Rentner ausgebüxt – Medien amüsieren sich

Gegen 03.00 Uhr kümmerte sich eine Streife um zwei betagtere Herren, die an dem Metal-Festival offenbar Gefallen gefunden und sich aus einem Dithmarscher Altenheim auf den Weg gen Wacken gemacht hatten. Natürlich vermisste man sie in ihrem Zuhause und organisierte rasch einen Rücktransport, nachdem die Polizei die Senioren aufgegriffen hatte. Die Männer machten sich allerdings nur widerwillig auf den Heimweg, so dass ein Streifenwagen das beauftragte Taxi vorsorglich begleitete.

Das vermeldete die Polizei Itzehoe am Morgen des 4. August 2018. Und sie regte – Wochenende, Hitze, Sommerloch – zahlreiche wörterverarbeitende Betriebe zur bunten Kolportage an. Was dabei der nachrichtliche Kern sein soll, lässt sich am ehesten anhand der lockeren Teaser bei Facebook und Twitter erahnen.

Auch Überschriften sind gelegentlich intentional offenbarend:

Die Story also irgendwie: zwei Tattergreise wollten zum (oder waren beim)* Heavy-Metal-Festival in Wacken, anstatt in ihrem Altenheim zu bleiben. Aber die Polizei hat’s wieder geradegebogen.

Anders als die  Storymaschinen in den wörterverarbeitenden Betrieben haben viele Kunden gepflegter Unterhaltung zur Ausgangsmeldung der Polizei eine klare Rückfrage: wie ist das rechtlich möglich? Dürfen Bewohner ihre Altenheime nicht verlassen, wann sie wollen? Genießen sie keine Freizügigkeit, dürfen kapitalistische Wohnstättenbetreiber und ordnungshütende Polizisten beliebige Freiheitsbeschränkungen auferlegen? Ein großer Teil der kommentierenden User ist jedenfalls empört – und das in jedem Fall zurecht, denn die verbreitete Geschichte ist äußerst unvollständig und einseitig. Dabei gilt wieder einmal: wer die Sache für so belanglos hält, dass das journalistische Grundgebot, auch die andere Seite zu hören und insbesondere bei polizeilichen Zwangsmaßnahmen nach ethischen und rechtlichen Verstößen zu suchen, vernachlässigbar erscheint, der sollte auf die Verbreitung komplett verzichten und diese der Polizei überlassen.

Wer aber eine so unvollständige und einseitige Darstellung publiziert, sorgt für Desinformation und prägt Bilder, die so oder so wohl höchstens teilweise mit der Realität zu tun haben. Wenn sich zudem der öffentlich-rechtliche Rundfunk als Pressesprecher der Polizei geriert, anstatt unabhängig aufzuklären, ist der Journalismus wohl komplett ausgebüxt.

* web.de dichtet mutig: „Um drei Uhr morgens sind zwei Rentner auf dem Wacken Open Air aufgegriffen worden. Dort hat es ihnen offenbar so gut gefallen, dass sie gar nicht mehr weg wollten.“
SVZ.de dichtet: „Ein Einsatz wird den beteiligten Beamten bestimmt länger im Gedächtnis bleiben: Am Samstagmorgen gegen 03.00 Uhr erwischten sie zwei ältere Männer, die sich aus einem Dithmarscher Altenheim unerlaubt auf den Weg nach Wacken gemacht hatten.“

Ergänzungen & Updates

Spiegel.de wusste zwar von einer „verrückte[n] Irrfahrt der Heavy-Metal-Rentner“ zu berichten, konnte oder wollte aber wichtige Rückfragen der Leser nicht beantworten:

Auch am  Montag (6. August) hat der öffentlich-rechtliche Rundfunk noch nichts Substantielles beizutragen (jedenfalls haben wir nirgends etwas gefunden) und ergeht sich in der Nacherzählung einer kleinen  Polizeigeschichte:

+ Die Facebook-Redaktion von  NDR Schleswig-Holstein hat auf Kritik wie  folgt reagiert (6. August, 15:50 h):

wir arbeiten nach festen Regeln und recherchieren gewissenhaft. Bei Meldungen dieser Art beziehen wir unsere Informationen aus Primärquellen – in diesem Fall von der Polizei. So eine Meldung ist üblich für den Beginn einer Berichterstattung – genauso wie weitere Recherchen und das Prüfen weiterer Quellen. Auch wir haben in diesem Fall noch Fragen an die Beteiligten gehabt, auf die wir erst jetzt Antworten erhalten haben: NDR.de/nachrichten/schleswig-holstein/heimbewohner100.html

+ taz Nord hat das Thema medienkritisch aufgegriffen.

