Alles auf den Tisch? Um Gottes Willen, nicht doch!

Eine Gruppe Kulturschaffender möchte über das Pandemiemanagement sprechen. Quasi als Auftakt hat die Gruppe 55 Gespräche veröffentlicht. Um was geht es darin, welche Positionen werden vertreten, über was wird gestritten? Wir schauen uns eine dpa Meldung dazu an.

dpa Text Anmerkungen Spiegelkritik.de
[Dachzeile] Aktion mit Prominenten

“#allesaufdentisch”: Erneut Kritik an Corona-Politik

Wieso “erneut”?
Berlin (dpa) – Mehrere Monate nach #allesdichtmachen haben die Schauspieler Volker Bruch und Wotan Wilke Möhring mit einer neuen umstrittenen Aktion Aufsehen erregt Das Framing beginnt im ersten Satz. Was hat #allesdichtmachen mit #allesaufdentisch zu tun? Könnte eine Nachrichtenagentur vielleicht mit den Nachrichten beginnen, bevor sie ans Analysieren, Behaupten und Kommentieren geht?

Und welches “Aufsehen” wurde bis zum Zeitpunkt der  Meldung erregt? Twitter?

Und wieso taucht Möhring schon im ersten Satz auf? Er ist weder verantwortlich für die Website noch laut Pressemitteilung Initiator.

Am Donnerstag wurden unter dem Schlagwort #allesaufdentisch mehrere Interviewclips von ihnen und anderen Menschen online gestellt. Darin werden unter anderem die Corona-Maßnahmen und die mediale Berichterstattung darüber kritisiert. [Wir vergeben hier ja keine Haltungsnoten, aber die Meldung ist schon sehr unbeholfen formuliert.]

– Welche “Corona-Maßnahmen”  werden  kritisiert? Jeder kritisiert doch wohl irgendwelche (egal in welche Richtung: zu lasch, zu streng, zu früh, zu spät, …)

In den Clips sprechen Bruch, Möhring und andere mit verschiedenen Gesprächspartnern – etwa aus der Wissenschaft – über medizinische und gesellschaftliche Aspekte der Pandemie. Es wird nicht deutlich, dass Bruch und Möhring jeweils nur ein Gespräch führen.
Die meisten prominenten Namen der ersten Aktion sind diesmal nicht dabei.

 

Das Framing, es handele sich um ein zweites #allesdichtmachen, wird fortgesetzt. (Obwohl schauspielerische Parodie und Interview wohl unbestritten zwei völlig verschiedene Formate sind.)
Die rund 50 Videos tragen Titel wie «Kollektive Angststörung», «Masken», «Meinungsfreiheit», «Gekaufte Forschung», «Wahrheitsdefinition» und «Kindeswohl». «Mit zunehmender Sorge beobachten wir die Entwicklung des politischen Handelns in der Corona-Krise», hieß es in einem Statement, das Bruch auch bei Instagram teilte. Die größte deutsche Nachrichtenagentur hat die Videos gar nicht gesehen? Sie kennt nur die Titel, und diese auch nur aus einer Mitteilung? Das darf nicht wahr sein und ist hoffentlich nur – siehe oben –  extrem unbeholfen formuliert.
Viele Expertinnen und Experten seien bisher in der öffentlichen Corona-Debatte nicht gehört.» [Ja, das abschließende Zitatzeichen steht so im Original, ist vermutlich beim Umformulieren von direkter in indirekte Rede verwaist.]
Bruch – bekannt aus der Fernsehserie «Babylon Berlin» – war bereits ein prominentes Gesicht der Aktion #allesdichtmachen im April. Damals hatten mehrere Menschen aus der Filmszene mit satirischen Videos den Umgang mit dem Coronavirus kritisiert. Die Aktion löste kontroverse Reaktionen aus – manche warfen der Gruppe vor, das Coronavirus zu verharmlosen. Mehrere Teilnehmer distanzierten sich später.

