Claas Relotius – Linksammlung zu einem Medienskandal

Der SPIEGEL und zig andere Medien haben unwahre Geschichten des Reporters Claas Relotius veröffentlicht. Gerade für den SPIEGEL mit seiner berühmten “Dokumentationsabteilung”, die angeblich penibel jedes Detail in einem Beitrag vor Veröffentlichung prüft, ist das extrem peinlich. Redakteur Claas Relotius hat zugegeben, in seinen Reportagen  kleine und große Dinge schlicht erfunden zu haben. Weil der Skandal für die gesamte Branche relevant ist, dokumentieren wir hier einige Veröffentlichungen dazu (wird fortlaufend aktualisiert). Zunächst die wichtigsten Neuerungen, dann Beiträge in betroffenen Medien selbst, danach einige besonders interessante Resonanzen. Besonders wichtige/ lesenswerte Beiträge kennzeichnen wir (vorübergehend) rot. Für Hinweise, insbesonders zu als falsch identifizierten Texten, sind wir dankbar. 

+ Die Offenbarung: SPIEGEL legt Betrugsfall im eigenen Haus offen (Ullrich Fichtner, 19.12.2018)
Kritik an diesem reportagenhaft geschriebenen Stück (der wir uns völlig anschließen können): “Fühlen, was sein könnte” (Salonkolumnisten, 19.12.2018). Auszug:

>>[…]   ein Text, der für einen Außenstehenden völlig unerklärlich ist und Insider fassungslos machen muss. „Kurz vor dem Ende seiner Karriere kommen sich Glanz und Elend im Leben des Claas Relotius einmal ganz nah“, steht da. Ein sehr schöner Satz. Ein Romansatz. Der passende Einstieg in eine Reportergeschichte, in der wir die Büronummer von Claas Relotius erfahren und nach einer 40.000 Anschläge oder 20 Din-A4-Seiten langen Reise durch Relotius‘ beste Fake-Reportagen wiederum mit einem schönen Satz verabschiedet werden.<<

Aktuelle Entwicklungen: 

Wir dokumentieren inzwischen nicht mehr aktuell, sondern nur noch größere Erkenntnisse. 

+ Der designierte stellvertretende Chefredakteur Ullrich Fichtner lässt ebenso wie Ressort-Chef Matthias Geyer seinen Vertrag einstweilen ruhen. Chefredakteur (ab 1. Januar) Steffen Klusmann: Ich habe daher mit Matthias und Ullrich verabredet, dass wir ihre neuen Verträge erstmal aussetzen und ruhen lassen, bis die Kommission den Fall abschließend untersucht hat.” Nach den Branchengepflogenheiten wird man dies als Abgang deuten können. (28.12.2018)

+ Im SPIEGEL-Blog, wo gerne juristische Erfolge der Verteidigung von Beiträgen verlautbart werden, ist bisher nichts zur peinlichen Causa Relotius erschienen. Auch öffentliche Pressemitteilungen sucht man vergeblich. (28.12.2018)

+ Die Website “amerika21” sieht auch Fehler in Relotius-Berichten über Kuba, die auf einer Reise im Februar und März 2013 beruhen. Dieser Arbeitsaufenthalt sei durch ein Stipendium der Heinz-Kuehn-Stiftung, einer Einrichtung der Landesregierung von Landes Nordrhein-Westfalen, finanziert worden. Das Magazin Cicero (siehe unten) habe daraufhin den Relotius-Text “Er ist der erste Steuerberater des Inselsozialismus” vom Netz genommen. (25.12.2018)

+ Eine Relotius-Reportage  in der Schweizer “TagesWoche”  im Jahr 2012 berichtet von einer Tagung traumatisierter Kriegsveteranen in Sarajevo – doch die hat es offenbar nie gegeben. (23.12.2018)

+ Das Fälschen hat Relotius offenbar nicht erst begonnen, als er den Druck des Erfolges nicht mehr ausgehalten hat, wie er dem SPIEGEL erklärte. In seiner Kurzbiografie der Hamburg Media School gibt er an, Beiträge im Guadrian veröffentlicht zu haben. Die britische Zeitung bestreitet dies jedoch (NZZ am Sonntag).