Jean-Philipp Baeck schreibt: „Die Entmündigung scheint selbstverständlich, medial herrschte Einvernehmen. Korrigiert wurde dieser Eindruck in einem seltenen Anfall von Vernunft in den Online-Kommentarspalten.“

Doch so selten ist Vernünftiges unter den User-Kommentaren gar nicht. Jedenfalls nicht seltener, als sich geistreiches unter Journalisten-Tweets findet, um es mal provokant zu sagen. Kritische Rückfragen wie hier in diesem Fall gibt es regelmäßig. Und natürlich könnten die Medien die unliebsamen Nestbeschmutzer der Medienkritik etwas kontinuierlicher im Blick behalten.

Baeck jedenfalls zeigt, wie man ohne großen Aufwand schon mal eine außerpolizeiliche Einschätzung einholen kann:

Für den Juristen Peter Winterstein sind das die richtigen Fragen. Er war Vizepräsident des Oberlandesgerichts Rostock und kümmert sich als Vorsitzender des „Betreuungsgerichtstages“ um Fragen betreuungsrechtlicher Praxis. Auch er wundert sich über die Medienberichte. „Von alten Menschen wird erwartet, dass man sie bevormundet. Das ist völlig falsch“, sagte Winterstein der taz.

Das wäre der Job der Nachrichtenagenturen gewesen, die die Polizeimeldung weiterverbreitet haben. Und wo schon Redaktionen zentralisiert werden wie beim „RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND)“, sollte man um so gründlichere Recherche erwarten, wenn  hernach dutzende Blätter und Websites mit denselben journalistischen Ruhmestaten  bestückt  werden. Doch auch RND hat nicht recherchiert.

Und noch ein Zitat aus dem taz-Beitrag sei gestattet:

Für Rolf Dieter Hirsch, Gerontopsychiater und früher Chefarzt der Rheinischen Kliniken Bonn, ist der Fall und vor allem die Berichterstattung darüber keine Überraschung. „Leider ist es gesellschaftlich fast selbstverständlich, dass man alle ab einem bestimmten Alter für verwirrt hält.“

Das ist genau der Vorwurf, den wir den Meldungsverbreitern gemacht haben: dass sie die Nachricht in die Rubrik „Buntes“ einsortiert haben, den beschriebenen Vorgang irgendwie lustig/ skurril fanden, aber nicht im Ansatz erkannt haben, was das journalistische Thema daran sein könnte. Anekdoten aus ihrer Arbeit kann die Polizei ganz alleine erzählen – und das macht sie inzwischen ja auch erfolgreich. Für diejenigen, die gerade von Michael Jürgs wieder als „vierte Säule der Demokratie“ bezeichnet worden sind, gibt es anderes zu tun. Muss sich nur noch jemand finden, der arbeiten will.

+  Ach du Schreck, öffentlich-rechtliche Aufklärer arbeiten nun international zusammen: die BBC hat die lustige Geschichte (schlecht = fehlerhaft) gecovert: „Think you’re too old for moshing? Then spare a thought for the two elderly gentlemen who escaped from a German care home and were found at a heavy metal music festival.“ Aber der NDR, auf den sich die BBC bezieht, hat ja nur die Polizeimeldung aufgehübscht verbreitet…

+ Bei NDR.de ist die Meldung am Abend des 6. August nochmal aktualisiert worden. Darin heißt es nun: „Nach NDR Informationen stehen beide unter rechtlicher Betreuung.“ Rechtliche Betreuung – eine nicht unumstrittenes Regelung übrigens, also mit viel Potential für journalistische Arbeit –  ersetzt aber noch nicht das Selbstbestimmungsrecht. Die gemeindenahe Koordinierungsstelle für Psychiatrie in der Kreisverwaltung des Rhein-Pfalz-Kreises erläutert dazu (wie gleichlautend andere  Betreuereinrichtungen):

Betreuung dient dazu, Rechtshandlungen im Namen des Betreuten zu ermöglichen, die dieser selbst nicht mehr vornehmen kann, und wird zeitlich und sachlich für entsprechende Aufgabenkreise beschränkt. Die Betreuung wurde durch das am 1. Januar 1992 in Kraft getretene Betreuungsgesetz geschaffen. Rechtliche Betreuung ist keine soziale, pflegerische oder gesundheitliche Betreuung. […] Gegen den Willen des nicht zur freien Willensbestimmung fähigen Betreuten, also des juristisch nicht entscheidungsfähigen Betreuten, darf im Grundsatz nur gehandelt werden, wenn eine erhebliche Gefahr nicht anders abgewendet werden kann. Ein Handeln gegen den Willen des nicht entscheidungsfähigen Betreuten aufgrund bestehender erheblicher Selbstgefährdung ist aber dann nicht statthaft, wenn der Betreute dem mit mutmaßlichem Willen nicht zustimmt. Ein Handeln gegen den Willen des nicht entscheidungsfähigen Betreuten aufgrund nicht bestehender erheblicher Selbstgefährdung ist nur erlaubt, wenn sicher ist, dass der Betreute dem im Nachhinein zustimmen wird.

