Für das Orientierungsangebot des Journalismus ist es essentiell, bei Aussagen zwischen Tatsachen und Meinungen zu unterscheiden. Dies betrifft die Recherche genauso wie die Darstellung/ Vermittlung. Denn während einer Tatsache keine „alternativen Fakten“ gegenüberzustellen sind, verlangt das Angebot zur Einordnung stets die gesamte Bandbreite an Meinungen.
Während der deutsche Pressekodex diesen Grundsatz nicht enthält, sagt das österreichische Pendant: „Für die Leserinnen und Leser muss klar sein, ob es sich bei einer journalistischen Darstellung um einen Tatsachenbericht oder die Wiedergabe von Fremdmeinung(en) oder um einen Kommentar handelt.“ (Österreichischer Presserat 2019: § 3.1)
Die Schweizer Selbstregulation formuliert: „Die Wahrheitssuche stellt den Ausgangspunkt der Informationstätigkeit dar.“ (Schweizer Presserat 2022: § 1.1) Da Meinungen keine Wahrheiten darstellen, lässt sich das Diskriminierungsgebot davon ableiten. Entsprechend für Deutschland: „Die Achtung vor der Wahrheit […] und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse.“ (Deutscher Presserat 2021: § 1)
In der Praktikerliteratur wie den Grundlagenwerken zur Journalistik taucht die Trennung von Tatsachen und Meinungen oft nur als selbstverständliche Randnotiz auf (Bölz 2018: 164; Thomaß 2012: 395; Russ-Mohl 2010: 61; Ludwig 2007: 68; kritisch Weischenberg 1995: 165-168; empirische Befunde bei Schönbach 1977).
Die Bedeutsamkeit einer Unterscheidung von Tatsachen und Meinungen für die Kommunikation und damit auch für Journalismus und Journalistik kann kaum überschätzt werden, denn die enthaltenen Informationen unterscheiden sich grundlegend. In einer Vielzahl von Fällen journalistischer Qualitätsdefizite ist die mangelhafte Unterscheidung von Tatsachen und Meinungen ursächlich (Rieg 2024: 15ff). Zugleich erscheint das Bewusstsein für dieses Qualitätsdefizit nicht sehr ausgeprägt.
Deshalb wird in diesem Beitrag die Unterscheidung von Tatsachen und Meinungen im Journalismus erörtert und mit Beispielen (B*, Quelle hinter dem Literaturverzeichnis) zur Diskussion gestellt. Leitendes Kriterium ist dabei das (mögliche) Orientierungsangebot journalistischer Produkte für Rezipienten (vgl. Meier 2018: 14f).
Dabei gibt es sicherlich noch Lücken, vielleicht auch Widersprüche. Entsprechend willkommen sind Kommentare, um die hiesigen Überlegungen weiterzuentwickeln, ggf. auch zu revidieren.
Übersicht:
a) Tatsachen
b) Meinungen
c) Die Äußerung einer Meinung
d) Tatsachen und Werturteile im Recht
e) Fallbeispiele zur Trennung von Tatsachen und Meinungen
f) Wertung mit (implizitem) Wertmaßstab
g) Wertungen ohne (verbindlichen) Wertmaßstab
h) Meinungen ohne Meinende
i) Plausibilität ist Meinung
j) weitere Begriffe und Abgrenzungen
k) Abgrenzungsprobleme
l) Weitere Fallbeispiele zur Abgrenzung
m) Definitionen
n) Indizien bzw. Indikatoren
o) Schlussfolgerungen für die journalistische Praxis
p) Tatsachen-Meinungs-Unterscheidung (erster Entwurf)
A1) Literatur
A2) Belege
A3) Fußnoten
a) Tatsachen sind bewiesen und nicht widerlegt – womit sie behauptende Aussagen per definitionem gegenwärtig als richtig gelten. Ungeachtet der verschiedenen philosophischen Wahrheitstheorien zeigt schon ein kurzer Blick in die (jüngste) Geschichte, dass neue Erkenntnisse bis dato für Tatsachen Gehaltenes verwerfen können. Dann erweist sich eine frühere Tatsachenbehauptung als falsch. Da unser gesamtes Wissen unter diesem Vorbehalt steht, dass alles auch ganz anders sein kann, sich bisher jedoch unserer Erkenntnis entzieht, muss dies in der kommunikativen Praxis nicht permanent eigens erwähnt werden. Mit Tatsachen verständigen wir uns über die Welt, so wie wir sie bisher erkennen (können) bzw. benennen. Dass andere Wesen (zu anderen Zeiten) unsere Tatsachenbehauptungen nicht teilen, sollte unsere Kommunikation nicht stören.
