Gagajournalismus ist eine zwangsläufige Evolutionsstufe des kapitalistischen Nachrichtengeschäfts: geringste Produktionskosten und ein selbst generierter Absatz des Plunders, das freut das Haus. Warum sich die Medienkritik gleichwohl immer mal wieder mit diesen Produkten beschäftigen sollte: weil dieser Produktionsstil vermutlich gelegentlich auch für die angeblich höherwertigen Beiträge eingesetzt wird. Heutiges Fallbeispiel: die Skandalisierung eines popeligen Blogbeitrags, den zwar so gut wie niemand zur Kenntnis genommen hat, der sich aber für eine ganze Reihe von Gagaartikeln hervorragend eignet.
Das Mini-Ereignis: Hardy Prothmanns “Rheinneckarblog” (RNB) brachte in den sehr frühen Morgenstunden des letzten Sonntags einen Bericht über einen angeblichen Terroranschlag in Mannheim – den “bisher größten in Westeuropa”. Nach einer Reihe leicht wirrer Details über Tote und Verletzte, Tatorte und blockierte Nachrichtenkanäle bricht der Text mit der Fiktion:
Auf Rückfrage unserer Kontakte bestätigen uns alle Sicherheitsbehörden, dass es bislang nur eine abstrakte Gefährdungslage gegeben habe. Konkrete Hinweise auf Anschläge in Mannheim habe es nicht gegeben.
Wenn Sie bis hierhin gelesen haben, hatten Sie den Eindruck, dass Sie gut informiert worden sind. Das sind Sie. Über mögliche Entwicklungen.
Wir berichten immer aktuell und immer auch vorausschauend. Ein Anschlag dieses Ausmaßes in Mannheim? Undenkbar? Natürlich ist das denkbar – oder waren frühere Anschläge in anderen Städten “undenkbar”?Selbstverständlich wären die Mannheimer Sicherheitsbehörden gegenüber einem Anschlag von 50 Mördern in Zweierteams vermutlich eine ganze Zeitlang komplett unterlegen – und dass, obwohl die Mannheimer Polizei sehr effizient organisiert ist.
Das gilt für jede Stadt in Europa. Bislang kennen wir überwiegend nur Einzeltäter oder kleine Gruppen von Tätern wie in Paris, Brüssel oder London. […]
Kleines, nun von vielen für besonders wichtig erachtetes Detail zur Artikelpräsentation noch: der zitierte Passus war nur für Kunden lesbar, also hinter einer sog. Paywall.
Was Prothmann mit dem Text bezweckte, ist hier eigentlich irrelevant, aber wer zu eigenen Spekulationen anheben möchte sollte die Erläuterung dazu vielleicht doch einmal zur Kenntnis nehmen.
Die publizierte Kritik richtet sich derzeit vor allem auf drei Aspekte, die wir mal so zusammenfassen wollen:
a) Das Verbreiten von “Fake-News” ist grundsätzlich tabu (und um “Gonzojournalismus”, wie von Prothmann behauptet, handelt es sich nicht, hat das Oberkorrektorat herausgefunden.
b) Wer dennoch Falschnachrichten verbreiten will (wie etwa heuteshow oder Titanic), der braucht dafür eine Genehmigung des Deutschen Journalistenverbands muss diese hinreichend als solche kennzeichnen. Dies war laut Meedia-Gerichtsurteil nicht der Fall: “Die Art und Weise, wie der Artikel verfasst ist, lässt jedoch eine eindeutige Kennzeichnung als Falschnachricht für den Leser vermissen.”
c) Die Veröffentlichung von erfundenen Geschichten muss im Internet gratis erfolgen. Wer beabsichtigt, mit seiner Story Geld zu verdienen, indem er fürs Lesen etwas verlangt, darf sie nicht öffentlich bewerben (“anteasern”).
Das einzige, was ernsthaft bemühte Medienkritiker an der Sache wirklich erschüttern sollte: dass kein einziger Journalist, der über Prothmanns Quatsch-Story geschrieben und sie bewertet hat, diese komplett gelesen hatte, solange sie noch nicht frei zugänglich war. So behauptet es Hardy Prothmann jedenfalls, und da es sich mit vielen eigenen Beobachtungen deckt, bezweifeln wir das im Moment nicht. Dass journalistische Recherche ernsthaft an einer Paywall endet (die gar nichts kostet, weil man nach der Registrierung 30 ‘Tage unverbindlich testen darf, ob man die 4,80 EUR pro Monat zahlen möchte) ist der wirkliche Skandal, der echte “Bärendienst”, von dem so viele Selbstinszenierer im Zusammenhang mit der RNB-Story sprechen.
* Der Text “Massiver Terroranschlag in Mannheim” hätte kaum irgendwelche Aufmerksamkeit bekommen und mithin auch keine Irritationen oder sonstwas ausgelöst, wenn nicht andere Journalisten (ihrem Erwerbstrieb folgend) darin ein Skandalpotential gesehen hätten. Dass ein, zwei, drei besorgte Bürger bei der Polizei angerufen haben sollen zeugt im Zweifel wirklich nur von Medieninkompetenz, die nicht zur Messlatte werden darf.
