Autopsie: Das Ende der Maskenpflicht naht

Als Beispiel für die anhaltenden Probleme des Corona-Journalismus wird nachfolgend eine längere, ungekürzte Artikel-Passage auf Qualitätsdefizite hin untersucht. Die Passage entstammt dem Artikel „Das Ende der Maskenpflicht naht“ von Deniz Aykanat, Thomas Balbierer, Johann Osel und Lisa Schnell in der Süddeutschen Zeitung (Print vom 23.11.2022, online seit 22.11.2022, jedoch datiert auf 23.11.). Diskussion bzw. Hinweise zu den Befunden sind wie immer willkommen.

 

Passage aus Süddeutsche.de Anmerkung Stichwort
[Aus Teaser:] Ärzte sind sich uneins darüber, ob die Abschaffung zum richtigen Zeitpunkt kommt. […] Dass sich irgendwelche großen, nicht näher bestimmbare Mengen von Individuen nicht einer Meinung sind, ist der Normalfall. Journalisten nutzen es aber nach Belieben, um diskussionswürdige Konflikte zu konstruieren. Das ist bei Meinungen allerdings sinnfrei. Relevanz
Unter Wissenschaftlern gehen die Ansichten dazu auseinander. [Bezug: “ Das Bundesgesundheitsministerium warnt dagegen vor dem Wegfall der Maske im Nahverkehr.“] Trennung zwischen Messung (Forschung, Fakten) und Bewertung (Meinungen über Fakten). Was ist die Fragestellung? Dem Teaser zu folge könnte die Frage sein: Wann ist der richtige Zeitpunkt für die Abschaffung der Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr? (Siehe auch Fazit unten) Relevanz (Neuigkeit)
[Christoph Spinner,] Wie wurden die nachfolgenden drei Zitatgeber ausgewählt? Transparenz
Christoph Spinner, Infektiologe am Universitätsklinikum rechts der Isar in München, sieht die Zeit für ein Ende der Maskenpflicht gekommen. „Warum denn nicht? Die Inzidenzen sind niedrig, die Gefährlichkeit von Covid-19 ist deutlich gefallen und auch die Sterblichkeit hat abgenommen.“ Was sind seine Bewertungsparameter? Bei welcher Inzidenz, bei welcher Gefährlichkeit kippt die Beurteilung der Maskenpflicht von Zustimmung auf Ablehnung? Gehalt
Genauigkeit
Die Wirksamkeit der Masken stehe außer Frage, Beleg? Sollte es sich um gesichertes Allgemeinwissen handeln, wäre die Aussage überflüssig und es bräuchte für sie keinen Experten. Richtigkeit
und natürlich sei ein Passagier mit einer FFP2-Maske in der U-Bahn besser geschützt als jemand ohne Maske. Beleg? s.o. Richtigkeit
„Aber bei einer Verpflichtung geht es um eine Risiko-Nutzen-Abwägung“, so Spinner. Welches Risiko besteht bei der Verpflichtung zum Masketragen? Wurde und wird nicht ausgeführt. Vollständigkeit
Argumentation
Es sei angebracht, dass der Staat die Entscheidung über das Tragen einer Maske nun zurück in die Hände der Bürgerinnen und Bürger lege. Auch  wenn die Rede vom „Staat“ als Akteur gang und gäbe ist, ist sie stets unkonkret. Wer genau entscheidet anstelle der „Bürger“, zu denen er offenbar nicht gehört? Regierungspolitiker, Parlamentspolitiker, Verwaltungsmitarbeiter…? Genauigkeit
Man sei an einem Punkt der Pandemie, an dem man mit Corona wie mit anderen Infektionskrankheiten umgehen könne – er nennt das „the new normal“ und meint damit den Übergang in die endemische Phase. Bewertungsparameter? (s.o.) Gehalt
Genauigkeit
Spinner selbst würde nach einem Ende der Pflicht nicht mehr bei jeder Zugfahrt eine Maske tragen. Er betont aber auch, dass sie in gewissen Situationen, etwa vor einem Treffen mit den Großeltern, empfehlenswert sei. „Die Maske wird schließlich nicht verboten.“
Oliver Keppler, Virologe am Max von Pettenkofer-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München hält die Abschaffung im ÖPNV dagegen für verfrüht. „Es ist ein effektives und einfaches Mittel für Menschen, die regelmäßig diese Verkehrsmittel nutzen müssen, sich zu schützen.“ Vor allem vulnerable Gruppen, die auf den ÖPNV angewiesen sind, würden von einer Fortführung der Maskenpflicht profitieren. Es reiche gerade bei ihnen nicht aus, auf die Eigenverantwortung der Menschen zu setzen. Bewertungsgrundlage?
Bewertungsmaßstab? Nach dieser Argumentation muss die Maskenpflicht dauerhaft (und vielerorts) bestehen bleiben bzw. neu eingeführt werden. Und andere Schutzmechanismen lassen sich bestimmt auch finden, die dann vorgeschrieben werden müssten. Nur aber gerade den Status quo für das richtige Maß zu halten ohne jedwede Begründung ist Willkür.
Argumentation
„Viele glauben, dass es für den eigenen Schutz keinen Unterschied macht, ob man als Einzelner eine Maske trägt und die anderen nicht oder ob alle um einen herum auch eine Maske tragen. Aerosolstudien legen nahe, dass der Schutz vor einer Infektion aber um bis zu 70-fach höher ist, wenn die große Mehrheit eine FFP2-Maske trägt.“ Beleg? „Aerosolstudien legen nahe“ ist kein Fakt, sondern eine Meinung (Interpretation von Befunden). Ob er sich auf Laborversuche oder Feldbeobachtungen bezieht, bleibt mangels Belegen (Plural!) offen Richtigkeit
Anders sei es etwa im Supermarkt. Dort sei das Expositionsrisiko gegenüber dem Virus weitaus geringer als in U-Bahn, Bus oder Tram. „Man sitzt und steht enorm dicht gedrängt.“ Als Pauschalaussage falsch. Demnach müsste die Maskenpflicht vom Abstand der Fahrgäste abhängig gemacht werden (so wie einst in vielen Verordnungen die Maske vorgeschrieben wurde, wenn ein bestimmter Abstand nicht eingehalten werden können). Richtigkeit
Keppler hält es für geboten, die Maskenpflicht im ÖPNV über den Winter beizubehalten und dann erst je nach Infektionsgeschehen über eine Abschaffung nachzudenken. Bewertungsgrundlage? Keine Angabe dazu, welche Daten nach dem Winter zur Abschaffung der Maskenpflicht  im ÖPNV führen können/ müssen. Gehalt
Genauigkeit
Auch aus Sicht des Bayerischen Hausärzteverbandes spricht viel dafür, die Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln aufrecht zu erhalten. Der Hausärzteverband ist weder als Verband noch in Form seiner Funktionäre „Wissenschaftler“. Allerdings wird dies auch nicht explizit behauptet, die obige Aufzählung von Wissenschaftler-Statements könnte hier zu Ende sein. Genauigkeit
Transparenz
Denn hier – anders als beispielsweise bei einem Restaurantbesuch – hätten die Menschen in aller Regel keine Wahl, ob sie sich dem höheren Infektionsrisiko in geschlossenen Räumen aussetzen wollen. „Wenn die Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln erhalten bleibt, trägt das zum Schutz vor einer Corona-Infektion beispielsweise auf dem Weg zur Arbeit mit Bus oder Bahn bei, gerade auch mit Blick auf den Wegfall der Isolationspflicht bei einer Corona-Infektion.“ Bayern und andere Bundesländer hatten diese vor einigen Tagen gestrichen. Es fehlt die Angabe, dass Corona-infizierte zum Tragen einer Maske verpflichtet sind. (Eine Bezugnahme auf die Ausführungen von Keppler ist nicht möglich.)  Ferner wird nicht ausgeführt, wer hier für den Bayerischen Hausärzteverband spricht Richtigkeit/ Vollständigkeit Quelle