Bsp. 1: Insekten sehen mit ihren UV-, Blau- und Grünlichtrezeptoren Pflanzen anders als Menschen, und auch die Insekten selbst unterscheiden sich in ihrer optischen Wahrnehmung sogar innerhalb von Gattungen (Briscoe/ Chittka 2001). Eine uns einfarbig erscheinende Blüte hat ggf. in den Augen von Bienen attraktive Muster. Dennoch betrachten wir für unsere menschliche Kommunikation sinnvollerweise die Einfarbigkeit der Blüte als Tatsache, ohne ständig einzuschränken, dass dies nur an unserer unvollständigen Wahrnehmung liegt. Ebenso sprechen wir zurecht von nächtlicher Stille, obwohl laut schreiende Fledermäuse über uns flattern (B1).
Eine Tatsachenbehauptung, die sich irgendwann als falsch erweist, war schon immer falsch (sofern die neue Erkenntnis in diesem Punkt dauerhaft richtig ist). Dennoch wurde sie bis zu dieser neuen Erkenntnis zurecht als Tatsache behandelt – vorausgesetzt, sie galt im Rahmen des Möglichen als bewiesen (bzw. im Popper’schn Sinne (1935: 185-209) als „bewährt“) und wurde nicht faktisch begründet bezweifelt, so dass sie als Tatsachenvermutung (s.u.) darzustellen gewesen wäre.
Bsp. 2: Solange der Mensch Flechten für Pflanzen hielt (ähnlich den Moosen), war diese Bezeichnung für die nach gegenwärtigem Forschungsstand tatsächlich vorliegende Lebensgemeinschaft von Pilzen und Grünalgen bzw. Cyanobakterien für die alltägliche Verständigung nicht zu beanstanden. Auf den Begriff bauende biologische Schlussfolgerungen hingegen mussten falsch sein. Bis ins 19. Jahrhundert galt die Aussage „Flechten sind Pflanzen“ als Tatsachenbeschreibung, die sich retrospektiv zwar als falsche Tatsachenbehauptung entpuppt, damit aber keinesfalls zu einer ‚überholten Meinung‘ wird, auch wenn dies der Sprachgebrauch nahelegt („Die Menschen waren damals der Meinung, Flechten seien Pflanzen“). So wie später Pilze von Pflanzen geschieden wurden, steht auch die heutige Nomenklatur unter dem Vorbehalt neuer Erkenntnisse (und Definitionen).
Tatsachen sind daher nicht zu verwechseln mit Tatsachenbehauptungen. Bezeichnen sie tatsächlich Tatsachen, lassen wir der Einfachheit und Deutlichkeit halber den Zusatz „-behauptung“ weg. Soweit aber dem Sprecher ein Beweis fehlt, handelt es sich de facto um eine Tatsachenvermutung bzw. Tatsachenannahme (Hypothese, Spekulation, Mutmaßung, epistemische Modalitäten), die korrekterweise auch als solche vorgetragen wird. Dazu gehören auch alle unbewiesenen Interpretationen (Deutungen, Erklärungen) (Bsp. ZEIT-Bericht über den Absturz des Germanwings-Flugs 9525 bei Haller 2017: 102).
Aussagen müssen dauerhaft Tatsachenbehauptungen bleiben, wenn sie ausschließlich durch Versicherung eigenen Erlebens des Sprechers belegt und grundsätzlich nicht falsifiziert werden können, weshalb man sie nur glauben oder nicht glauben bzw. zu einem bestimmten Grad für plausibel halten kann (>Heute Nacht stand ein Geist neben meinem Bett<). Sie sind nicht falsifizierbare Bezeugungen.