* Kritik “von oben” wie etwa vom Eigen-PR-Spezialisten Frank Überall ist nicht gaga, sondern bäh. Der DJV-Vorsitzende hatte gegenüber Dlf24 per E-Mail verkündet: “Der Rhein-Neckar-Blog hat dem Journalismus einen Bärendienst erwiesen. Der Text wurde ohne klare Kennzeichnung als Satire veröffentlicht. Es wurde sogar eine fiktive Nachrichtensperre erwähnt, so dass man den Eindruck
gewinnen sollte, Klarstellungen von Polizei und Behörden seien nicht ernst zu nehmen. Das hat mit Journalismus nichts zu tun. Medien können und sollen gerne auch zugespitzte Debattenbeiträge veröffentlichen. Das muss dann aber klar erkennbar sein. Die Bevölkerung mit einem derart realistisch beschriebenen Horrorszenario zu konfrontieren, ist allenfalls politischer Aktivismus, der geeignet ist, das Vertrauen in die Medien und ihre Macher nachhaltig zu gefährden.”
* Zur Nachrichtenfabrikation herangezogen wird wie üblich die ermittelnde Staatsanwaltschaft (genau genommen prüft sie zunächst, ob sie ermitteln wird) und der ebenfalls schwer ermittelnde Presserat. Beides ist nach allen Regeln der journalistischen Kunst grundsätzlich keine Nachricht, wird aber als Beleg für die inszenierte Skandalisierung genutzt.
Update: Das nun öffentlich bekanntgegebene Ermittlungsverfahren muss weiterhin kein journalistisches Interesse wecken, weil es sicherlich im Sande verlaufen wird. Aber wer mag, kann sich natürlich mit der Groteske daran beschäftigen. Wenn jeder Quatsch-Text im Internet künftig von einer Staatsanwaltschaft verfolgt wird – gute Nacht!
* Besonders perfide ist die Kritik, die Auflösung der Story sei hinter einer Paywall verborgen gewesen und damit nur für wenige Leser sichtbar. Wer möchte, kann eine versuchte “Bauernfängerei” kritisieren, sollte aber zur Kenntnis nehmen, dass sie – wenn je gewollt – gewaltig in die Hose gegangen ist, denn laut Prothmann gab es trotz des Riesenwirbels keine Neukunden-Registrierungen.
Aber ganz unabhängig davon ist das völlig normaler Stil. Oder darf man sich auch beklagen, dass die Kekse auf der Verpackung so lecker aussehen, man sie zum probieren – also um das Ende der Story zu erfahren – kaufen muss, weil sie hinter einer (leicht aufzureißenden) Paywall versteckt sind? Alle größeren Medien ködern Kunden über Vorabmeldungen, die von anderen Medien veröffentlicht werden. Der Clou fehlt regelmäßig, sonst gäbe es ja keinen Anreiz mehr zum Kaufen, Einschalten, Lesen, Klicken… Aber in einer Zeit, da das führende Medienwatchblog sich ungeprügelt darüber echauffieren kann, dass Verlage überhaupt Geld für Artikel verlangen und nicht alles kostenlos freihaus zustellen…
Allerdings lässt sich beim RNB über das verwendete Bezahlsystem von Steady der “verborgene” Text immer noch gut lesen – jedenfalls beim Testen anderer Beiträge, und so war zumindest der entscheidende Teil für jeden sichtbar, der sich etwas Mühe gibt. Im Bild dokumentiert (mit einem anderen Text):
a) Normaler Screenshot, Text schwach zu erkennen (aber mit gesunden Augen noch gut lesbar)
b) Exakt dieser Screenshot, in Ph0toshop einfach die Helligkeit reduziert (ohne Kontrastveränderung)
Die Skandalisieurngsversuche gegen das verwendete Bezahlsystem machen ein bekanntes Problem der Digitalisierung überdeutlich: weil eine plattformunabhängige Bezahlung nicht möglich ist wie im analogen Leben mit Bargeld, sind Inhalte-Anbieter vom Goodwill der Geldvermittler abhängig. Für jedes einzelne Geschäft ist das nachvollziehbar (Vertragsfreiheit), im Summenergebnis aber ist es fatal.
Äußerst bedenklich in dem Zusammenhang sind Journalisten, die als Aktivisten auftreten und vom Bezahlsystem Steady bzw. konkret dessen Geschäftsführer Sebastian Esser “Konsequenzen” gegen den Rheinneckarblog fordern, also letztlich die Geschäftsgrundlage zu entziehen. (Esser: “Wenn wir uns von einem Kunden trennen, entfällt ein Teil seiner Existenzgrundlage.”)
Vergleichbar wäre, von der Post zu verlangen, Briefe bestimmter Inhalte, Absender oder Empfänger nicht zu transportieren.