+ Zwischenfazit. Was haben wir also nach den bisherigen Berichten? Zwei unter 60-Jährige (also keine Rentner,  Opas…) haben sich selbständig von ihrem betreuten Wohnen Richtung  Festival Wacken aufgemacht, sind dort auch angekommen, haben das Festivaltreiben womöglich aber nur außerhalb des Geländes erlebt (weil sie keine Eintrittskarten hatten) und wollten dann mit dem Bus zurückfahren. Beim Warten hat sie die Polizei aufgrund einer Meldung des Wohnheims aufgegriffen und schließlich nach Hause gebracht.
Hm. Immer noch Fragen offen, möglicherweise aber einfach gar keine Geschichte, jedenfalls keine ulkige von Metal-Opas, die nicht rechtzeitig im Schlafsaal zurück waren.
Und so klein die Geschichte auch ist: der sorglose Umgang mit Recherchefragen lässt immer wieder auf ein sehr erschreckendes Berufsverständnis blicken. Wer anderen die Welt erklären will, sollte sie erstmal selbst begreifen. Dazu ist Fragen zu stellen und Antworten zu suchen ein probates Mittel.

+ RND korrigiert die Meldung ein wenig (7. August, 14:12 Uhr), schiebt den Fehler aber der Polizei zu, nicht etwa der eigenen Rechercheverweigerung.

Doch nun hat die Polizei ihre Angaben korrigiert – die Senioren seien desorientiert und hilfsbedürftig gewesen.

In der Tat enthielt die ursprüngliche Mitteilung der Polizei falsche und ungenaue Angaben, die von Redaktionen aber mutig weitergesponnen wurden, anstatt sie zu konkretisieren. So nannte die Polizei die von ihrem Handeln Betroffenen „betagtere Herren“ und „Senioren“, später hieß es, sie seien „knapp 60“, was heute kaum als „betagt“  gelten dürfte. Dass man nach dem Alter fragt, um überhaupt die „Fallhöhe“ der vermuteten Unterhaltungs-Story zu ermitteln kam offenbar keinem Journalisten (m/w) in den Sinn.

+ Okay, Rockmusik ist Kunst ist Fiktion ist Gonzo oder so: drei Falschbehauptungen in eine Überschrift zu packen ist schon ein Kunststück:

+ Festhalten: Nach nur drei Tagen Hardcore-Recherche zeigt die Welt, warum sie zu den Qualitätszeitungen zählt. Das Stück verdient als Benchmark eine vollständige Autopsie:

Senioren hauen aus Altenheim ab, weil sie zum Wacken-Festival wollen

Nach Angaben der Polizei sind die beiden noch keine 60 Jahre alt, damit wären sie wohl keine Senioren. Das sollte die Polizei korrigieren.

Am Wochenende rockten rund 75.000 Metal-Fans das Wacken Open Air. Besonderes Kuriosum bei der diesjährigen 29. Auflage: Zwei Senioren sind aus dem Altenheim ausgebüxt, weil sie zum Festival wollten.

„ausgebüxt“? Sie standen also unter  irgendeiner Form von Arrest? Neu recherchiert von  der Welt. Auch innvoativ: die Ermittlung eines persönlichen Willens ohne jeden Kontakt zu den Personen. Telemotivforschung oder so

Die Polizei musste sie nach Hause begleiten.

musste

Dass man zum Rocken nie zu alt ist, beweisen zwei Senioren aus einem Altenheim in Dithmarschen.

Jetzt amtlich: Unter 60-Jährige noch nicht zu alt zum Rocken (auch wenn sie nicht Rocken, s.u.).

In der Nacht auf Samstag gegen drei Uhr griff die Polizei die Männer außerhalb des Festivalgeländes auf. Die Senioren marschierten zu Fuß von Dithmarschen aus ins rund 40 Kilometer entfernte Wacken auf das Heavy-Metal-Festival, wie die zuständige Polizeibehörde Itzehoe mitteilte.

