Die „Lügenpresse“ ist ja angeblich der Journalismus, der ideologisch orientiert Fakten auswählt, die berichtet werden, und ebenso ideologisch eben verschweigt, was „ihm“ nicht in den Kram passt. Soweit, so bekannt – und tausendfach verlacht.
Doch wie sieht es aus, wenn nicht die Lügenpresse-Zensoren am Werk sind, sondern die ganze freie, offene, diskussionsfreudige Internet-Community? Lässt sich denn hier ein Interesse an der „Wahrheit“, an der (erreichbaren) Vollständigkeit von Informationen erkennen? Und sind die „neuen“ Kommunikationswege dabei den (ideologisch) gescholtenen „Holz-Medien“ irgendwie einen Schritt voraus?
Ein kleiner, aber – zumindest auf Papier – sehr reichweitenstarker Fall sollte Medienkritiker verwundern:
Am Nachmittag des 18. Januar 2018 kritisiert der freie Journalist Martin Eimermacher auf Twitter einen BILD-Zeitungsbericht über die Beziehung eines 46-jährigen Mannes zu einer 14-Jährigen.
17-jähriger Syrer hat Beziehung mit 14-jährigem Mächen: BILD rastet tagelang aus
46-jähriger Deutscher hat Beziehung mit seiner 14-jährigen Nichte: Romantische Lovestory
Der Beitrag bekommt rund 6.600 Likes, wird 2.700-mal weiterverbreitet. Solch seltenen Erfolg wünscht man sich auf Twitter.
In der Nacht legt Eimermacher nach und spricht den BILD-Chefredakteur direkt an:
Lieber @jreichelt, wenn ihr das nächste Mal einen eurer 2141 empörten Artikel über das NetzDG veröffentlicht, könnt ihr dann erwähnen, dass @Twitter auch juristisch unverfängliche Tweets löscht, nur weil sie die BILD kritisieren? Merci, united we stand! ✊
Offenbar hatte Twitter den ersten Beitrag gesperrt (wir haben Details nicht weiter recherchiert, weil es uns um die Medienwirkung geht).
Und dann passiert etwas eigentlich sehr erstaunliches. Die BILD-Zeitung, die Presseanfragen meist nicht beantwortet oder über ihre Verlags-Pressestelle Belangloses absondern lässt, greift den Fall auf. Die Titelseite der Print-Ausgabe vom 20. Januar berichtet nicht nur von der Löschung des Eimermacher-Tweets (das könnte noch zur Kritik an den „2141 empörten Artikeln“ gehören), sie erwähnt auch korrekt die Kritik des Tweet-Autors – und räumt ein, dass die Überschrift des kritisierten Beitrags irgendwie unglücklich gewählt war. Wörtlich (Web-Fassung ähnlich):
Das umstrittene Lösch-Gesetz („Netz-DG“) für Internet-Inhalte sorgt wieder für Ärger! Dieses Mal wurde eine BILD-kritische Kurznachricht (Tweet) gelöscht.
Leidtragender ist der Journalist Martin Eimermacher. Er hatte die BILD-Berichterstattung zur umstrittenen Flüchtlingsdoku von KiKA („Malvina, Diaa und die Liebe“) in Bezug zu einem Artikel über die Liebesbeziehung von Gerrit H. und seiner Nichte Josephine P. gesetzt („Drei Jahre Kampf für eine ungewöhnliche Liebe“). Eimermacher twitterte: [Post siehe oben]
Hintergrund: Das seit 1. Januar geltende NetzDG von Justizminister Heiko Maas (51, SPD) verlangt unter Strafandrohung von Portalen wie Twitter oder Facebook „offensichtlich strafbare“ Inhalte zu löschen. Dazu kann der Eimermacher-Tweet aber definitiv nicht gehören.
PS: BILD.de hat die Überschrift zu Gerrit H. und Josephine P. geändert.
Geändert wurde die ursprüngliche Überschrift „Drei Jahre Kampf für eine ungewöhnliche Liebe“ in „Josephine will ihren Onkel sogar heiraten„.
Eimermacher reagiert auf diese prominente Berichterstattung über seinen „gelöschten“ Tweets mit einem weiteren Twitter-Posting, das ein Foto vom Artikel zeigt und den Satz:
Ich teile mir heute die Titelseite der BILD mit dem halbnackten Putin, und leider fällt mir kein witziger Spruch dazu ein
Diese ja nun keineswegs weniger wichtiger Mitteilung über die – entgegen der Erwartung – aufgegriffene Kritik an BILD und Lösch-Praxis von Twitter bekommt allerdings nur noch 197 Likes und wird nur 19-mal geteilt.
Während also die inkludierte Behauptung, die BILD-Zeitung werde die Löschung eines BILD-kritischen Tweets nicht als Beispiel für Probleme des NetzDG nehmen, 2600-fache Zustimmungsbekundungen bekam, reagieren auf die Realität 90% weniger.
Zwei Stunden später twittert Eimermacher, dass sein ursprünglicher Tweet wieder verfügbar ist (also nicht gelöscht, sondern nur verborgen war).
Dank @jreichelt hat Twitter den gesperrten Tweet wieder freigegeben. 10/10, gerne wieder.#BILDwirkt
In den wenigen Dialogen dazu ist Eimermacher so zu verstehen, dass sein Dank an BILD Ironie sei.
Auf Twitter schreibt man an solcher Stelle:
Keine Pointe.