Journalistischer Rekord-Fetisch

Journalisten lieben Rekorde. Weil sich  aus jedem Rekord eine Meldung machen lässt. Besonderen Nachrichtenwert haben Rekorde, wenn sie unheilvoll klingen, im negativen Sinne noch nie Dagewesenes verkünden. Bei geschickter Auswahl lassen sich so aus einem Sammelsurium von Daten immer wieder Katastrophenmeldungen basteln. Besonders einfach geht dies bei Entwicklungen,  die zwangsläufig nur in eine Richtung verlaufen können und so permanent Rekord um Rekord bilden: dann werden vom Journalismus eigens dafür aufgestellte ‘Marken geknackt‘.

Beispiel Sterbe-Rekord

Ende Januar vermeldete das Statistische Bundesamt:

>Im Dezember 2020 sind in Deutschland nach vorläufigen Ergebnissen mindestens 106 607 Menschen gestorben. […] Mehr als 100 000 Sterbefälle in einem Dezember gab es zuletzt im Jahr 1969. Damals waren die Sterbefallzahlen im Zuge der Hong-Kong-Grippe erhöht und es wurden 109 134 Sterbefälle gezählt.<
(Destatis Pressemitteilung Nr. 44/2021)

Ein Sterbezahlen-Rekord am Ende des ersten  Cornapandemiejahres war für die Medien natürlich gefundenes Fressen, und so wurde es denn auch flächendeckend vermeldet.

Z.B. bei der Tagesschau, der FAZ, Nau.ch. Der Zusammenhang zu Corona liegt auf der Hand und wird auch vom Statistischen Bundesamt angeboten, das in seiner PM schreibt:

>Beim Robert Koch-Institut wurden für Dezember 2020 insgesamt 20 043 Todesfälle von Personen gemeldet, die zuvor laborbestätigt an COVID-19 erkrankt waren.<

Die Zahl von 106.607 Verstorbenen sollte nicht kleingeredet werden, aber Kontext schadet auch bei Rekorden natürlich nicht. Der Covid-Hinweis der Statistiker ist jedenfalls falsch, denn das RKI sammelt gerade nicht die Daten von Erkrankten, sondern von getesteten Infizierten. Laborbestätigt sind also jeweils nur Viruspartikel, keine Erkrankung.

Um mit der gemessenen absoluten Sterbezahl etwas anfangen zu können, müsste der Journalismuskunde wissen, was denn der zu erwartende Wert gewesen wäre. Dass sich dieser automatisch aus dem Mittel vorheriger Jahre ergeben sollte, ist wenig plausibel, schließlich ändert sich die Grundgesamtheit permanent. Mehr alte Menschen lassen mehr Todesfälle erwarten. Auch müsste gewährleistet sein, dass die vorangegangenen Jahre keinerlei “Sondereffekte” hatten. (Zur Berechnung erwarteter Todeszahlen siehe Giacomo De Nicola/  Göran Kauermann/ Michael Höhle (2021): On assessing excess mortality in Germany during the
COVID-19 pandemic)

Ein Blick auf die ganze Zeitenreihe zeigt dann auch schnell, was zu erwarten ist: steigende Sterbezahlen (Spalten: männlich, weiblich, gesamt):

(Zahlen via Destatis)

Ein Blick in die jüngeren  Daten zeigt dann gleich einen von den Medien (und dem Amt) übersehenen Rekord: Im März 2018 starben nicht nur mehr Menschen als in allen Märzen drumherum, sondern sogar mehr Menschen als im Rekord-Dezember 2020, nämlich 107.103.

Eine Rekord-Meldung sucht man dazu allerdings sowohl in der Presse als auch beim Statistischen Bundesamt vergeblich.

(Dieser Post wurde nachgetragen, weil bereits 2021 dazu veröffentlichte Belege nicht mehr verfügbar waren.)

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