ZEIT-Online: Journalismus oder Propaganda?

Was ist die Aufgabe journalistischer Kommentare? Die Meinung eines Bürgers, der zufällig das Privileg massenmedialer Kommunikation hat, einem möglichst großen Publikum kund zu tun? Ganz sicher nicht. Denn die Meinung zu diesem und jenem von uns Journalisten ist so relevant wie die von jedem anderen Menschen. Wir haben keinerlei Mandat, unsere Stimme wichtiger zu nehmen als jede andere. (Natürlich dürfen Journalisten für ihre Kunden schreiben, also schlicht für Applaus und Penunzen, aber das ist kein journalistischer, sondern ein parteilicher Ansatz, der nicht der Information und damit Meinungsbildung dient, sondern dem eigenen Guru-Status, der Community-Bildung, Jüngersammlung, Führerschaft, weshalb früher einmal Parteizeitungen so beliebt waren.)
Die Aufgabe journalistischer Kommentierung ist es, Rechercheergebnisse einzuordnen, sie zu bewerten, zu gewichten, und das heißt meist, nicht nur Fakten, sondern Meinungen zu sortieren, nämlich all jene, die zum Thema relevant sind (und spätestens bei der Recherche zutage gefördert wurden). Der journalistische Wert für die Kunden kann nicht in dem liegen, was früher gelegentlich in Leserbriefen und heute en masse in Online-Kommentaren ausgedrückt wird: “Vielen Dank für diesen Kommentar (ich sehe alles genauso).” Natürlich ist es auch eine Orientierungsleistung, wenn Rezipienten ihre vorhandene Meinung vollständig bestätigt finden, in der großen Mehrzahl der Fälle sollten jedoch neue Aspekte erwartet werden dürfen (andernfalls hätten die kommentierenden Journalisten keinen Wissensvorsprung gegenüber ihren Kunden). Für Kommentare gelten alle Qualitätsstandards des Nachrichtenjournalismus, mit Ausnahme der Unparteilichkeit oder Neutralität (was nicht mit Objektivität zu verwechseln ist).
Unter dieser Prämisse fallen viele journalistische Kommentare damit auf, das Orientierungspotential nicht auszuschöpfen (was der alte Lehrmeister Walther von La Roche in seinem bekannten Einführungsbuch, 15. Auflage, wohlwollend den “Geradeaus-Kommentar” nannte, der “auch einmal aufs Argumentieren verzichten und einfach ‘geradeaus’ begeistert loben oder verärgert schimpfen” werde).
Bei der Berichterstattung über die Corona-Pandemie, vor allem die politischen Maßnahmen dazu, sind die Qualitätsansprüche besonders hoch: weil das Thema seit einem halben Jahr alles beherrscht, weil die Politik (und andere Entscheidungen/ Handlungen) enorme Konsequenzen haben und weil alle Medienforschung bisher zumindest für die alles entscheidende Anfangszeit erhebliche Defizite ausgemacht hat.

Dass diese Defizite längst nicht überall überwunden sind zeigt ein Kommentar von Christian Bangel bei Zeit-Online (“Neue Härte”). Es geht um das Verbot der seit vier Wochen angekündigten großen Demonstration in Berlin gegen die Corona-Politik, die am 29. August stattfinden sollte. Auf drei eklatante Probleme in diesem Kommentar möchte ich kurz eingehen.

1. Thematische Engführung

Bangel sieht im Verbot der Demonstration einen dringend notwendigen politischen Schritt gegen Rechtsextremismus.

>Die Demonstration am kommenden Samstag sollte für die rechtsradikalen Szenen Deutschlands der nächste große Schritt sein. Was ihnen während der Flüchtlingsjahre trotz aller Versuche nicht gelang, sollte nun mithilfe ihrer neuen Verbündeten, also Verschwörungsideologen, Esoterikern und anderen Naivlingen, gelingen: Rechte Massenaufmärsche im Regierungsviertel, eine vorrevolutionäre Atmosphäre, wenigstens für einige Stunden.<

Bangel sieht Rechtsradikale nicht etwa nur als einen kleinen Teil der erwarteten Demonstranten, sondern als ihre Hauptgruppe, neben der über andere gar nicht mehr zu reden ist: es wäre eine “Demonstration von rechtsradikalen Maskenverweigerern”, die Berlin in Gefahr bringen würde.
Eine solche Zusammenfassung einer noch völlig unbekannten Menschenmenge ist mit den Qualitätsanforderungen des Journalismus schlicht nicht zu vereinbaren: weil Bangel falsche, in jedem Fall unbelegbare Behauptungen (nämlich über die Zukunft) als Tatsachen ausgibt. Es interessiert ihn nicht, was der Demonstrationsanmelder will, es interessiert ihn nicht, wer beim letzten Mal demonstriert hat (kaum Rechtsradikale etwa, sagt der Verfassungsschutz, der allerdings in medialen Argumentationen ganz nach Belieben angeführt oder ignoriert wird).