+ Zum Vorwurf der Täuschung / Erfindung bei seinen Texten kommt nun noch der Vorwurf Betrug oder Unterschlagung von Spendengeldern (22.12.2018)
Claas Relotius bestreitet allerdings, Spenden veruntreut zu haben (PM seines Anwalts Michael Philippi, 27.12.2018, via Spiegel als pdf). Er habe die Spenden  sogar  aufgestockt und an die Diakonie Katastrophenhilfe überwiesen. Gleichwohl wolle er allen Spendern ihr Geld zurückzahlen.

+ Die Süddeutsche Zeitung hat die beiden bei ihr veröffentlichten Interviews von Claas Relotius am   20.12.2018 aus den Archiven genommen. (Gut, wer sein eigenes Archiv hat)

+ Der SPIEGEL hat einen ersten Relotius-Text vom Netz genommen: die erfundene Reportage über die US-Kleinstadt Fergus Falls (s.u.)

 

Betroffene Medien: 

Nach derzeitigem Er- oder Bekenntnisstand sind in folgenden Medien Beiträge von Claas Relotius erschienen, die Erfindungen enthalten und mithin die Qualitätskontrolle passiert haben. In Klammern die Anzahl der (nach eigenen Angaben der Redaktionen) insgesamt veröffentlichten Relotius-Texte. Soweit nicht explizit unterschieden, werden Print- und Online-Ausgaben zusammengefasst. Zu einigen großen Medien folgen unten weitere Links. Die Aussage “gefälschte Texte” basiert sich ausschließlich auf den Angaben der betroffenen Medien selbst, ansonsten auf referenzierten/ verlinkten Quellen.

+ SPIEGEL (ca. 60 Texte seit 2011). “[Relotius’] Angaben zufolge sind mindestens 14 betroffen und zumindest in Teilen gefälscht.” s.u.
+ Die ZEIT (6): mindestens 1 gefälschtes Interview (s.u.)
+ Süddeutsche (2 Beiträge?): 2 gefälschte Interviews (s.u.)
+ Tagesspiegel (2): beide = alle enthalten Fälschungen (s.u.)
+ Weltwoche (28): mindestens 5 gefälschte Beiträge
+ Cicero (18): mind. 1
+ Reportagen (5) : mindestens 1 gefälschte Reportage (siehe Tagesspiegel)
+ Neue Zürcher Zeitung (8): mindestens  3 gefälschte Texte. 6 Texte in der NZZ am  Sonntag, “Mindestens zwei enthalten erfundene Personen.” 2 Texte in NZZ Folio, mindestens 1 mit  Fehlern (s.u.).
+ Financial Times Deutschland (FTD) (10): ?
+ Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS) (3): : alle drei Beiträge weisen zumindest Unstimmigkeiten auf, einiges ist aus anderen Quellen geklaut. (03.02.2019)
+  TagesWoche (1): 1 gefälschter Beitrag
+ taz (11): Als taz-Praktikant hat Relotius offenbar nicht viel erfunden, siehe taz-Blog
+ Die Welt (6): ?

Vermutlich vollständiger / aktueller wird wg. der Kollaboration die Liste bei Wikipedia sein.

SPIEGEL / Spiegel-Online:

Gefälschte Texte:
* “Jägers Grenze”. Aufgrund der Skepsis des Co-Autors Juan Moreno flog der ganze Betrug überhaupt auf.
* Interview mit Traute Lafrenz, letzte Überlebende der “Weißen Rose” (SPIEGEL  39/2018)
* “Die letzte Zeugin” über eine Amerikanerin, die angeblich als Zeugin zu Hinrichtungen fährt (laut Relotius)
* “Löwenjungen” über zwei irakische Kinder, die vom IS verschleppt und umerzogen worden sein sollen (laut Relotius; Unstimmigkeiten  waren  zuvor schon Spiegel-TV aufgefallen)
* “Nummer 440” über einen vermeintlichen Gefangenen in Guantanamo (laut Relotius)
* “Königskinder” (laut PM des Relotius-Anwalts)
* “Die letzte Zeugin”. Mindestens einzelne Szenen sind erfunden (siehe dazu aber auch ganz unten: “Beifang”)
* “Ein Kinderspiel”. Szenen erfunden, Teile der Biografie des Jungen. (stern)
* “In einer kleinen Stadt”. Das Porträt über die US-Kleinstadt Fergus Falls ist in weiten Teilen Erfindung. Inzwischen gibt es einen neuen Text dazu (s.u.)
* “Touchdown” über den Footballer Colin Kaepernick soll ebenfalls unwahre Details enthalten.
* “Der Kapitän weint – Rekonstruktion der Irrfahrt von Rettungsschiff ‘Lifeline'”. Der porträtierte Kapitän Claus-Peter Reisch behauptet, die Geschichte habe so nicht stattgefunden (s.u.). Der SPIEGEL  schreibt dazu: “Für diesen Artikel hat Claas Relotius allerdings kein Material geliefert, sondern lediglich die Teile, die von den anderen Teammitgliedern recherchiert wurden, in der Hamburger Redaktion zu einem Text zusammengefasst.”

+ Die gesamte Titelgeschichte des SPIEGEL 52 vom 22.12.2018 mit Interviews der Ausgabe gibt es gratis als pdf

+ Antworten auf die wichtigsten Fragen

+ List mit Relotius-Artikeln aus den letzten beiden Jahren (2017/2018) sowie eine Liste mit früheren Artikeln (2011-2016)

+ Interview mit Giovanni di Lorenzo: Warum gehen nicht irgendwann die Alarmglocken an?

+ Fergus Falls – US-Kleinstadt vom Fall Relotius betroffen (siehe dazu unten auch Übermedien). Quasi zur Korrektur ist Christoph Scheuermannn nach Feregus Falls gefahren und beschreibt die Stadt nun ganz anders (“In einer fantastischen Stadt“, Teil der SPIEGEL-Titelgeschichte)

Wir ziehen unsere Lehren (vom künftigen Chefredakteur Steffen Klusmann, 22.12.2018)

Wie das SPIEGEL-Sicherungssystem an Grenzen stieß (19.12.2018)

+ Ein Albtraum (neue Details zur Aufdeckung; wieder sehr reportagenhaft geschrieben; Clemens Höges, 21.12.2018)

+ Wie bitter (Reaktionen; aus dem Print-Spiegel, 21.12.2018)

+ Diskussion im Spiegel-Forum

+ Lifeline-Kapitän auf Twitter (28.12.2018):

Die ZEIT:

+ Gefälschte Texte:
* “Die unscheinbarsten Menschen erzählen oft die unglaublichsten Geschichten“, Interview mit Filmemacher Austin Lynch.

Für die ZEIT hat Claas Relotius von 2010 bis 2012 sechs Texte geschrieben. Im Transparenz-Blog “Glashaus” berichtet die ZEIT derzeit vom Stand der Überprüfungen. Große Teile des Interviews mit Lynch wurden offenbar erfunden. Im ZEIT-Blog heißt es:

>>Vergleicht man das englische Original mit dem bei ZEIT ONLINE erschienenen Interview, wird deutlich, dass beide Fassungen sich nur wenig überschneiden. Die Schlussfolgerung liegt nahe, dass die bei uns erschienenen Interviewaussagen zu etwa zwei Dritteln erfunden sind und zu einem Drittel zumindest sehr frei übersetzt. Offenbar hat Claas Relotius die Aussagen der Künstler nachempfunden, weiterentwickelt und dramatisiert.<<

Unser Wissensstand zu den Beiträgen von Claas Relotius auf ZEIT ONLINE und in ZEIT WISSEN (20.12.2018, wird aktualisiert)

Süddeutsche Zeitung (Magazin):

+ Gefälschte Texte:
* “Ich muss meinen Befreiern etwas zurückgeben”, Interview mit Martin Greenfield (SZ-Magazin 15.05.2015)
* “Wir wollten nie Ikonen sein”, Interview mit Barbara und Nicholas Ercoline (SZ-Magazin 11.09.2015)

