Es war ein eher typisch zu nennender Tweet, den Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach am Donnerstag auf X (Twitter) veröffentlichte, im Duktus des Machers, vielleicht auch des Bosses, der die Ansagen macht und dem seine Untergebenen folgen:
1. Heute Abend verabschiedet der Bundestag das Krankenhaus Transparenzgesetz. In Klinikatlas werden Level I-II, Leistungen, Fachärzte, Pflege, Spezialisierungen und Komplikationen für benötigte Eingriffe offengelegt. Ein Meilenstein für die Patienten. Was tun gegen Insolvenzen?<
(Karl Lauterbach am 19. Oktober 2023 um 17:52 Uhr auf X)
Auf die Kommentierung „klingt nach großer Bedeutung es Parlaments, wenn das Ergebnis vor der Abstimmung feststeht“ reagierte ein anderer User mit der Bemerkung: „Klingt so, als hätte die Regierung eine Mehrheit.“
Doch ist es wirklich so einfach? Natürlich war Lauterbachs Prognose nach aller Lebenserfahrung nicht sehr gewagt – und traf auch zu. Aber durfte er sicher sein, sein Gesetz durchs Parlament zu bekommen? Immerhin standen zweite und dritte Lesung auf der Tagesordnung, vorgesehen für den Zeitraum von 22:15 Uhr bis 22:30 Uhr, an einem Sitzungstag, der von 9 Uhr morgens bis kurz vor Mitternacht dauern sollte.
Die meisten Gesetzentwürfe werden von der Regierung eingebracht, von den Vorlagen der Oppositionsparteien wurde in dieser Legislaturperiode noch keine einzige angenommen (Statistik als pdf). Die inhaltlichen Beratungen finden vor allem in den Ausschüssen statt, in die der jeweilige Gesetzentwurf vom Parlament überwiesen wird. „Der Gesetzgeber“ ist hingegen das Parlament. Und dieses sollte nicht nur formal etwas anders sein als die Regierung, auch wenn es Fraktionen gibt, also Zusammenschlüsse von Abgeordneten, die nicht alle derselben Partei angehören müssen, und auch wenn es Koalitionen gibt, die zwischen Parteien gebildet werden.
Sollte nach den Beratungen und Veränderungen in den Ausschüssen alles geklärt sein – wozu dann noch zwei weitere Verhandlungen im Parlament (wovon eben zweite und dritte Lesung regelmäßig zusammengezogen werden)? Für wen treten dann noch Abgeordnete ans Rednerpult, wenn sich in der eigenen Fraktion oder Koalition ohnehin alle einig sind, man die Gegenseite nicht von seinen Positionen überzeugen will und für Argumente der anderen Seiten nicht mehr offen ist?
Gesetzesberatungen im Parlament sind öffentlich, über einzelne berichten die Medien. Der Bundestag selbst betreibt seit langem selbst intensive Öffentlichkeitsarbeit, in der Gesellschaft kann und soll darüber diskutiert werden. Nicht zuletzt Abgeordnete stellen ihre Positionen persönlich zur Debatte, wie eben Lauterbach mit seinen Social-Media-Posts. Sollte dies alles ohne Rückwirkung auf den parlamentarischen Beratungsprozess bleiben, ohne Impulse für die Meinungsbildung der Abgeordneten?
Dass Exekutive (Regierung) und Legislative (Parlament) fälschlich als Einheit wahrgenommen werden, spricht schon aus einer weit verbreiteten Definition unserer Demokratie: Sie biete die Möglichkeit, in regelmäßigen Abständen die Regierungsmacht neu zu vergeben. Entsprechend müssten die Bürger umgekehrt auch zeitlich befristet mit denen leben, die sie gewählt hätten.
Dabei können die Bürger gar keine Regierung bestimmen, wie an jedem Wahlabend deutlich wird. Mit den ersten Hochrechnungen wird über Optionen diskutiert: wer könnte mit wem zusammengehen? Auch mit der augenblicklichen Zusammensetzung des Bundestags wäre eine völlig andere Regierung möglich gewesen, wenn sich andere Parteien auf eine Zusammenarbeit und die Wahl eines Bundeskanzlers oder einer Bundeskanzlerin geeinigt hätten. Der Wähler kann dies nicht bestimmen.
Und schon gar nicht kann der Wähler die Minister einer Regierung bestimmen. Das handeln die Fraktionen untereinander aus, und der Bundeskanzler entscheidet (formal schlägt er seine Minister dem Bundespräsidenten vor, der sie dann ernennt, Art. 64 GG). Abgeordnete sind nach dem Grundgesetz in ihren Abstimmungen völlig frei, „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden“ (Art. 38 GG). Dass sie in einzelnen Sachfragen aufgrund zu geringer eigener Kenntnisse den Empfehlungen ihrer jeweiligen Fraktionsspitze folgen, darf eher als hinzunehmendes Übel denn als Ausdruck bester Demokratiearbeit verstanden werden.
Wenn allerdings das Ergebnis von Abstimmungen über Gesetze bis auf die wenigen Fälle, in denen der sogenannte „Fraktionszwang“ (verfassungsrechtlich eher „Fraktionsdisziplin„) aufgehoben wird, tatsächlich immer schon vorher feststeht, dürfte man zurecht eine deutliche Vereinfachung des Verfahrens fordern – allem voran eine drastische Verkleinerung des Parlaments, das sich für seine Ausschussarbeit schließlich jederzeit beliebig Expertise von außen dazu holen kann.
Es sollte im Interesse der Abgeordneten selbst liegen, öffentlichen Befürchtungen reiner Block-Abstimmungen durch Offenheit für Argumente entgegenzutreten. In einer parlamentarischen Demokratie sind die zentralen Orte dafür eben die Parlamente. Nur an den dort geführten Debatten können die Bürger letztlich beurteilen, wie engagiert für ihre jeweiligen Interessen gestritten wird und wie es um das Bemühen steht, widerstreitende Positionen abzuwiegen.
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