Spekulativer Nachrichtenwert

Medien wählen ihre Themen nach deren “Nachrichtenwert” aus. Dass dieser Nachrichtenwert keineswegs automatisch etwas mit Qualitätskriterien zu tun hat, ist bekannt und in der Medienforschung anerkannt (z.B. Neuberger/ Kapern 2013: 136). Aktuell eindrückliches Beispiel: die Verdachtsberichterstattung über BILD-Chefredakteur Julian Reichelt. Ausgehend von einem SPIEGEL-Bericht plappern alle Medien nach, was dort sehr schwammig steht, und der typische Verdachtsfall Twitter bestätigt alles, was man an Häme von namhaften Journalisten erwarten darf.

Warum ist diese Berichterstattung Beispiel für ein defizitäres Qualitätsbemühen? Weil sie dem einzigen allgemeingültigen Qualitätsziel entgegenläuft, weil sie konterkariert, was Journalismus von anderen Kommunikationsangeboten unterscheidet: Orientierung zu aktuellen, relevanten Themen zu geben.

Die massenmediale Verbreitung, dass der Axel Springer Verlag intern (und mit Hilfe einer Anwaltskanzlei) Vorwürfen gegen Reichelt nachgeht, hat zwar offenkundig einen hohen Nachrichtenwert, trägt aber nichts zur Orientierung bei. Nichts auf der Welt gab Veranlassung, in diesem Stadium über Anschuldigungen zu berichten, die noch nicht einmal im Ansatz konkret erläutert werden, geschweige denn nach den rechtlichen Kriterien der  Verdachtsberichterstattung geprüft wurden. Die Berichte sind pures Boulevard, mutmaßliche Unterhaltung des  Publikums und in jedem Fall Unterhaltung der Journalisten selbst.

Bei jedem noch so großen Verbrechen stehen die Medienethikwächter auf der publizistischen Matte und verlangen eine nicht-identifizierende Berichterstattung (z.B. BildBlog; Gegenposition hier bei SpKr). Aber wenn es den Richtigen trifft, genügt etwas Nebel, um dahinter Lord Voldemort zu benennen.

Für die Orientierung wäre es völlig ausreichend, den (durchgestochenen) Fall still zu beobachten, bis Relevantes vorliegt: entweder ein erheblicher Tatverdacht (der wohl ein Strafverfahren verlangen müsste, um nicht nur dem konkurrierenden Sittengefühl zu entstammen) oder eben seine Widerlegung – in diesem Fall gäbe es dann gar nichts zu berichten (es sei denn, die Anschuldiger werden juristisch belangt). Aber Nicht-Berichterstattung passt halt gar nicht, wenn man sich nicht eines Schweigekartells sicher sein kann und damit keine Gefahr besteht, die Konkurrenz könne einem eine Story wegschnappen.

Dass die Medien mit ihrer Berichterstattung Realität erschaffen, die es ohne sie nicht gäbe, haben sie gerade eindrucksvoll mit ihrer Enthüllung gezeigt, das Bundesamt für Verfassungsschutz habe die AfD als Verdachtsfall eingestuft.

Und dass sachlich widerlegte Vorwürfe in den Medien nur kleinlaut widerrufen werden und bei vielen Rezipienten unkorrigiert im Gedächtnis bleiben, sollte auch Allgemeinwissen sein. Passenderweise sei an Kai Diekmann erinnert, Reichelts Vorgänger. Auch damals hatte der SPIEGEL für die Verbreitung des Verdachts gesorgt, der sich am Ende juristisch nicht belegen ließ, was der SPIEGEL zwar brav  vermeldete, nicht aber in seiner Ursprungsmeldung als Update vermerkt (was wir schon lange beklagen). Auch BildBlog hatte über den Vorwurf gegen Diekmann, in eine Satire eingebettet, berichtet – die Einstellung des Verfahrens hingegen findet sich im relevanten Zeitraum dort nicht.

Prognose 1 vom BildBlog Gründer

Prognose 2 vom BildBlog-Gründer

Bezirksbürgermeisterin kommentiert

Updates: 
1. Stefan Niggemeier hat seinen oben zitierten Twitter-Kommentar als “problematisch und unjournalistisch” bezeichnet. Den Tweet hatte Tagesspiegel-Chefredakteur Lorenz Maroldt in seinem Newsletter “Checkpoint” leicht verfremdet in einen Drehbuch-Plot “für eine siebenteilige Serie über eine große Boulevardzeitung” eingebaut. Maroldts Text bezeichnet Niggemeier als “journalistische Kapitulation”.

Auszug aus dem “Checkpoint” vom 9. März 2021.

2. BildBlogger Lorenz Meyer ‘raunt’ derweil auf Twitter:

Finde, Julian Reichelt sollte ne Ehrenerklärung abgeben und dann muss auch mal Schluss sein.