 

Keinerlei Information zum aktuellen Projekt (und keine brauchbare zu #allesdichtmachen).
Der Schauspieler wird nun auch im Impressum zur Internetseite von #allesaufdentisch genannt. Teil der Aktion ist eine Petition, die einen «Runden Tisch» für das Corona-Krisenmanagement fordert. Bruch wird allerdings nicht alleine genannt. Mit etwas weniger People-Journalismus könnte man einfach die medienrechtlich Verantwortlichen sowie die Initiatoren nennen.
Die Internetseite war mittags zwischenzeitlich nicht erreichbar, die Videos wurden auch auf der Plattform YouTube veröffentlicht. Warum wird “die Internetseite” nicht konkret benannt?

Die Videos wurden nicht auch, sondern vor allem auf Youtube veröffentlicht (und auf der “Internetseite” zunächst nur eingebunden), wo sie auch weiterhin abrufbar waren.

Nach Ansicht eines Experten für Verschwörungsideologien befeuert die Aktion ein «schädliches Narrativ».

 

 

 

[Was jetzt kommt, ist ein Musterstück für “False Balance“. Und man könnte die Aussagen von Josef Holnburger fast Wort für Wort auseinanderpflücken. Aber für die Medienkritik ist nur zentral, wie einseitig dpa hier vorgeht, wie unkritisch, ja manipulativ.]

Während bei #allesaufdentisch 100 Menschen miteinander gesprochen und Ansichten ausgetauscht haben, von denen nicht ein einziges Statement im dpa-Bericht auftaucht, darf nun ein “Experte” seine Einschätzung pauschal zu allen 55 Videos und ihrer Wirkung abgeben. Der “Experte für Verschwörungsideologien” hat laut seiner Website das Magisterstudium noch nicht abgeschlossen, wird aber als Politikwissenschaftler vorgestellt.

 

[Experte] Wenn Journalisten sich endlich vom nichtssagenden Begriff “Experte” verabschieden und uns stattdessen  verraten würden, was jemanden zu welchem Thema genau qualifiziert, wäre schon viel gewonnen (denn das läuft keineswegs nur bei Corona extrem willkürlich, dort erleben wir es nur besonders intensiv und anhaltend).

Konkret: Hat ” Politikwissenschaftler Josef Holnburger” die ca. 16 Stunden Interviews vorab sehen  können? Oder hat er sie seit der Veröffentlichung am Vormittag im Turbo angeschaut?

Über die Schauspieler und Künstler verbreiteten sich wissenschaftliche Minderheitenmeinungen über die Pandemie-Leugner-Szene hinaus, diese würden als Mehrheitspositionen dargestellt, sagte Politikwissenschaftler Josef Holnburger. Welche wissenschaftlichen  Minderheitenmeinungen? Und was spricht gegen eine Minderheitenmeinung? (Evtl. kommt auch Holnburger mit dem Begriff “False Balance” nicht zurecht?)

Wer stellt wem gegenüber etwas als Mehrheitsposition dar? (#Allesaufdentisch sagt ja nun gerade, dass es sich nicht um Mehrheitsmeinungen handelt, sondern: “Viele ExpertInnen wurden bisher in der öffentlichen Corona-Debatte nicht gehört.” Das ist wohl deutlich das Gegenteil zur “Mehrheitsmeinung”.

«Durch einen wissenschaftlichen Anschein werden die Beiträge aufgewertet.» Die Interviews mit Professoren sollen “wissenschaftlichen Anschein” geben? Aber das Gespräch (? dpa sagt nichts über das Zustandekommen) mit Holnburger – ist im Gegensatz dazu Wissenschaft?
Solche Debatten würden aber auf Konferenzen und in Studien geführt – zwischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, sagte Holnburger. Welche Debatten? Dürfen Bürger nicht miteinander sprechen, dürfen Künstler keine Wissenschaftler befragen? Hat sich also auch der Journalismus aus allen Wissenschaftsthemen rauszuhalten?
Zudem ließen sie sich selten nur durch zwei Personen darstellen. Es sind Zwiegespräche,  so wie (mutmaßlich) zwischen dpa und Holnburger.
«Mit der Aktion zieht man den Diskurs aus der Forschung heraus.» Keine Nachfrage von dpa zu diesem  offenkundigen Unsinn? 20-minütige Gespräche für die Öffentlichkeit ziehen “den Diskurs aus der Forschung heraus”? Also nicht nur #allesdichtmachen, sondern vor allem auch #allesabschalten?
Es entstehe ein Ungleichgewicht («false balance») der wissenschaftlichen Standpunkte, so der Geschäftsführer des Centers für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS), das unter anderem Desinformation in sozialen Medien beobachtet. Zu False Balance siehe dort.