+ Die Süddeutsche Zeitung weist “In eigener Sache” auf Fehler in  zwei in ihrem Magazin veröffentlichten Interviews von Relotius hin, die sie aber am Donnerstag vom Netz genommen hat. In einem weiteren Text “Beschönigungen  und Unsauberkeiten” heißt es dazu:

>Im Falle des Gesprächs mit dem mittlerweile 90-jährigen Martin Greenfield spricht dessen Sohn Tod Greenfield in einem Telefonat mit der Redaktion von “zahlreichen Beschönigungen und Fehlern”. Claas Relotius selbst gab am Donnerstag per SMS an die Chefredaktion des SZ-Magazins zu, in dem Interview Passagen “manipuliert” und mit Zitaten aus Greenfields Autobiografie “verdichtet” zu haben. Im Falle des Interviews mit den Woodstock-Veteranen Barbara und Nicholas Ercoline erklären die Interviewten in zwei E-Mails an die Redaktion, dass sie sich in der Veröffentlichung von Claas Relotius massiv missverstanden fühlen. Der Reporter gibt auch hier zu, dass das Gespräch “Unsauberkeiten” enthalte.<<

Demnach sind der SZ die Manipulationen erst jetzt nach der SPIEGEL-Peinlichkeit aufgefallen. Bleibt die Frage, warum die Gesprächspartner sich nicht bereits 2015 nach Veröffentlichung bei der Redaktion gemeldet haben.

+ “Ich wusste, dass er lügt” – Interview mit Juan Moreno (SZ, 20.12.2018)

Tagesspiegel

+ Gefälschte Texte:
* “Der Mann, der Hollywood in Angst versetzte” über den Hacker Christopher Chaney (beim Tagesspiegel aus dem Archiv gelöscht, bei Reportagen – s.u. – noch vorhanden, zumindest der Anfang ist gleich bis auf eine Winzigkeit: “oranges Sträflingshemd” (Reportagen) vs. “orangefarbenes Sträflingshemd” (Tagesspiegel).
* “Es gibt keine Formel für Wahrheit” – Interview mit Werner Herzog, laut Relotius  sind “einige Passagen verdichtet” (TP Checkpoint, 21.12.2018).

+ “[Relotius] schildert [im oben genannten Beitrag “Der Mann, der Hollywood in Angst versetzte”] darin ausführlich ein Treffen mit dem inhaftierten Amerikaner im Bundesgefängnis von Jesup, Georgia. Sehr detailliert beschreibt Relotius, wie Christopher Chaney seine Taten reflektiert, bis hin zum sanften Klang seiner Stimme. Aus dem Text geht hervor, dass Relotius seinen Protagonisten an fünf Besuchstagen gesprochen habe.” Relotius hat Chaney jedoch offenbar nie gesprochen. (21.12.2018)

Weltwoche

In der Schweizer Weltwoche sind 28 Texte von Claas Relotius erschienen. Chefredakteur Roger Köppel sagte, man nehme den Vorfall ernst und prüfe. Die Texte (wie auch die Stellungnahme in eigener Sache) sind derzeit jedoch nur für Abonnenten zugänglich.

+ Unter dem Titel “Schweigen, wenn etwas ist” veröffentlicht #12 aus der SonntagsZeitung (Tamedia-Verlag) einen Beitrag über eigene Fehlersuchen (

Cicero

Im Teaser zur ersten Meldung in der Causa Relotius heißt es: “Auch für viele andere Medien hatte dieser einst geschrieben, darunter auch ‘Cicero’. Wir überprüfen die Texte.” (19.12.2018)

In der Meldung heißt es, Claas Relotius habe vor allem Auslandsreportagen und Interviews geliefert. “Es gab in jener Zeit nie Rückmeldungen von Interviewpartnern und Protagonisten, die einen Betrugsverdacht aufkommen ließen.” Gerade bei Reportagen liege es in der Natur der Sache, dass eine Überprüfung von Szenen “jenseits von Plausibilität kaum möglich” sei. Auf Anfrage der Redaktion habe Relotius bis dahin nicht geantwortet.

