Als die „Financial Times Deutschland“ im Jahre 2002 eine Wahlempfehlung für die Union mit Kanzlerkandidat Edmund Stoiber druckte, war die Debatte groß und empört. 1300 Leserbriefe soll es dazu gegeben haben (deren veröffentlichte Auswahl nicht nur der Spiegel kritisierte).
14 Jahre später hat sich in Deutschland nicht die Wahlempfehlung durchgesetzt, sondern eine Wählerverachtung: wer nicht wählt, was der deutsche Journalismus für richtig hält, ist Hohn und Spott ausgesetzt. Rund um die Bundespräsidentenwahl in Österreich sind die journalistischen Meinungsverbreiter dabei zu neuer Hochform aufgelaufen.
Die „Leiterin Digitale Redaktion Berliner Zeitung und Berliner Kurier“ etwa gratuliert der knappen Mehrheit aktiver österreichischer Wähler auf Twitter:
Vernünftiger als gedacht. #Austrianelection #Oesterreich #Austria. Glückwunsch an @vanderbellen aus Berlin.
— Michaela Pfisterer (@PfistererLive) 4. Dezember 2016
Michaela Pfisterer hätte also auch etwas weniger an ihrer eigenen Recherche zweifelnd schreiben können: „48,3% der österreichischen Wähler_innen so dumm wie erwartet.“
Stern-Mann Andreas Petzold sieht Wahlen offenbar als gefährliches Glücksspiel und stellt erleichtert fest: gutgegangen.
Hofer hätte „gerne auf Österreich aufgepasst“. Da haben unsere Nachbarn nochmal Glück gehabt #bpw16 ~ #dpa pic.twitter.com/Rv2ad5Wlse
— Andreas Petzold (@andreaspetzold) 4. Dezember 2016
Kein Glück hatten dann später die Italiener, für die Petzold auch noch auf Vernunft statt Dummheit gehofft hatte (es geht, das muss man offenbar verstehen, bei solchen Wahlen nicht darum, seinen ganz unbedeutenden Wunsch in die Waagschale zu werfen, wer künftig im eigenen Land eine wichtige Rolle spielen soll, es geht darum, sich korrekt deutsch zu verhalten – woran bekanntlich zunehmend selbst die Deutschen versagen – aber der Ruf nach einem „Wahlführerschein“ wird schon wieder kommen):
Ein guter Tag für #Österreich und #Europa. Jetzt noch hoffen auf Italienische Vernunft-Wähler ~ @sternde https://t.co/JLZrmq3drv
— Andreas Petzold (@andreaspetzold) 4. Dezember 2016
Die frühere Chefredakteurin der taz, heute Korrespondentin der „Deutschen Welle“, bedankt sich bei „Österreich“, es dem deutschen Journalismus recht gemacht zu haben:
Danke #Oesterreich! People, let’s only buy Grüner Veltliner for our New Years parties
— Ines Pohl (@inespohl) 4. Dezember 2016
Der nur halb für Sueddeutsche.de twitternde Stefan Plöchinger hat ein Fußballmatch oder einen Zwei-Fronten-Krieg beobachtet, den jedenfalls „dieses Österreich“ gewonnen hat.
Sagen wir’s so: Dieses Österreich hat gewonnen. (Quasi ein Abend aus dem #Bilderbuch, und ah, der grüne Mann tanzt!) https://t.co/VfzIgxInl3
— Stefan Plöchinger (@ploechinger) 4. Dezember 2016
Und so ging das munter den ganzen Wahlabend.
Bernd Ulrich, Die ZEIT:
Europa trotzt #Trump #makeeuropegreatagain Danke #Österreich
— Bernd Ulrich (@berndulrich) 4. Dezember 2016
Dominik Mai, Berliner Zeitung:
#Oesterreich kann ja doch wählen! #Erleichterung #VanDerBellen #bpw16
— Dominik Mai (@dominikmai) 4. Dezember 2016
Martin Kaul, taz:
Hammererfolg: Rechtsaußennationale in #Oesterreich unter 50 Prozent!
— Martin Kaul (@martinkaul) 4. Dezember 2016
Sebastian Fischer, Spiegel-Online:
Sieht alles nach einem guten Tag für Europa aus. @ORF #bpw16 pic.twitter.com/0Ds8t37iss
— Sebastian Fischer (@sefi99) 4. Dezember 2016
Thorsten Denkler, Süddeutsche Zeitung:
Van der Bellen deutlich vorne. Endlich mal eine gute Nachricht.
— Thorsten Denkler (@thodenk) 4. Dezember 2016
Hanna Herbst, stellvertretende Chefredakteurin „Vice Austria“
Wien, du geile Sau. pic.twitter.com/9VdlClxIpo
— Hanna Herbst (@HHumorlos) 4. Dezember 2016
Was ist der Informationswert all dieser Gemütsbekundungen – die sich ja auch so in den Artikeln niederschlagen? Dienen sie irgendwie den Lesern/ Zuschauern/ Mediennutzern – oder sollen sie nur Fans sammeln, Applaus und wohlwollendes Kopfnicken wichtiger(er) Kollegen, denen zu gefallen Teil des Geschäfts ist?
Natürlich hat jeder Journalist zu allem Möglichen eine Meinung, und zu Themen, mit denen er sich beruflich beschäftigt vermutlich ganz besonders. Nur ist diese nackte Meinung reichlich egal – hilfreich könnte sie allenfalls in Form eines „disclosure“ sein: „Die Autorin dieses Textes ist FDP-Wählerin / Mitglied in der Bezirksvertretung für die GRÜNEN/ ehrenamtliche Funktionärin bei XY…“ Doch gerade solche formalen Offenlegungen sind in Deutschland unüblich. Stattdessen werden absolutistische Meinungen und Wertungen kund getan.
Dabei sollte man doch schon als freier Schülermitarbeiter bei der Lokalzeitung lernen, dass bloße Meinungen im Journalismus meist der Verzicht auf Information sind. „Die Band hat toll gespielt“, „Die Fotos in der Ausstellung sind grandios“, „Das Buch ist langweilig“, – solche Meinungen sagen nichts über das Berichterstattungsobjekt, sondern nur etwas über den Berichterstatter: wie es ihm gefallen hat. Damit kann man allenfalls im engeren Bekanntenkreis etwas anfangen, weil man die Äußerungen einordnen kann. („Steht mir das?“ fragt man ja auch nicht beliebige andere Kunden im Klamottenladen, sondern die bewusst ausgewählte Begleitung, deren Urteil man einzuschätzen vermag…)
Die Kunst jedes journalistischen Kommentars, jeder Rezension oder sonstigen journalistischen Bewertung liegt darin, seinen Kunden ein eigenes Urteil zu ermöglichen. Wer meint, es könne nur eines geben, der muss entsprechend nachvollziehbar und überzeugend argumentierten (und damit leben, dass es wohl immer Rezipienten gibt, die aus den vermittelten Fakten anderes folgern).
Um was ging es bei der österreichischen Bundespräsidentenwahl? Um Pannen, um Witzigkeiten und eine Entscheidung zwischen Vernunft und Rechtspopulismus. Und darum, dass die Wahl im Ergebnis vom deutschen Journalismus akzeptiert worden ist.
Vielen Dank für diese Information.