Zum neu gegründeten CeMAS dürfte dpa erwähnen, dass es just von einer Unternehmens-Stiftung finanziert wird (in den bescheidenen Worten der CeMAS-Macher: “Die Alfred Landecker Foundation hat die Bedeutung der Arbeit von CeMAS frühzeitig erkannt.”)
Und genau solche Finanzierungen  der Desinformations-Checker sind Thema im Gespräch von Volker Bruch, nämlich mit Prof. Michael Meyen (LMU). Diese unmittelbare Betroffenheit von der Kritik nicht zu thematisieren ist keine Lappalie.

«Man holt sich Vertreter und Vertreterinnen einer wissenschaftlichen Minderheitenmeinung und setzt ihnen Gesprächspartner aus Kunst, Kultur und Schauspiel gegenüber statt anderer Forschender.» Ein Verfahren, von dem man im  Journalismus schon mal gehört haben könnte… Oder welcher dpa-Professor interviewte den  studentischen Forscher Holnburger ?
In den Videos kommen einige Menschen zu Wort, die Experten auf ihrem Gebiet sind, darunter der Medizinstatistiker Gerd Antes oder der Virologe Klaus Stöhr. Bsp. Antes-Interview in der ZEIT:
https://www.zeit.de/2020/40/coronavirus-zahlen-umgang-jens-spahn-gerd-antes
Ihre Stimmen wurden in der Pandemie regelmäßig in großen Medien gehört. Was ist das für eine Aussage? Deshalb haben sie bei der Aktion nichts verloren?
Mehrere der Gesprächspartner sind jedoch bereits durch Äußerungen aufgefallen, die die Gefahr durch das Coronavirus verharmlosen.  Wer, mit welchen Positionen? (Sehr gespannt auf die Definition von “Verharmlosen”, was schließlich eine objektiv feststellbare Gefahrengröße verlangt.)

Und die übrigen Gesprächspartner? Die weder “in großen Medien gehört” wurden noch “durch Äußerungen aufgefallen” sind?

 

Fazit: Über die eigentliche Aktion erfährt man in diesem Bericht (mal wieder) nichts. Wirklich gar nichts. Niemand kann nach dem Lesen auch nur eine realistische Ahnung davon haben, was da in rund 16 Stunden Interviews verhandelt wird. Ohne jede Inhaltsangabe wird #allesaufdentisch in Bezug zu #allesdichtmachen gesetzt (obwohl das ein grundlegend anderer Debattenbeitrag war). Obwohl wir Leser nichts zum Inhalt erfahren, wird uns sehr ausführlich dargetan, dass  hier irgendwas “schädlich” ist, sicher “Verschwörungstheorien” darunter…

Und in vielen Redaktionen wird diese dpa-Meldung als Grundlage genommen für munteres Weiterkommentieren.

Nachtrag: Im Oktober kam auch ein zweiteiliges Gespräch zwischen Jan Josef Liefers und Stephan Russ-Mohl dazu.

3 Gedanken zu „Alles auf den Tisch? Um Gottes Willen, nicht doch!

  1. Jochen 2

    du solltest dpa fragen wie man Kritik formulieren muss damit sie nich als Verschwörungserzählung gewertet wird. Ist das überhaupt noch möglich? kennst du da Beispiele?

  2. Pingback: Medienkritik zum Corona-Journalismus (Sammlung) | SpiegelKritik

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