Beherzt aber faktenfrei gegen Bürgerräte

Journalistische Medienkritik zielt vor allem auf die Aspekte Richtigkeit und Ethik. (Wir haben das mal in einer Stichprobe fürs Bildblog ausgezählt, da war es überdeutlich, und wer sich die etwas über den Insiderkreis hinausreichenden Qualitätsdebatten in Erinnerung ruft, wird das bestätigt sehen: entweder schreibt die BILD-zeitung Quatsch (“lügt”), oder sie betreibt Hetze – das sind die Standardvorwürfe.) Gerade hatten wir wieder eine unerquickliche Diskussion um “False Balance“, die von viel Gefühl und wenig Fakten gespeist wurde und in dem ganzen Durcheinander letztlich wieder auf ethische Fragen hinauslief.

Womit wir uns in der Medienkritik nur selten beschäftigen, ist u.a. die Argumentation von Beiträgen (in der  Literatur noch sperriger “Argumentativität” genannt). Falsche Behauptungen kann man greifen. Aber unlogische Schlüsse, unpassende Vergleiche, rhetorische Tricks der Irreführung und vieles mehr verlangen eine sehr ausgefeilte Diskursanalyse.

An einem Beispiel soll die Problematik gezeigt werden. Es geht um einen Artikel, der die Dachzeile “Hintergrund & Analyse” trägt, aber nur kopfschüttelnd zurücklassen kann, wer ein wenig Ahnung vom analysierten Thema hat. Aber wie greift man das? Was ist eindeutig falsch, was abwegig, was eine – wie zu bewertende – Meinung?Es geht um den (inzwischen überwiegend beendeten) Hungerstreik in Berlin, mit dem ursprünglich sieben junge Leute ein Gespräch mit den drei Kanzlerkandidaten zur Klimapolitik erzwingen wollten.

Der Artikel erschien am 23. September 2021 beim Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlag (SHZ) und stammt von Burkhard Ewert, stellvertretender Chefredakteur der Neuen Osnabrücker Zeitung (NOZ) und laut Twitter-Profil “Ltg. Gem. Redaktion & Politik für @noz_de @shz_de @svz_de  u.a.”.

 

Originalartikel Kommentierung
“Bürgerbeteiligung nur Tarnung” [Überschrift]
Warum in Anführungszeichen? Als Selbstzitat wäre es nicht nur unüblich, sondern auch noch – wie so oft – falsch.
Aktivisten fordern Bürgerräte. Klingt gut – ist aber ein Angriff auf die Demokratie

 

[Zweite Überschrift]

Falsch. Die 7 Aktivisten fordern genau “einen Bürger*innenrat”. Von anderen Aktivisten spricht der Beitrag nicht (auch wenn Anspielungen folgen, Stichwort “anketten”). (Beleg unten)