>>Nach bisherigem Erkenntnisstand bei uns und auch bei anderen betroffenen Medien muss davon ausgegangen werden, dass kein Text von Claas Relotius sauber ist. Aus diesem Grund nehmen wir alle Texte von ihm offline. Auch aus unserem E-Paper-Shop werden wir die betroffenen Texte entfernen. Dies wird aus organisatorischen Gründen allerdings erst nach den Feiertagen möglich sein.<<

Cicero veröffentlicht eine Liste der neun Print- und neun Online-Relotius-Texte, offline genommen wurden sie offenbar doch schon vor Weihnachten.

+ Unter einem weiteren Bericht zur Causa heißt es am Folgetag auch nur: “Auch für „Cicero“ hat der Reporter zwischen 2012 und 2016 gelegentlich als freier Autor geschrieben. Wir überprüfen die Artikel.” (20.12.2018)

Reportagen

Gefälschte Texte:
+ “Das Leben der anderen” vermutlich, da der Tagesspiegel in einem ähnlichen Beitrag erfundene Gesprächsszenen entdeckt hat s.o.

Das Schweizer Magazin schreibt derzeit (26.12.218) in der Autoren-Vita zu Relotius:

>>Relotius, der zahlreiche Journalistenpreise gewann, hat zwischen 2013 und 2016 auch für unser Magazin insgesamt fünf Reportagen aus den USA, der Ukraine und Südafrika verfasst. Wir werden diese Geschichten nachträglich noch einmal einem umfangreichen Faktencheck unterziehen und darüber informieren.<<

Die fünf Beiträge sind für Abonnenten bzw. Probeleser derzeit noch zugänglich.

+ Den Beitrag “Bestechen verboten – Die Ukraine ersetzt korrupte Polizisten durch Amateure. Echte Reform oder Imagekampagne?” kritisiert Ulrich Heyden auf Telepolis, bleibt aber auch bei Vermutungen und Indizien – klare Fehlerbelege liefert er nicht.
Eine ukrainische Website vermeldet Fehler gefunden zu haben.

Neue Zürcher Zeitung (NZZ, NZZ am Sonntag, NZZ Folio):

+ Gefälschte Texte:
*  “Blondinen färben ihr Haar dunkel” (NZZ Folio, Februar 2014) enthielt zumindest eine bizarre Verwechslung, die zur Beendigung der Zusammenarbeit führte (Korrektur als 2. Kommentar unter dem Text).
* “Gangster’s Paradise” (NZZ am Sonntag): Darin schreibt “Relotius über die norwegische Gefängnisinsel Bastoy, auf der sich Häftlinge frei bewegen können. Am Ende der Reportage beschreibt er den Gefangenen Per Kastaad, angeblich 47 Jahre alt, graue Locken, breite Schulter, verschlagener Blick. […] Das Problem: Per Kastaad existiert nicht.”
* “Auge um Auge, Blut um Blut” (9.12.2012): In diesem Artikel über Blutrache in Albanien begleitet Relotius “einen vermeintlichen Vertreter des Nationalen Versöhnungskomitees, einer albanischen Nichtregierungsorganisation. Dieser Mann, 43 Jahre alt, beschrieben als knurriger Typ mit Wollpullover und Gummistiefeln, heisst im Text Jenva Bashi.” Doch auch er existiert nicht. (Beleg wie oben)

+ Aus “Frei erfunden: Was wir über die Beiträge von Claas Relotius in der ‘NZZ am Sonntag’ wissen”:

>’NZZ Folio’ hat zwei Texte von [Claas Relotius] abgedruckt. Für die Rubrik ‘Beim Coiffeur’ schrieb er über Coiffeursalons in Kolumbien und Finnland. Beim zweiten Beitrag wurde eine Leserin stutzig und hat die Redaktion auf Unstimmigkeiten hingewiesen. Diese veröffentlichte daraufhin ein Korrigendum und beendete im Februar 2014 die Zusammenarbeit mit Relotius.
Bei der ‘NZZ am Sonntag’ ist der letzte Artikel von Relotius im Juli 2014 erschienen. Eine erste Überprüfung dieser Texte hat den Manipulationsverdacht bestätigt.<< (22.12.2018)

 

Bei der «NZZ am Sonntag» ist der letzte Artikel von Relotius im Juli 2014 erschienen. Eine erste Überprüfung dieser Texte hat den Manipulationsverdacht bestätigt.

