Ob Cordt Schnibben wirklich geeignet ist, die besten journalistischen Produkte in Gestalt von Reportagen auszuzeichnen? Auch wenn Können und Können-entdecken nicht zusammenfallen müssen – angesichts solcher Kommentare bin ich unsicher:
Headline-Vorschlag für morgen: “Frauen dürfen über deutsche Regierung abstimmen”. Und übermorgen: “Schwule dürfen über deutsche Regierung abstimmen” @BILD pic.twitter.com/EUlBi7qOQk
— Cordt Schnibben (@schnibben) 7. Februar 2018
Es ist völlig okay, Boulevardjournalismus doof zu finden. So wie man auch die SPIEGEL-Zeitschrift doof finden darf, manches, war Correctiv macht etc. (Wobei es natürlich auch besonders billig ist, Boulevard zu verachten, distanziert man sich damit doch nur vom Lesepöbel.) Aber wenn man für den Applaus seiner Fans so tut, als sei man mit einer Sechs-Wort-Überschrift der BILD-Zeitung ernsthaft überfordert, wird es peinlich.
Die BILD hatte heute getitelt: “Ausländer dürfen über deutsche Regierung abstimmen“. Cordt Schnibben schlägt als weitere Überschriften u.a. vor: “Schwule dürfen über deutsche Regierung abstimmen.” Warum ihm beim Assoziationsspiel zu “Ausländer” die Begriffe “Frauen” und “Schwule” einfallen, mag er vielleicht noch irgendwann erläutern; doch während die BILD-Schlagzeile journalistisch korrekt die Nachricht fokussiert, spinnt Schnibben Nonsens.
Es mag ja sein, dass er keine Erwähnung wert findet, was der BILD zum Aufmacher taugt. Das macht den BILD-Artikel (auf den Schnibben mit keinem Wort eingeht) aber nicht journalistisch falsch, fragwürdig oder irrelevant. Über die Entscheidungsmacht der SPD-Mitglieder wird ja nun tatsächlich landauf, landab diskutiert (auch unter Politologen). Da ist es schon ein relevanter Hinweis, dass über die Regierungskoalition im Zuge des Mitgliedervotums nun auch Menschen entscheiden können, die in Deutschland kein Wahlrecht haben: die also nicht mitentscheiden durften, welche Partei wie stark wird, die nun aber mitentscheiden dürfen, ob die SPD in die Regierung geht (was auch alle Nicht-SPD-Wähler betreffen wird).
Statt ihren Kollegen auf die Peinlichkeit seines Assoziationsspiels aufmerksam zu machen, treibt die bei diesem Thema derzeit unvermeidliche Anja Reschke es noch weiter, direkt bis zum Schmerzpunkt:
Oder wie wärs mit: : alte weiße, evangelische, westdeutsche Männer dürfen abstimmen. 🙂 https://t.co/1VfTsikDhM
— Anja Reschke (@AnjaReschke1) 7. Februar 2018
Immerhin verweist Reschke auf einen Text, der “soziale Zusammensetzung der Parteimitgliederschaften” thematisiert. Und trotzdem geht ihr Einwurf am BILD-Thema vorbei: denn dass die Mitgliederstruktur in Parteien nie die Bevölkerung widerspiegelt, ist bekannt und geradezu zwingend (sonst bräuchte es ja keine Parteien). Und warum die guten atheistischen Frauen nur auf Twitter groß sind, nicht aber in den Parteien, könnte Panorama ja bei Gelegenheit mal untersuchen. All das hat aber nichts mit dem Artikel der BILD zu tun. Und wer das nicht versteht, empfiehlt sich nicht gerade als Welterklärer oder Notengeber für Welterklärer.
Stattdessen bestätigen die beiden Journalisten und ihre Jünger natürlich einmal mehr, wie Medienmainstream funktioniert: nicht von irgendwo gesteuert, natürlich nicht, sondern aus freien Stücken – aufgrund gleicher Sozialisation, ähnlicher persönlicher Interessen, identischer Informationsnetzwerke etc.