In Berlin zelebrieren radikale Klimaschützer einen Hungerstreik. Argumentation: Das hämische “Zelebrieren” sollte erläutert werden, schließlich fordert jeder Hungerstreik Öffentlichkeit.
Ich habe nichts  dagegen. Argumentation: Davon ist auszugehen (wegen der allg. Handlungsfreiheit, die in einer Demokratie zentral ist). Und andernfalls wäre  es uns als Leserschaft herzlich egal, weil niemanden interessiert, ob irgendjemand irgendetwas gut oder nicht gut findet. (1)
Letztlich haben die Leute das Recht dazu, auch wenn Profis beurteilen sollten, ob den Aktivisten wegen ihrer  übergroßen Klimaangst therapeutischer Rat helfen könnte. Argumentation: Den Streikenden einen psychischen Schaden nahezulegen (und eine Zwangsuntersuchung zu fordern) ist ein rhetorisch zurecht verpöntes “argumentum ad hominem”. Es sollte schon begründet werden, andernfalls kann jeder jeden als unzurechnungsfähig bezeichnen, den Autor der Zeitungsanalyse und den Autor der Analyse-Autopsie eingeschlossen. (3)
Mich stört etwas anderes als der Streik an sich. Es ist der “Bürgerrat”, den die Hungerstreiker fordern. Das Gremium soll der Politik vorgeben, was in Sachen Klimaschutz zu tun ist. Es soll sich um “Sofortmaßnahmen” handeln, denn für alles andere sei keine Zeit. Falsch. In der Erklärung heißt es (pdf):  “Wir fordern […] 2. Das Versprechen von Ihnen [Kanzlerkandidaten], in einer neuen Regierung direkt einen Bürger*innenrat einzuberufen. In diesem sollten Sofortmaßnahmen gegen die Klimakrise, unter anderem eine 100% regenerative Landwirtschaft, besprochen werden.”
Und mit dieser Nichtzurkenntnisnahme von Fakten  nimmt das Drama seinen Lauf.
Allerdings gibt es ja längst Räte in Deutschland, in denen Bürger politisch tätig sind. Oftmals heißen sie sogar so: Gemeinderat etwa, oder Kreisrat. Auch der Bundestag ist ein Gremium, das letztlich aus Bürgern gebildet wird. Falsch. Der Autor lässt nicht mit einem Halbsatz die Vermutung zu, er habe einen Schimmer vom Konzept “Bürgerrat”  oder “Bürger*innenrat”. Nichts, was er in den nachfolgenden 46 Zeitungszeilen weiter ausführt, hat irgendetwas mit Bürgerräten zu tun.
Damit geben sich die Aktivisten freilich nicht ab, weil: keine Zeit. Sich dort zu engagieren ist ja auch langweiliger Argumentation: Es wäre journalistisch, Argumente gegen die Position der Aktivisten vorzubringen, nicht Argumente gegen ausgedachte Begründungen. Ein Blick in die Erklärung zeigt nämlich eine ganz andere Begründung.
als sich irgendwo anzuketten Argumentation: Was das Anketten nun mit einem Bürgerrat zu tun hat, erklärt der Autor leider nicht, aber er legt eine Fährte zum Illegalen.
oder in einem Kreis von Gleichgesinnten Maximalforderungen aufzustellen, Falsch: Sollte sich wenigstens dies auf einen möglichen Bürgerrat beziehen, so ist es falsch. Im Bürgerrat sitzen gerade nicht Gleichgesinnte beieinander, viel weniger als in jeder Redaktionsstube und -konferenz. Denn die Teilnehmer werden aus der (wahlberechtigten) Gesamtbevölkerung ausgelost.
denen andere ohne Abstimmung und langwieriges Werben um eine Mehrheit nachkommen müssen.

 

Falsch: Auch das ist fürs Modell Bürgerrat unzutreffend. Es gibt zwar bisher keine Norm für das Verfahren, dementsprechend sind verschiedene Umsetzungen zu finden, aber die bisherige Praxis haben die Aktivisten in einer eigenen Erläuterung recht zutreffend dargestellt. [Quelle] (2)
In der oben bereits zitierten Forderung zum Hungerstreik steht jedenfalls nichts davon, dass die Ergebnisse eines Bürgerrats “ohne Abstimmung und langwieriges Werben um eine Mehrheit” von irgendwem exekutiert werden sollten.
Direkt wirkende Räte waren in der  Geschichte regelmäßig Instrumente, um bestehende Strukturen zu umgehen und Bürger mit Gewalt und Terror zu drangsalieren. Arbeiter-, Bauern- und allgemeine Revolutionsräte bahnten in vielen Ländern der Erde totalitären Regimen den Weg. a) Bürgerräte haben absolut nichts mit “direkt wirkenden Räten” gemeinsam, insbesondere nicht den Arbeiter- und Soldatenräten. Speziell zur Deutschen Geschichte solcher Räte bieten sich viele Daten für journalistische Würdigungen an. Die Recherchen könnten ein etwas anderes Bild ergeben.

b) Auf den Hinweis von Jutta Ditfurth, Bürgerrat einerseits und Arbeiter- und Soldatenrat andererseits hätten miteinander “schon konzeptionell nichts zu tun”  antwortete der Autor:

“Natürlich. Stimme zu. Im direkten Sinne absolut. Zugrunde liegende Gedanken ähneln sich bei Räteideen (gibt auch andere als o.g.) trotzdem: Die Demokratie ist zu schwach, langsam, manipuliert vom Establishment, das Volk muss wegen der Dringlichkeit einer Veränderung durchregieren.”