Medienresonanz:

Ein inzwischen häufig anzutreffender Spruch: “Was die angeblichen Hitler-Tagebücher für den stern waren, sind die Relotius-Reportagen für den SPIEGEL.”

+ Lesenswert, mit einem weit gespannten Bogen: Friedhelm Greis im Sudelblog. Sein allgemeiner Titel “Der Fall Relotius und der Journalismus” trifft es daher ganz gut. Natürlich kommt auch Tucholsky vor, und kritisch die Bewerbung von SPIEGEL-Redakteuren um den Tucholsky-Preis…

+ Auch Stefan Niggemeier kritisiert die Erzählkultur beim SPIEGEL:

>Sein [Ullrich Fichtners] Artikel kommt schonungslos daher, aber in Wahrheit ist er vor allem gegenüber dem Kollegen schonungslos. Was die eigene Rolle des Nachrichtenmagazins und seiner Kultur in dem Debakel angeht, ist er stellenweise erstaunlich selbstgerecht. Und die Art, wie Fichtner den Fall aufschreibt und daraus eine „Spiegel“-Geschichte macht, spricht dafür, dass er gar nicht erkannt hat, wie sehr gerade das Geschichten-Erzählen ein Problem in diesem Fall ist.<< Und später urteilt Niggemeier:

>Aus dem scheinbaren Versuch, schonungslos aufzuklären, wird so eitle, klebrige Pampe<<

Die Banalität  der Realität (Altpapier Medienkolumne, MDR, 20.12.2018)

+ Die Relotius-Fälschungen: Kein Fehler im System, aber ein Fiasko der Qualitätssicherung (Kress, Paul-Josef Raue – im September noch Laudator für Relotius -, 20.12.2018)

+ Interview mit Cordt Schnibben (ehem. SPIEGEL-Ressortchef, Reporterforum; FAZ, 20.12.2018)

+ Ein Fall für die Lehrbücher (Holger Stark, Zeit, 21.12.2018)

+ Altpapier mit aktuellem Stand der Berichterstattung  (Ralf Heimann, MDR, 21.12.2018)

+ Das Ende des Mythos von der „Spiegel“-Dok, die jedes Wort prüft (Stefan Niggemeier, Übermedien, 22.12.2018)

+ Er spielte Schicksal (bzw. in der Print-Version: “Schicksal und Simulation”); ein Grundverriss des Formats “belobigte Reportage” (Claudius Seidl, FAS, 23.12.2018)

+ Medienmagazin (RBB, Audio, 23.12.2018)

Widersprüche waren dem „Spiegel“ schon 2017 bekannt (FAZ, 23.12.2018)

Die mediale Gefallsucht ist gefährlich (Handeslblatt, Hans-Peter Siebenhaar, 27.12.2018)

Die deutsche Reporterfreiheit (Konstantin Richter, Zeit.de, 27.12.2018), mit selbstkritischem Vergleich zwischen deutschem und amerikanischem Journalismus.

Stolpert Print-Chef Ullrich Fichtner über die Relotius-Affäre? ( Georg Altrogge, Meedia, 28.12.2018)

+ Es gibt nichts Verlogeneres als ‘die Wahrheit” (Ulli Tückmantel, chefredakteur der Westdeutschen Zeitung, über alte Fakenews ausgerechnet in der Debatte um Relotius, WZ, 28.12.2018)

Speziell  zu Faktenprüfung /  Fact-Checking und Informationsbeschaffung: 

Checkpoints – Fact-checkers do it a tick at a time. (The New Yorker, John McPhee, 9.2.2009)

+ Ullrich Fichtner erläutert  in einem  Seminar beim Reporterforum (mp3), dass man gerade nicht mit Thesen in die Reportage ziehen sollte. Claudius Seidl hat dort einen anderen Beitrag gefunden, über den er in seinem oben zitierten Text  “Schicksal und Simulation” schreibt: “[…] wenn man es, ‘Spiegel’-gerecht, verdichten und zuspitzen müsste: Dann liefe es auf den Lehrsatz hinaus, dass man sich beim
Reportageschreiben an der Erzählstruktur und der Montagetechnik von Spielfilmen orientieren solle […]” [SpKr: Wir haben schlicht noch nicht alle Audiodateien angehört.]