Recherche zahlt sich aus. Denn von dem Fußmarsch wusste bisher niemand zu berichten, fast wirkte es, als sei ein Bus im Spiel gewesen. Und im „Altenheim“ sind die sen(i)oren Sportskanonen offenbar under cover. Wir freuen uns auf eine ausführlichere Darstellung im Sportteil

Polizeisprecherin Merle Neufeld sagte gegenüber NDR 1: „Sie hatten an dem Metal-Festival offenbar Gefallen gefunden. Allerdings wirkten die beiden desorientiert und apathisch.“

Hier würde man sich natürlich noch einen erläuternden Satz wünschen, wie es zu den beiden Befunden kam. Etwa: Auch im Gespräch mit der Welt sagten die alten  Kracher „Es war eine tolle Atmosphäre, aber nachts um 3 waren wir dann doch etwas desorientiert und hatten nicht mehr so richtig Bock zum Rocken“.

Die Beamten informierten daraufhin das Altenheim, wo man die beiden bereits vermisst hatte.

Sehr gut. Andere Medien  haben die Reihenfolge vertauscht: danach wäre die Polizei  quasi auf Befehl des Altenheims tätig geworden, was ja absurd wäre.

Ein vom Altenheim bestelltes Taxi sollte die Rock-Opis wieder nach Hause fahren.

Wieviel Rock hatten sie denn jetzt genau? Kollegen wissen zu berichten, die Opis seien  gar nicht auf dem Festival gewesen, sie hätten quasi nur die Begleitparty im Ort Wacken genutzt.

Die Veranstalter sowie die Polizei zogen eine positive Bilanz des Festivals. Jedoch merkwürdig: Wacken gleicht traditionell immer einer Schlammschlacht. Bei Temperaturen von mehr als 30 Grad war es in diesem Jahr eher eine Hitzeschlacht.

gut beobachtet und wichtig zu notieren: Dauerhitze, Dauertrockenheit, und dann noch nicht einmal ein Schlammbad – da kommen ja drei Dürren auf einmal.

Und dass die Welt-Story den Kram mit psychatrischem Heim und Betreuung weglässt, ist mal ein fairer Respekt gegenüber den Persönlichkeitsrechten der jungen Opis.

+ Und nochmal der Hinweis, zur Grundsatzkritik an blinder und schneller Übernahme von Polizeipressemitteilungen auf unsere Kommentierung und ausführliche Dokumentation der journalistischen Fehler bei Hitzacker (Wendland).

+ Und als kleine Übung für die Redakteure: Wir  haben noch einen  „älteren Herrn“ in Wacken  entdeckt, sogar auf dem Festival-Gelände. Von polizeilicher Betreuung ist uns allerdings nichts bekannt, evtl. hat sich dieser Herr Otto jünger gemacht als er ist.

+ Spiegel-Online ergänzte irgendwann unter dem Beitrag:

In einer früheren Version dieses Artikels fehlten wesentliche Informationen der Polizei vor allem zum persönlichen Hintergrund der beiden Männer. Diese wurden erst mit einiger Verzögerung bekannt. Insbesondere die zunächst nicht bekannte Tatsache, dass die beiden Männer psychisch krank sind und unter rechtlicher Betreuung stehen, hat dazu geführt, dass die Meldung zunächst unangemessen augenzwinkernd intoniert war und zudem die Frage aufgeworfen, warum die Polizei die beiden überhaupt ins Heim zurückbringen durfte. Wir haben den Artikel inzwischen korrigiert.

Was Spiegel-Online nicht deutlich sagt: es fehlten nicht Informationen der Polizei, es fehlte journalistische Arbeit. Alle Fragen lagen auf der Hand – und sind weiterhin nicht beantwortet. Denn dass jemand unter „rechtlicher Betreuung“ steht, bedeutet noch keine Entmündigung (wie es früher hieß). Vielmehr hat ein Betreuer nach dem Willen des Betreuten  zu forschen und entsprechend zu handeln. In §1901 BGB heißt es dazu u.a.:

„(2) Der Betreuer hat die Angelegenheiten des Betreuten so zu besorgen, wie es dessen Wohl entspricht. Zum Wohl des Betreuten gehört auch die Möglichkeit, im Rahmen seiner Fähigkeiten sein Leben nach seinen eigenen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten.
(3) Der Betreuer hat Wünschen des Betreuten zu entsprechen, soweit dies dessen Wohl nicht zuwiderläuft und dem Betreuer zuzumuten ist. Dies gilt auch für Wünsche, die der Betreute vor der Bestellung des Betreuers geäußert hat, es sei denn, dass er an diesen Wünschen erkennbar nicht festhalten will. Ehe der Betreuer wichtige Angelegenheiten erledigt, bespricht er sie mit dem Betreuten, sofern dies dessen Wohl nicht zuwiderläuft.“

 

 

 

2 Gedanken zu „Rentner ausgebüxt – Medien amüsieren sich

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