Wer heute “Räte” fordert, weil ihm der klassische Weg zu mühsam ist, der steht in dieser undemokratischen und brutalen Tradition, ob er  will oder  nicht. Falsch. Wer einen ausgelosten Bürgerrat fordert, steht ganz sicher in gar keiner Tradition, sondern knüpft an die Ursprünge der Demokratieentwicklung an (ohne Tradition, mit sehr langen Unterbrechungen nämlich).
Zur Erinnerung: Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat als Schirmherr die Empfehlungen des ersten bundesweiten Bürgerrats entgegengenommen und hernach in mehreren Reden betont, dass dieses Verfahren eine gute Ergänzung für die repräsentative Demokratie sei. (Ebenso hat Schäuble das Bürgergutachten des 2. Bürgerrats entgegengenommen, die Ergebnisse des 3. Bürgerrats zur Klimapolitik – also genau einem solchen Rat, wie er von den Streikenden gefordert wird – wurden einzelnen Spitzenpolitikern wie Laschet, Scholz und Habeck übergeben, was in Ewerts Kommentar aber nicht erwähnt wird.)
Er ruft nach einem Gremium, das den Beiklang der  Bürgerbeteiligung lediglich zur Tarnung nutzt. Argumentation: Was wird hier getarnt? Wer oder was verbirgt sich hinter der Tarnung? Wie lautet die Verschwörungstheorie, nach der ausgeloste Bürger keine ausgelosten Bürger sind, sondern … – ja was?
Bei Lichte betrachtet hebelt er das repräsentative politische System der Bundesrepublik aus und greift die Gewaltenteilung und föderale Verfasstheit Deutschlands an. Argumentation: Aleatorische Verfahren kann man in der Tat als Korrektur der bisherigen Demokratieform sehen (die Argumentationen gehen da auch bei den Befürwortern und Protagonisten weit auseinander). Aber Reform ist kein Angriff auf irgendwas, sondern eine Weiterentwicklung. Und dass unser seit nunmehr 72 Jahren praktisch unverändertes System der Auswahl von Entscheidungsträgern nicht der Weisheit letzter Schluss sein kann, ist schon schlicht nach der Wahrscheinlichkeit zu erwarten, sofern man nicht an eine göttliche Inthronisation glaubt.
(Und die “föderale Verfasstheit Deutschlands” hat gerade die Politik selbst in einer bis dahin völlig undiskutierten Weise angegriffen, ohne dass der Journalismus sich dessen in angemessenem Umfang angenommen hätte. Die rechtswissenschaftliche Literatur ist jedenfalls voll der Warnungen und Entsetzensrufe – aber nicht über Bürgerräte, denen sogar die Politologen etwas abgewinnen können, die Volksentscheide auf Bundesebene vehement ablehnen.)
Wer den “Rat” will, strebt nicht nach Demokratie. Er strebt nach dem Kommando. Falsch. Auch diese Behauptung ist nicht im Ansatz begründbar. Denn wer einen ausgelosten Rat fordert, ist mit nahezu 100-prozentiger Wahrscheinlichkeit später nicht Mitglied in diesem –  und würde selbst in diesem ganz unwahrscheinlichen Falle unter den anderen als Kommandeur untergehen. Nochmal: der Autor hat sich offenbar nicht im Geringsten mit aleatorischen Verfahren beschäftigt.
Das sollte sich im Rest der  Republik kein Bürger gefallen lassen. Also Widerstandsrecht des Einzelnen auch gegen eine Mehrheitsmeinung? Der Bürgerrat Demokratie hat fast einstimmig empfohlen, Bürgerräte wichtige Themen ausführlich beraten und dann die Bevölkerung über das erarbeitete Ergebnis abstimmen zu lassen. Das will auch in allen Befragungen die (uninformierte) Mehrheit der Bevölkerung. Darf man doof finden. Aber wer da welche Demokratie angreift, wäre nochmal zu recherchieren.
[PS] “Klingt gut” In der 2. Überschrift des Artikels hieß es, die Forderung nach einem Bürgerrat klänge gut. Davon war dann im Text nichts zu lesen.

 

Zur Berichterstattung über den Hungerstreik gäbe es natürlich noch vieles zu diskutieren, alles allerdings keine neuen Themen, sondern seit Jahr und Tag Gegenstände der Qualitätsdebatte. Es beginnt mit der Relevanz: Warum überhaupt berichten? Mit welchen Aktionen kann sich jemand mediale Aufmerksamkeit verschaffen? (Deshalb ist der sog. “Nachrichtenwert” ein Gegenspieler des Qualitätskriteriums “Relevanz”.) Aber das sollte hier nicht Thema sein, es ging allein um die Diskussion eines journalistischen Kommentars, beispielhaft für das Genre der Kommentierung insgesamt.

Zu anderen Qualitätsaspekten sei auf die ausführliche Serie bei Telepolis verwiesen, auch wenn sie dieses an einem anderen Thema durchdekliniert. Weitere Artikel-Besprechungen finden sich unter dem Schlagwort Autopsie.