Die Gleichsetzung von Kritikern der staatlichen Corona-Maßnahmen mit Rechtsradikalen, “Verschwörungsideologen, Esoterikern und anderen Naivlingen” ist dabei nicht nur eine berichterstattende Wirklichkeitsverzerrung, sondern schon politische Propaganda: wer nicht mit allen möglichen Spinnern in einem Boot sitzen will, hat die Regierungspolitik in Sachen Pandemiebekämpfung nicht zu kritisieren.

2. Recht als Belanglosigkeit

Vielleicht hat es Bangel nur sehr unglücklich formuliert, doch was er schreibt, ist hanebüchen:

>Nun hat Berlins Innensenator das einzig Richtige getan und den Spuk beendet. Zwar ist unklar, ob nicht noch Gerichte, am Ende sogar das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, anders entscheiden. Doch das politische Zeichen ist gesetzt, und es war dringend nötig.<

Die politische Entscheidung wäre also auch dann richtig und nötig, wenn sie rechtswidrig ist? Natürlich darf man auch diese Meinung vertreten. Dann sollte sie allerdings argumentativ gut begründet sein – und zwar journalistisch nicht nur mit dem eigenen Geistesblitz oder Revoluzzergeist, sondern mit Verweis auf das, was in der Gesellschaft diskutiert oder praktiziert wird. Und da gibt es freilich schon Musterfälle, erinnert sei an die Stadt Wetzlar, die einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts einfach ignoriert hat.

Wenn man zugunsten eines politischen Ziels rechtswidrige Behördenentscheidungen für legitim halten möchte, muss man zwangsläufig auch anderen zugestehen, für ihre Ziele rechtswidrige Maßnahmen zu ergreifen – na Prost Mahlzeit.

3. Pandemie ohne Demokratie

Bangel schreibt:

>Und sie [die Demonstration] hätte ein akutes Glaubwürdigkeitsproblem für die Politik geschaffen. Denn wer soll sich noch an Corona-Regeln halten, wenn eine solche Veranstaltung direkt vor den Türen des Parlaments unter Billigung der Politik – sogar ein zweites Mal – möglich ist?<

Bangel befürchtet also, die “Corona-Regeln” könnten von sehr vielen Menschen abgelehnt werden, wenn sie sehen, dass einige tausend Demonstranten es vormachen? Die ganze inhaltliche Begründung für die Pflichten zu physischem Abstand und Mund-Nase-Bedeckung könnte also zusammenbrechen, wenn das erste broken window erblickt wird?
Bangel befürchtet also, Demonstranten gegen Restriktionen, die sich auch praktisch nicht an (einzelne) Restriktionen halten, könnten massenweise Nachahmer finden? Und weil er meint, dass dies verhindert werden muss, ist eine solche Werbung für eine andere Meinung zu unterbinden? Weil der Sinn von Demonstrationen genau darin besteht, andere auf ein Problem bzw. eine Problemsicht aufmerksam zu machen und für eigene Positionen zu werben, müssen sie nach Bangel verboten werden, wenn sie der Regierung (=Behördenleitung) nicht in den Kram passt?

Ich bin sehr offen für schräge Meinungen. Viel zu selten lese oder höre ich in den Medien Provozierendes, Neues, Mutiges. Unter dem Gesichtspunkt wäre der Kommentar von Christian Bangel sehr spannend. Allerdings ist er eine journalistische Kapitulation. Bangel erfindet Fakten und plädiert mit diesen gegen das Rechtsstaatsprinzip und gegen die Demokratie, um in einem Einzelfall zu einem ihm genehmen Ergebnis zu kommen. Das mag in parteipolitischen Auseinandersetzungen nichts allzu Ungewöhnliches sein. Im Journalismus hingegen muss es dafür die rote Karte geben. Natürlich nicht von mir, auch nicht vom Presserat (als einer Pseudogerichtsbarkeit), sondern vom Journalismus selbst.

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