+ „Vielleicht sollte man eine neue Kategorie einführen“, schlägt Verlegerin Antje Kunstmann vor, „und einen Preis für literarischen Journalismus vergeben“. [Zitat aus einem Bericht über die Jurysitzung des Reporterpreises 2012]

+ Aktuelle Beispiele für unbegründete Behauptungen und erfundene Tatsachen, gerade in der Diskussion um Relotius und journalistische Qualität, siehe SpKr-Beitrag “Nenne mir deine Quelle“.

Von den vielen interessanten Nachbetrachtungen sei hier auf zwei Mitschnitte der Jahrestagung Netzwerk Recherche 2019 verwiesen:

a) Verleihung des Leuchtturmpreises an Moreno

b) Diskussion u.a. mit Steffen Klusmann, Chefredakteur SPIEGEL

Beifang

Im Zuge der Generalaussprache zu journalistischen Qualität, Sorgfalt und Glaubwürdigkeit wird auch auf andere, z.T. alte bzw. längst bekannte, “Wahrheitsmodellierungen” hingewiesen. Beispiele: 

+ Autor Robert Menasse hat dem früheren Europapolitikers Walter Hallstein Zitate in den Mund gelegt. Zur Rechtfertigung sagte er laut Welt u.a.: “Was kümmert mich das ‚Wörtliche‘, wenn es mir um den Sinn geht.“ Co-Autorin Ulrike Guérot äußert sich zaghaft kritisch dazu.

+ Für eine nicht selbst erlebte Einstiegsszene im Porträt über Horst Seehofer wurde

+ Heribert Prantl dichtete in einem Porträt  über den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle ausführlich eine Szene in dessen Küche, in der er nie war. Die Redaktion entschuldigte sich dafür. “Der Verfassungsschützer”, Süddeutsche Zeitung, 10.07.2012, Seite 3, (auf sueddeutsche.de nicht verfügbar)

+ Cordt Schnibben, der Heiligsprecher der Reportage, ist uns schon mal unangenehm aufgefallen

5 Gedanken zu „Claas Relotius – Linksammlung zu einem Medienskandal

  1. Prof. Otto E. Rössler

    Der vielfach preisgekrönte Journalist Claas Relotius hat “dichterisch gefälscht” – dasselbe, was alle Reporter tun, nur blumiger und genialer. Er hat damit niemandem geschadet dank seines einmaligen Einfühlungsvermögens. Letzteres wird von jedem Wissenschaftsjournalisten in ganz besonderem Maß gefordert. Ich wette, dass seine „Erfindungen“ nie inhaltlich falsch waren, weil er sich immer tief eingearbeitet hat und zum kongenialen Kollegen geworden war.
    Umgekehrt unterdrückt aber der jetzt auf einmal so verdächtig kritisch gewordene Spiegel zusammen mit allen anderen Medien täglich die Wahrheit, indem er wichtige Wahrheiten bewusst verschweigt.
    Über Zahl und Umfang dieses kollektiven Betrugs kann ich keine Angaben machen außer einer: “größer gleich eins”. Der eine große Mega-Fall, den ich im Auge habe, ist CERNGATE: CERNGATE ist die Tatsache, dass alle Medien der Welt verschweigen, dass das CERN seinen die Sicherheit der Erde betreffenden offiziellen Sicherheitsreport „LSAG“ (für „Large-Hadron-Collider Safety Assessment Group“) seit 10 ¾ Jahren nicht erneuern kann, diese Tatsache aber vor der Öffentlichkeit verschleiert, indem es den LSAG undatiert lässt, sodass dessen Veraltetheit nicht unmittelbar erkennbar ist: Tatsächlich hat kein Medium bisher über diese Tatsache berichtet. Obwohl diese verschwiegene Tatsache das Leben aller Menschen gefährdet.
    Eine Entschuldigung für das CERNGATE kann in der Tatsache gesehen werden, dass es nur gefährlich ist, wenn ein 89 Jahre altes wissenschaftliches Resultat – Zwicky 1929 – richtig ist. Letzteres wurde aber beginnend in 2003 durch die von Zwicky begründete, wenn auch noch nicht benannte, neue Grundlagendisziplin der Cryodynamik, Schwester der Thermodynamik, bestätigt. Die Zukunft der Energieversorgung der Erde hängt kritisch von der Cryodynamik ab. Aber auch das darf niemand wissen, obwohl es unendlich mal weniger wichtig ist.
    Ich habe Herrn Relotius angeschrieben und ihn gebeten, diesen Mega-Skandal der Weltöffentlichkeit so näher zu bringen, dass sie ihn verstehen kann. Darf er das – zum Beispiel im SPIEGEL – tun?
    gez. Otto E. Rössler