* Der sehr geschätzte Kollege Daniel Bouhs bringt das Problem auf den Punkt – allerdings nicht das Problem des RNB, sondern des Medienjournalismus:
Es reden praktisch alle nur über ihn und seine irre Aktion.
(Kommentar auf taz.de am Montag)
Warum nur? Prothmann selbst kann ja wohl kaum das Thema sein, auch wenn er schon lange journalistisch aktiv ist. Thema kann nur der Medienmechanismus sein, mit dem eben dieser lokale Blog plötzlich bundesweit Aufmerksamkeit bekam. Nein: Nicht der Blog beschäftigt andere Medien, andere Medien beschäftigen sich mit dem Blog – weil sie damit im Gegensatz zum Blog Geld verdienen. Und da kommt vieles zusammen, nicht zuletzt das weithin gebrummelte “Größenwahn” Richtung Blogger, was ja nur heißt: “Wir große Profis, du kleine Wurst”.
Kommentierungen:
Prothmann, der Orson Welles für Arme aus Mannheim, sollte sich einen anderen Job suchen. Mit Journalismus hat das, was er macht, nichts mehr zu tun. Er ist an seiner eigenen Arroganz gescheitert.
(Stefan Laurin, Ruhrbarone)
Die RNB-Kommunikation mit Kritikern kommt nicht gut an:
Der “Rheinneckarblog” sagt damit alles über…
… sich.
…sein Verständnis von Journalismus.
…seinen Umgang mit dem Publikum. pic.twitter.com/CjHG8pHxAF— Daniel Bouhs (@daniel_bouhs) 25. März 2018
Liebesgrüße aus dem Federhalter (digital): Prothmann ist eine Schande
+
Ich bin aber nur ein freier Journalist, der sich arg mühen muss, dass viele tausende Menschen, die meine Arbeit nutzen, endlich mal bereit sind, dafür auch zu bezahlen.
Hardy Prothmann am 24. März 2018 auf Facebook
+
Anfang Januar gab es in Eberbach, Rhein-Neckar-Kreis, einen Schulbus-Unfall. Ca. 40 verletzte, blutende Kinder wurden mittels 2 Linienbussen der Stadtwerke Eberbach ins GRN-Klinikum in Eberbach transportiert.Laut Innenministerium Baden-Württemberg muss jeder Rettungsdienstbereich in der Lage sein, bei einem Massenanfall von Verletzten (MANV) 50 Verletzte versorgen und transportieren zu können. Es ist ganz exakt vorgeschrieben, mit welchen Rettungsfahrzeugen –mit welchen qualitativ ausgebildeten Rettungsfachkräften die Rettungsfahrzeuge besetzt sein müssen.Linienbusse und Busfahrer gehören nicht dazu.Bereits 2014 hatte die Staatsanwaltschaft Mannheim ein Prüfverfahren gegen die Rettungsleitstelle Ladenburg eingesetzt, dieses wurde eingestellt, die Hilfsfrist, wie auch sonst alle Gesetze würden eingehalten. Das stimmte jedoch nicht. Bis heute werden die Hilfsfristen nicht eingehalten, 2016/2017(?) wurde bekannt–eingeräumt vom DRK selbst,dass viele Rettungswagen für Krankentransporte “missbraucht” würden, weil sehr viele Krankentransportwagen fehlten. Die Wartezeit auf einen Krankentransport betrug bereits 2010 mehrere Stunden. –Sollte die Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft Mannheim vom 8.1.2015 eine “Fake-News” gewesen sein (meine Petition dazu beim Landtag in Stuttgart läuft noch), könnte diese allerdings Mit-Auslöser für die Missstände—und evtl. den Einsatz der “illegalen, evtl. unhygienischen Linienbus-Krankentransportwagen” in Eberbach sein.Herr Prothmann läßt mich immer zu seinen Texten kommentieren–das könnte der Staatsanwaltschaft Mannheim nicht gefallen….Spiegel online hat am 7.5.2010″”Das Millionenspiel–TV brutal” veröffentlicht. Da wurden tagelang Auftags-Killer auf einen Kandidaten gehetzt mit dem Ziel, den Kandidaten zu töten. Zuschauer wurden dazu aufgerufen, mitzuhelfen….Zu keiner Zeit wurden die Zuschauer darüber aufgeklärt, dass es sich um ein fiktives Spiel handelt. Es wurde zum Skandal…lesen Sie die Zuschauerkritik…Gab es damals ein Ermittlungsverfahren gegen den WDR oder gegen Dieter Thomas Heck?–Was ist los mit der Staatsanwaltschaft Mannheim?
Pingback: Nur Psychopathen
So funktioniert es eben, wenn sich jemand selbst gekonnt zur Wurst macht und gar nicht mal mehr merkt, dass er schon längst gescheitert ist.
Hardy Prothmann ist für die Lokalblogszene so etwa wie Yotta für Pro7 und Bild gewesen. Irgendwann verschwinden sie alle mal in der Bedeutungslosigkeit.