Anmerkungen:

(1) Die Ausnahme wäre, wenn der Autor darlegte, welche Gründe es gibt, ‘etwas dagegen zu haben’, er also fürs Dagegensein argumentieren würde. Ein Problem vieler publizierter Kommentare ist ihre Argumentationsschwäche (Walther von La Roche nennt das sehr beschönigend den “Geradeaus-Kommentar“). Die journalistische Leistung ist nicht, eine Meinung zu haben und kund zu tun, sondern sie zu entwickeln (Recherche) und dann für die Kunden Orientierung gebend aufzubereiten. Siehe dazu:
# “Journalismus oder Propaganda?” und
# “Meinung muss auf Recherche gründen

(2) Die Formulierung “recht zutreffend” sei unter Verweis auf meine auch von den Aktivisten als Fußnote angeführte Projektseite gestattet, es würde hier deutlich zu weit führen.

(3) Zu diesem Aspekt ist am Folgetag ein Leserbrief erschienen, dessen Autor die Empfehlung, den Gesundheitszustand der Hungerstreikenden von Profis untersuchen zu lassen, “sehr an den Appell von Herrn Lindner an die Aktivisten von Fridays for future, die Klimapolitik doch bitte den Profis zu überlassen”, erinnert.

 

 

 

3 Gedanken zu „Beherzt aber faktenfrei gegen Bürgerräte

  1. Oliver Timm

    Das mit den Bürgerräten ist so ein Problem. Da werden dann 9000 Leute gelost welche sich bewerben müssen. Wenn nun 8000 antworten und nur 100 Plätze vorhanden sind. Dann muss von den 8000 ausgesucht werden. Und dass um den Bürgerschnitt zu erreichen. Die bisher gemachten Bürgerräte sind da aber gerade nicht im Schnitt.
    Und genau hier ist das Auswahlverfahren nicht demokratisch. Denn es sucht irgend wer die Leute aus.
    auch ist das auslosen der 9000 Leute nicht gleichwertig. Nicht jeder Bürger ist gleich viel Wert.
    Gibt man in der Bewerbung Divers und Migrant an, so dürfte die Wahrscheinlichkeit steigen ausgesucht zu werden.
    Ist der bürgerrat ernannt so sitzen Experten vor.
    Deshalb ist der Bürgerrat nicht demokratisch. Experten entscheiden und lenken. Und vermutlich in die richtig wie die Experten es wollen.

  2. SpKr

    Die Selbstselektion durch freiwillige Teilnahme NACH Auslosung ist immer eine Verzerrung, geschichtete Stichproben können ein Problem sein. Die Experten sollen allerdings nichts entscheiden, sondern ihre Facheinschätzung präsentieren. Lenkungsmöglichkeiten bietet die Auswahl der Experten, da ist am Verfahren noch einiges zu optimieren. Zur weiteren fachlichen Diskussion sei verwiesen auf http://www.aleatorische-demokratie.de

  3. Henry Meyer

    Prinzipiell finde ich Bürgerräte gut und sinnvoll. Diese sollten in einer überparteilichen Wahlrechts- und Parlamentsreform grundgesetzlich verankert werden. Keine Listenwahl. Nur noch Direktwahl. Verkleinerung des Bundestages auf 400 Parlamentssitze. Alle Wahlen (Länder und Bund in einem Jahr ((Dauerwahlkämpfe sind demokratieschädigend). Jedes Ministerium initiiert für den jeweiligen Bürgerrat. Dem Petitionsausschuss soll ebenfalls ein Bürgerrat beigeordnet werden. Begrenzung der Fraktionen. Abschaffung der Parlamentarischen Staatssekretäre. Wahl des Bundeskanzler*in direkt vom Volk. Bürgerräte sollen vom Bundestagspräsidium für alle Belange die das Parlament betreffen initiiert werden. Ergebnisse der Bürgerräte müssen vom Parlament diskutiert und abgestimmt werden mit einem klaren Auftrag gegenüber der Regierung. Diese Ideen sind m.E. unverzichtbar um den Vertrauensverlust der Gesellschaft zu mindern. Damit sollte jetzt in dieser Legislaturperiode umgesetzt werden. Meine Vorschläge speisen sich aus der mittlerweile verselbstständigenden arroganten Art einer parlamentarischen Parteiendemokratie. Ich möchte unbedingt darauf hinweisen, dass Parteien wichtig sind. Leider haben sie (ALLE) sich selbst diskreditiert. Ich würde mich freuen, wenn die Medien diese Diskussion vorantreiben.

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