  2. Pingback: Nenne mir deine Quelle – SpiegelKritik

  3. Pingback: Satire ist kein Fake – SpiegelKritik

  4. Pingback: Autopsie: Die harsche Kritik an Relotius-Enthüller Juan Moreno – SpiegelKritik

  5. Boris Büche

    Liebe Leute, euer Blog ist Klasse!

    Hier möchte ich etwas nachreichen, das der SPIEGEL in seiner Eigenaufarbeitung der Affäre kurz gehalten hat, und das Zweifel aufkommen lässt, ob die “Eigenaufarbeitung” nicht eher ein Manöver war, zu retten, was zu retten ist . . .

    Am Tag der Entzauberung des Kollegen Relotius erschien diese Darstellung seitens zweier Einwohner von Fergus Falls: https://medium.com/@micheleanderson/der-spiegel-journalist-messed-with-the-wrong-small-town-d92f3e0e01a7

    Der SPIEGEL (“In einer fantastischen Stadt“) stellt seine Bemühungen um die Wahrheit so dar:
    “Das Märchen beginnt gleich am Anfang, als der Autor schreibt, der Bus nach Fergus Falls rolle auf einen dunklen Wald zu, der aussehe, “als würden darin Drachen hausen”. Ich habe nach dem Wald gesucht. Es gibt ihn nicht. Es gibt Bäume in und um Fergus Falls, hier und da ein Wäldchen. Es ist seltsam, den Erfindungen eines Ex-Kollegen hinterherzureisen, noch seltsamer aber ist es, mit den falschen Bildern im Kopf durch die Wirklichkeit zu laufen und Vergleiche zu ziehen.”

    Wer den Artikel der Betroffenen gelesen hat, fragt sich: Warum glaubte Christoph Scheuermann, “den Erfindungen eines Ex-Kollegen hinterherreisen” zu müssen, und uns bspw. von der Nichtexistenz des “Drachenwalds” zu berichten, wenn dem SPIEGEL doch die Tatsachen bekannt gemacht worden waren? Das Interview mit den lokalen Autoren hätte auch telefonisch, oder per Skype geführt werden können.

    Wir dürfen davon ausgehen, dass die nicht-professionellen Journalisten Michele Anderson und Jake Krohn VOR der Veröffentlichung ihres Faktenchecks diesen dem SPIEGEL zur Kenntnis gebracht haben. Schließlich hatte Frau Anderson sich die Mühen nur gemacht, weil der SPIEGEL auf ihre zeitnahe Mitteilung einer irreführenden Berichterstattung nicht reagierte. “Meldung übersehen” sagt der SPIEGEL – kann stimmen, aber es mag auch sein, man dachte in Hamburg, darüber würde das Gras wachsen, und wer käme schon jemals wieder nach Fergus Falls?

    Mein Verdacht: Der SPIEGEL hätte sich von seinem preisgekrönten Reporterstar garnicht, oder lieber in aller Stille entledigt, wäre nicht der Faktencheck aus Fergus Falls erschienen. Dass die Publikation mit dem Abschied von Herrn R. terminlich zusammenfällt, lässt der SPIEGEL im Artikel kurz durchblicken, verlinkt sie aber nicht. Statt dessen schickt das Magazin jemanden über den großen Teich, um sich mit den geschenkten Federn zu schmücken.

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