Fazit: Der Artikel stellt zwei verschiedene Bewertungen einer Maskenpflicht vor (Pro und Contra), ohne die Grundlagen für die unterschiedlichen Bewertungen zu benennen. Da er zudem keinerlei Annahme über die quantitative (oder gar qualitative) Breite und Tiefe des Meinungsspektrums zulässt, trägt er nicht zur Orientierung bei. Da es offenbar keinen Streit um die Datengrundlage gibt, fehlt der Hinweis, dass eine Entscheidung gerade nicht bei irgendwelchen Experten liegen kann, sondern in einer Demokratie ausschließlich beim Souverän bzw. dessen Vertretern liegt, es also eine Meinungsbildung der Bevölkerung braucht. Die wesentliche Frage bleibt dabei völlig ungestellt, obwohl sie seit Beginn der Pandemie allgegenwärtig ist: Welchen  Anspruch haben Interessierte, dass andere sich nach ihrem Willen einschränken müssen? Von der ursprünglichen Konstruktion („Flatten the Curve“ etc.) ist im Beitrag keine Rede mehr, stattdessen steht ein nicht näher definierter, potentiell unbegrenzter Gesundheitsschutzanspruch des Einzelnen gegenüber der Allgemeinheit im Raum, ohne dass dieser klar benannt oder gar diskutiert würde.

 

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