3. Weil dies an verschiedenen Stellen bestritten wird: Verdachtsberichterstattung verlangt zwingend, dass die berichtenden Medien dem Beschuldigten Gelegenheit zur Stellungnahme geben. Dabei müssen die konkreten Vorwürfe benannt werden. Auch außerhalb des besonders heiklen Felds der Verdachtsberichterstattung gehört es zur Vollständigkeit eines journalistischen Beitrags, die Protagonisten nach ihrer Sichtweise zu befragen. Im “Ehrenkodex für die österreichische Presse” heißt es dazu:

“Beschuldigungen dürfen nicht erhoben werden, ohne dass nachweislich wenigstens versucht worden ist, eine Stellungnahme der beschuldigten Person(en) oder Institution(en) einzuholen. Handelt es sich um die Wiedergabe einer öffentlich erhobenen Beschuldigung, ist dies deutlich kenntlich zu machen.”

4. Randnotiz: Viele SM-Kommentatoren reiten in diesem Zusammenhang wieder auf der skandalisierten Ein-Stunden-Frist herum, die BILD-Redakteur Filipp Piatov dem Virologen Christian Drosten für eine Stellungnahme zu Kritik an einer von ihm mitverfassten Studie eingeräumt hatte. Natürlich wäre eine solche Frist zu kurz gewesen, wenn sie tatsächlich gegolten hätte, denn niemand, schon gar nicht ein Forscher, muss permanent seine E-Mails checken. Drosten hatte die Anfrage allerdings erhalten und darauf öffentlich reagiert. Was nie erwähnt wird: Sehr kurze Fristen werden bei heiklen Anfragen von allen Medien gesetzt, u.a., weil sie befürchten, bei längeren Fristen könnte der Angefragte durch eigene Veröffentlichungen und PR-Maßnahmen der geplanten Berichterstattung den Wind aus den Segeln nehmen. Auch die Angst vor juristischen Schritten (Antrag auf Einstweilige Verfügung) steht regelmäßig im Raum. Vor Verbreitung des Internets war etwa der SPIEGEL bekannt dafür, am Freitagnachmittag per Fax Stellungnahmen zu erfragen für Beiträge, die kurz darauf in Druck gehen sollten.

5. [25. März 2021] Axel Springer hat seine interne Untersuchung der Vorwürfe abgeschlossen und die Freistellung von Chefredakteur Julian Reichelt zurückgenommen. In einer Pressemitteilung heißt es dazu:

Das unternehmensinterne Compliance-Management hatte im Auftrag des Vorstands mit Unterstützung externer Experten über einen Zeitraum von mehr als vier Wochen verschiedene Hinweise auf mögliches Fehlverhalten des Vorsitzenden der BILD-Chefredaktionen untersucht und ausgewertet. Auf Basis der vorliegenden Erkenntnisse hat der Vorstand der Axel Springer SE beschlossen, dass Julian Reichelt seine Arbeit fortsetzt und die am 12. März 2021 auf Wunsch von Julian Reichelt erfolgte Freistellung mit sofortiger Wirkung aufgehoben wird.

Zum gleichen Zeitpunkt wird die Redaktionsleitung als Doppelspitze neu aufgestellt. Alexandra Würzbach, 52, derzeit Chefredakteurin der BILD am SONNTAG und Mitglied der Chefredaktion der BILD-Gruppe, wird gleichberechtigte Vorsitzende der BILD-Chefredaktionen. Julian Reichelt wird sich künftig auf die Schwerpunkte BILD Print und digital sowie BILD Live konzentrieren. Die Schwerpunkte von Alexandra Würzbach werden die BILD am SONNTAG sowie das übergreifende Personal- und Redaktionsmanagement sein. Für die inhaltliche Ausrichtung aller Produkte der BILD-Gruppe sind Alexandra Würzbach und Julian Reichelt gemeinsam verantwortlich.<

In die Aufklärung war auch “die Freshfields-Anwältin und frühere Staatsanwältin Simone Kämpfer” eingebunden. Springer schreibt weiter:

>Im Kern der Untersuchung standen die Vorwürfe des Machtmissbrauchs im Zusammenhang mit einvernehmlichen Beziehungen zu Mitarbeiterinnen sowie Drogenkonsum am Arbeitsplatz. Entgegen der in einigen Medien kolportierten Darstellung gab es keine Vorwürfe und auch im Untersuchungsverfahren keine Anhaltspunkte für sexuelle Belästigung oder Nötigung. Julian Reichelt hat die Vermischung von beruflichen und privaten Beziehungen eingeräumt, die oben genannten Vorwürfe jedoch bestritten und dies auch eidesstattlich versichert.

Der Vorstand ist zu dem Ergebnis gekommen, dass es nicht gerechtfertigt wäre, Julian Reichelt aufgrund der in der Untersuchung festgestellten Fehler in der Amts- und Personalführung – die nicht strafrechtlicher Natur sind – von seinem Posten als Chefredakteur abzuberufen. In die Gesamtbewertung sind auch die enormen strategischen und strukturellen Veränderungsprozesse und die journalistische Leistung unter der Führung von Julian Reichelt eingegangen.<

Stefan Niggemeier hatte vor einigen Tagen erklärt, er könne sich angesichts der im Raum stehenden Vorwürfe nicht vorstellen, dass Reichelt zurückkommen werde. Die Springer-PM bezeichnete er nun als “Kapitulationserklärung“. Wer das anders sieht, wird in bekannter Besserwissermanier angegangen: “Kollegin @UlrikeSimon ist nun komplett im Team #Reichelt und lässt es am Ende Ihres @Horizont -Artikels mächtig raunen”, raunt Niggemeier.