Als Sonderfall abgrenzen lassen sich Behauptungen über zukünftige Tatsachen, also Prognosen (Vorhersagen, Prophezeiungen). Sie sind im Moment der Äußerung noch nicht auf ihre Richtigkeit hin prüfbar, zu einem späteren Zeitpunkt hingegen schon; sie sind „nicht wahrheitsdefinit“ (Zoglauer 2016: 24). Da Prognosen immer Annahmen über künftige Tatsachen sind, wäre der Begriff „Tatsachenprognose“ tautologisch. Je nach behauptetem Zutreffen ist eine Prognose entweder eine Tatsachenbehauptung (>morgen wird es 30 Grad warm werden<) oder eine Tatsachenvermutungen (>später könnte es noch regnen<).
Tatsachenbehauptungen, Tatsachenvermutungen und Prognosen, die nach derzeitigem Erkenntnisstand grundsätzlich dem Beweis nicht zugänglich sind, also realistisch auch nicht zukünftig, und sich nicht auf eigenes Erleben beziehen (s.o.), gehören in die Sphäre des Glaubens, also des ausschließlich persönlichen Fürwahrhaltens eines nicht erweislichen Sachverhalts. Dazu zählen das Credo vom Leben nach dem Tod (a. A. ist ein Anbieter von Einstellungstest-Trainings (B2)) genauso wie die „Big-Bang-Theorie“ mit ihrem Ausgangspunkt einer Urknall-Singularität (B3).
Es gibt also keine „falschen Tatsachen“, weil sie dann schlicht keine Tatsachen sind. Was es gibt, sind falsche Tatsachenbehauptungen, die auf Irrtum oder Lüge („Fake News“) beruhen können, und es gibt – sich erst später als solche erweisende – falsche Tatsachenvermutungen. Nicht-falsche Tatsachenbehauptungen sind solche, die der sie Äußernde als bewiesen ausgibt, die jedoch noch nicht allgemein anerkannt, aber auch nicht widerlegt sind. Alle Formen können unter dem Begriff „Tatsachenaussage“ subsummiert werden.
b) Meinungen hingegen sind (Be-)wertungen von Tatsachen, Tatsachenbehauptungen und Tatsachenvermutungen ohne für den jeweiligen Kontext verbindlichen Wertungsmaßstab. Meinungen können auch andere Meinungen bewerten, jedoch nie ohne (oft unausgesprochenen) Bezug auf Tatsachenaussagen (Wertungsobjekte).
Meinungen sind weder richtig noch falsch, aber sie können sich argumentativ deutlich unterscheiden (weshalb Argumentation/ Argumentativität nicht nur in der Rhetorik, sondern auch in der journalistischen Qualitätsmessung ein Thema ist). Kennzeichnend für eine Meinung ist zweierlei:
1. der Äußernde kann sie jederzeit ändern, ohne damit Falsches zu behaupten;
2. es können beliebig viele nebeneinander und zeitlich unbeschränkt bestehen.
Für Tatsachen gilt beides nicht, für Tatsachenvermutung nur bis zur Tatsachenfeststellung, also zeitlich nicht unbeschränkt.
In der Alltagssprache (und dieser folgend in der Rechtsprechung) wird vieles als Meinung präsentiert, das aber im Journalismus als Tatsachenaussage zu behandeln ist. Dies wird gleich an Beispielen verdeutlicht.
Wertungen mit verbindlichen Wertungsmaßstäben sind hingegen keine Meinung, da eine andere Bewertung nicht möglich ist – siehe (f). Wenn die Schulnote „4“ bzw. „ausreichend“ definiert ist als Erbringen von 50 bis 65 Prozent der geforderten Leistung (B4), dann ist die darauf basierende Notenvergabe keine Meinung, sondern eine Tatsache (die ggf. verwaltungsgerichtlich geprüft werden kann).[1] Der Bewertungsmaßstab selbst ist natürlich wie jede normative Setzung eine kodifizierte Meinung – er ist jederzeit von der Politik bzw. den zuständigen Personen änderbar. Deshalb sollte jedenfalls der Journalist bei der Recherche diese Änderbarkeit stets mitdenken. „Der in Mathematik schlechte Schüler“ ist als Tatsache nur ein „laut schulischer Benotung schlechter Schüler“, ein „betrunkener Radfahrer“ in der Polizei-Pressemitteilung zunächst nur nach Bewertung des gemessenen Promillewerts betrunken.