Dass es bei solchen Tweets um mehr geht, als Boulevard allgemein oder speziell die BILD blöd zu finden, zeigen viele Reaktionen darauf: Das Assoziationsspiel geht weiter, den Artikel der BILD hat niemand gelesen, Falschinformationen machen die Runde, das eigene Weltbild wird mit Freude und Phantasie ausgeschmückt – es passiert also genau das Gegenteil von dem, was Journalismus will (oder wenigstens soll). Und deshalb muss man sich über solche Twitter-Botschaften aufregen.
PS: Warum stören sich ausgerechnet Menschen, die sich für sehr weltoffen und -erfahren halten, immer an der Bezeichnung “Ausländer”, die sie doch vom eigenen Rollenspiel in der Ferne nur zu gut aus der anderen Perspektive kennen sollten?
Gerade Twitter ist natürlich voll Beiträgen, deren Autoren sich wie im oben zitierten Fall weigern, Fakten zur Kenntnis zu nehmen bzw. als Journalisten diese zu prüfen, ggf. zu ergänzen und dann zu verbreiten. Einige Beispiele:
1. Ausgerechnet Niggemeier,
den wir doch für einen der wenigen frei denkenden Köpfe im Medienjournalismus halten, auch er spinnt zur BILD-Schlagzeile einfach vor sich hin:
“Ausländer raus aus deutschen Parteien”? Davon steht in dem Artikel nichts, auch nicht in der vielfach multiplizierten Überschrift. War eigentlich die Nicht-Zwangsrekrutierung von Ausländern in Zeiten der Wehrpflicht auch ausländerfeindlich? Nur mal so, aus Kriegsdienstverweigerersicht (mit Zwangs-Ersatzdienst) gefragt.
Besonders merkwürdig ist, dass ausgerechnet Niggemeier, der nun wirklich mit seinem Adlerauge in jeder Suppe ein Haar findet, in seiner Persiflage das BILD-Wort von den “Ausländern” übernimmt. Dabei hätte er doch formulieren können: “Schweden raus aus deutschen Parteien”. Denn die Bedingungen für eine SPD-Mitgliedschaft sind nicht nur der Staatsangehörigkeit gegenüber egalitär, sondern auch dem Wohnsitz. Wie man nun aber das schwedische SPD-Mitglied, das in Schweden lebt, als “Ausländer” bezeichnen kann, wäre noch zu erläutern.
Nur als vorsichtige Hilfestellung: die Mitgliedschaftsbedingungen für einen Verein sind das eine, die Staatsbürgerschaftsrechte das andere. Oder fühlt sich Kollege Niggemeier diskriminiert, weil er nicht in Schweden wählen darf, nur weil er Deutscher in Deutschland ist (was wir nur vermuten, nicht wissen)?
Nochmals: Jeder darf dafür eintreten, dass jeder in Deutschland wählen darf. Wie man überhaupt für alles eintreten dürfen sollte. Es macht nur den BILD-Artikel weder zur Quatsch noch zu Hetze.
2. Erik Marquardt, Die Grünen
Wo ist hier der Widerspruch? Einmal will Scheuer wohl ein traditionelles Familienbild bewahren, im anderen Beitrag betont der CSU-Politiker, dass (viele) Flüchtlinge nur vorübergehend in Deutschland leben sollen (solange Schutz notwendig ist) und er daher für diese Fälle gegen Familiennachzug ist.
Das kann man nun politisch völlig anders sehen, aber die beiden Aussagen von Scheuer widersprechen sich nicht. Die neuere Aussage widerspricht schlicht dem, was Erik Marquardt für richtig hält. Aber auf dem Level kann man natürlich nicht diskutieren (und Politik machen). Aber es gibt 4.000 Likes