Sofern jetzt nicht noch jemand aufdeckt, dass Springer strafrechtlich relevante Vorgänge unter den Teppich gekehrt hat, bleibt es dabei, dass die vorherige Verdachtsberichterstattung nicht mit Relevanz begründet werden konnte, sondern allein mit wirtschaftlichen Eigeninteressen der Konkurrenz und ggf. persönlichen Abneigungen einiger Autoren gegen die BILD. Die professionelle Medienkritik hat dabei wieder einmal gezeigt, dass sie mit sehr unterschiedlichen Maßen misst und sich dabei von gewünschten Ergebnissen leiten lässt.

6. [25. März 2021] Das Medienmagazin “@mediasres” (das sich noch in der gestrigen Ausgabe darüber ausgelassen hat, wie ungerne Medien Fehler eingestehen), berichtet heute am Ende der Sendung (ca ab Minute 22:22) über die Causa mit folgenden Worten:

>Die Schlagzeile von heute: BILD-Chef darf weiterarbeiten, gibt aber Macht ab. Nach Vorwürfen aus der Belegschaft und einer internen Untersuchung ist Julian Reichelt nur noch Teil einer Doppelspitze. Das hat der Medienkonzern Axel Springer erklärt. Er teile sich künftig die Aufgaben mit Alexandra Würzbach. Reichelt habe Fehler in der Amts- und Personalführung gemacht, die seien aber nicht strafrechtlicher Natur. Springer spricht heute von Vorwürfen des Machtmissbrauchs im Zusammenhang mit einvernehmlichen Beziehungen zu Mitarbeiterinnen sowie Drogenkonsum am Arbeitsplatz.<

Himmel! Es hat schon seinen Grund, dass unsere Praktikanten und Volontäre ihre ersten Meldungsschreibversuche bis zum Nervenzusammenbruch verbessern mussten. Der größte Teil aller Qualitätsmängel basiert schlicht auf dem Unvermögen, Dinge korrekt wiederzugeben (eingeschlossen, Nichtwissen als Nichtwissen zu benennen).

Vorlage für dies Glanzstück ist wohl eine Agenturmeldung — anstatt sinnvollerweise die Original-Pressemitteilung von Axel Springer. (Dass Springers Text schon bescheiden formuliert ist, entschuldigt dabei natürlich nichts.) Der Klopper  steht zwar am Ende, aber gehen wir die knapp 40 Sekunden der Reihe nach durch:

  • “Macht” ist hoffentlich nur ein Teilaspekt von Chef-Funktionen. Oder eben eine Interpreation. Axel Springer selbst spricht nicht von Macht (nur einmal vom Vorwurf des Machtmissbrauchs)
  • Die Vorwürfe kamen zumindest nicht nur aus der Belegschaft, sondern auch (oder wesentlich oder initial, so genau hat das noch niemand verraten) “von außen” (Chiffre “Ex-Mitarbeiter/-innen”).
  • Dass Reichelt sich seine Aufgaben mit Würzbach künftig teile, hat Springer nicht mitgeteilt. Die Original-Aussage ist bereits oben zitiert. Reichelt muss sich künftig den Vorsitz der BILD-Chefredaktionen mit Würzbach teilen. Er bleibt aber u.a. allein verantwortlich für BILD-Print, BILD-digital und BILD-live (Video).
  • Die Formulierung “Springer spricht heute von …” ist bestenfalls dilettantisch, schlimmstenfalls infam. Denn sie verkehrt die zentrale Botschaft in ihr Gegenteil (was mehrere Rezipienten-Schnelltests bestätigt haben). Die korrekte Aussage ist: Reichelt hat die Vermischung von beruflichen und privaten Beziehungen eingeräumt, die Vorwürfe des Machtmissbrauchs und des Drogenkonsums am Arbeitsplatz jedoch bestritten und dies auch eidesstattlich versichert.
  • Natürlich hätte, wer schon auf dieses Thema eingestiegen ist und es nun irgendwie seriös zu Ende bringen muss, bei Springer nochmal genauer nachfragen sollen (anstatt zu spekulieren, weshalb die Erklärung so lückenhaft und offen formuliert ist). Warum wird die Anwaltskanzlei mit Ex-Staatsanwältin, die im Auftrag von Sprigner ermittelt haben soll, nicht erwähnt? Warum wird nicht klarer gesagt, was sich alles nicht gefunden hat – und was doch? Aber wie gesagt: schlechte PR ist keine Entschuldigung für schlecht gemachte Nachrichten.

2 Gedanken zu „Spekulativer Nachrichtenwert

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