinungsverschiedenheiten zu klären: freie, demokratische Wahlen. Radio erreicht und bewegt täglich Millionen von Hörern. Dieses Potenzial möchten wir gemeinsam mit unsern Partnersendern in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt nutzen, damit am Sonntag möglichst viele Menschen der Demokratie ihre Stimme geben.“

Die Funkspots sind seit dem 5. März auf folgenden Radiostationen on air:
Baden-Württemberg: antenne 1, baden.fm, bigFM, das neue radio neckarburg, DIE NEUE
107.7, die neue Welle, DONAU 3 FM, ENERGY Stuttgart, HITRADIO OHR, Neckaralb LIVE, RADIO 7, Radio Regenbogen, Radio Ton Heilbronn/Franken, Radio Ton Ostwürttemberg, RSF Radio Seefunk, Schwarzwaldradio, sunshine live
Rheinland-Pfalz: bigFM, RPR.1, ROCKLAND RADIO
Sachsen-Anhalt: radio SAW, ROCKLAND, Radio Brocken, 89.0 RTL

Zusätzlich sind die Spots in allen drei Bundesländern auf den 685 Webradioangeboten
aus dem Portfolio des Audiovermarkters RMS und auf Facebook zu hören.

Text der drei Werbespots

Motiv 1:
Hallo. Ich möchte Dir gern jemanden vorstellen. Einen Menschen, der enorm wichtig ist
für unser Land. Der entscheidet, wie wir in Zukunft leben wollen. Wie wir mit der
Flüchtlingsherausforderung umgehen wollen. Mit unseren Grenzen. Mit unseren
Nachbarn in Europa und der Welt. Mit all den Problemen und Herausforderungen, all
den Chancen und Möglichkeiten. Wer dieser wichtige Mensch ist? Du. Du kannst
mitbestimmen, welchen Weg wir gehen wollen. Was Du dafür brauchst? Nur ein paar
Minuten Zeit. Und bitte glaub mir: Ich würde so jemand Wichtiges nicht fragen, wenn es nicht wirklich wichtig wäre. Am 13. März ist Landtagswahl. Geh wählen, Baden-Württemberg / Rheinland‐Pfalz / Sachsen Anhalt. Vielen Dank. Deine Demokratie

Motiv 2:
Hallo. Hier spricht Deine Demokratie. Wir müssen mal reden. Weißt Du, ich bin nicht
besonders empfindlich. Ich halte einiges aus. Kein Wunder, ich hab ja auch schon viel
erlebt. Manchmal allerdings brauche ich Dich. Jetzt zum Beispiel. Denn wir müssen
wichtige Dinge entscheiden. Wie wir in unserem Land leben wollen. Wie wir mit der
Flüchtlingsherausforderung umgehen wollen. Mit unseren Grenzen. Mit unseren
Nachbarn. Ich weiß, Du hast gerade viel um die Ohren. Aber bitte nimm Dir ein paar
Minuten Zeit für uns. Ich verspreche, ich frage Dich erst in 5 Jahren wieder. Geh wählen,
Baden‐Württemberg / Rheinland‐Pfalz / Sachsen Anhalt. Vielen Dank. Deine Demokratie.

Motiv 3:
Hallo. Ich bin’s: Deine Demokratie. Ich habe heute eine Bitte an Dich. Wir beide wissen:
Die Stimmung in unserem Land ist aufgeheizt. Wir hatten schon mal einfachere Zeiten
zusammen, oder? Wir schreien uns an statt einander zuzuhören. Wir machen uns
gegenseitig Angst statt Hoffnung. Wir suchen nach Schuldigen statt nach Lösungen. Das
ist schade. Denn wir haben ein wirklich großartiges Werkzeug, um diese Meinungs‐
verschiedenheiten zu klären. Eines, um das uns eine Menge Länder beneiden. Dieses
Werkzeug heißt: Freie Wahlen. Am 13. März ist Landtagswahl. Geh wählen, Baden‐
Württemberg / Rheinland‐Pfalz / Sachsen Anhalt. Vielen Dank. Deine Demokratie.

Nachzuhören unter: https://www.facebook.com/deinedemokratie

[Ende Pressemitteilung]

Bild: Logo der Kampagne aus der PM

Weiterführendes:

WDR5 Sendung „Politikum“ mit Medienkolumne (9. März 2016)

2 Gedanken zu „Demokratie als Journalisten-Phantasie

  1. micha Beitragsautor

    mal ein beispiel aus der brichterstattung, interview mit einem wissenschaftler:
    http://ze.tt/wahlforscher-gefragt-gewinnt-die-afd-wenn-wir-nicht-waehlen-gehen/

    frage: Alle Beobachter gehen derzeit davon aus, dass die AfD am Wahlsonntag in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt Wahlsiege feiern kann und in die Parlamente einzieht. Wie verändert das die Parteienlandschaft?

    antwort: Das Parteiensystem sollte das aushalten.

    ich habe noch keinen einzigen beitrag gelesen, der die wahl der afd für eine normale option hält. es geht immer darum, wie das zu verhindern sei, und was man machen muss, wenn es doch passiert.

    und das soll objektive berichterstattung sein?

  2. yvosumar

    Die Aufrufe „auf jeden Fall wählen zu gehen“ gibt’s vor jeder Wahl. Richtiger werden sie deshalb nicht. Diesmal soll in Baden-Württemberg der Einzug der AfD in den Landtag verhindert werden, 2011 sollte S21 und Mappus weg-gewählt werden. Der Status quo zeigt, wie scheinheilig so ein Aufruf ist. Wer aus guten Gründen am Sonntag nicht wählen geht, kann dies hier veröffentlichen (auch anonym): http://www.mitmachen-ohne-mitzuspielen.de/landtagswahl
    Dass die etablierten Parteien sich für die Nichtwähler/-innen erst dann interessieren, wenn ihre Pfründe ernsthaft bedroht sind, spricht Bände (wenn z.B. durch das Auftauchen der AfD Regierungsbildungen kompliziert werden und sicher geglaubte Koalitionen nicht mehr selbstverständlich). Die „Gegenvorschläge“ für ein Anheben der Wahlbeteiligung muten lächerlich bis grotesk an – und sind nicht auf der Höhe der Zeit hinsichtlich wissenschaftlicher Forschung. Denn: Kosmetische Korrekturen wie Wahlalter, Wahlort oder Einbeziehung von Demenzkranken (Vorschlag der SPD: bit.ly/1QeUfdg) versucht nur über die tatsächliche Ursache der sinkenden Wahlbeteiligung hinwegzutäuschen: „Neben den Desinteressierten treibt die Unzufriedenheit mit dem politischen System und Enttäuschung über mangelnde Partizipationsmöglichkeiten demnach auch politisch Interessierte zur Wahlenthaltung, um ihrem Verdruss Ausdruck zu verleihen.“ (http://www.awapp.uni-bremen.de/wp-content/uploads/documents/Wahlenthaltung_Bremen.pdf)
    Wer dennoch wählen geht, legitimiert dieses undemokratischen System – willentlich oder unwillentlich.

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