Da Meinungsbekundungen die Tatsachenbehauptung innewohnt, der Sprecher meine wirklich, was er sagt (inkl. korrekt interpretierter Uneigentlichkeit, vgl. Tropus (Däschler 2016)), müssten wir korrekt von Meinungsbehauptungen sprechen[2]; weil der Behauptungscharakter jedoch jeder Meinungsbekundung innewohnt, können wir darauf verzichten, soweit kein Grund zu der Annahme besteht, die geäußerte Meinung könnte nicht der tatsächlichen entsprechen (z.B. durch Bedrohung oder zum Erschleichen eines Vorteils) – siehe (c). Solche Fälle sollten zur Verdeutlichung zusammen mit Gründen fürs Bezweifeln als Meinungsbehauptungen bezeichnet werden.
c) Die Äußerung einer Meinung selbst ist wiederum eine Tatsache (Ereignis). >A sagte, B sei doof< ist dann eine Tatsache zu dieser Meinungsäußerung.
Eine unwahre Meinungsbehauptung ist entsprechend eine falsche Tatsachenaussage, nämlich über die eigene Meinung.[3]
d) In der Rechtswissenschaft werden Tatsachen sog. Werturteile gegenübergestellt (K. Weber 2019: 198 „Beleidigung“ Nr. 2), während der Begriff Meinung weiter gefasst wird. Dies ist für die Auslegung des Art. 5 Abs. 1 GG und der diesen präzisierenden Gesetze notwendig. So sagt das BVerfG (1 BvR 456/95): „Denn auch Tatsachenbehauptungen genießen den Schutz der Meinungsfreiheit, wenn die mitgeteilten Tatsachen der Meinungsbildung dienen“, und verweist auf seinen Senatsbeschluss 1 BvR 1376/79, wonach im politischen Meinungskampf auch scharfe Polemik (hier: dass „die CSU die NPD von Europa“ sei) unter die Meinungsfreiheit fallen könne, wobei das Gericht zustimmt: „Die Mitteilung einer Tatsache ist im strengen Sinne keine Äußerung einer ‚Meinung'“.
2011 formulierte das Gericht:
„Vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit umfasst sind zum einen Meinungen, das heißt durch das Element der Stellungnahme und des Dafürhaltens geprägte Äußerungen. Sie fallen stets in den Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, ohne dass es dabei darauf ankäme, ob sie sich als wahr oder unwahr erweisen, ob sie begründet oder grundlos, emotional oder rational sind, oder ob sie als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt werden (vgl. BVerfGE 90, 241 <247>; 124, 300 <320>).“ (BVerfG 1 BvR 917/09 Rn. 18)
Diese weite Begriffsfassung ist nötig, „da in einer pluralistischen Gesellschaft verbindliche Maßstäbe zur Entscheidung solcher Wertfragen gerade nicht zur Verfügung stehen und konsensfähige Entscheidungen sich erst aus dem Widerstreit gegensätzlicher Auffassungen entwickeln“ (Branahl 2019: 105).
Das Landgericht Hamburg stellte bspw. in einem Beschluss fest: „Doch auch wenn der Grat zwischen einer als Meinungsäußerung einzuordnenden Vermutung und der Erweckung eines tatsächlichen Verdachts mitunter schmal ist […]“ (LG Hamburg 324 O 228/23: 13). Im selben Themenkreis befand das LG die Aussagen „the girl that got spiked AT Rammstein. please read my posts“ bzw. „I was spiked at the concert, only had 2 drinks at pre party. And T. gave everybody a tequila shot. I don’t know when this happened or how“ (B25) als Meinung: „Bei dieser Sachlage ist für Leserinnen und Leser erkennbar, dass die Antragsgegnerin Schlussfolgerungen aus unstreitigen Tatsachen zieht und somit keine Verdachtsäußerung, sondern eine wertende Äußerung tätigt (vgl. BGH, Urt. v. 27.09.2016 – VI ZR 250/13 –, Rn. 11).“ (LG Hamburg 324 O 256/23 Rn. 8[4])
Nach der hiesigen strikten Trennung ist eine Vermutung jedoch gerade keine Meinung, sondern eine Tatsachenannahme (von welcher der sie Äußernde zu einem bestimmten Grad überzeugt ist). Denn es kann am Ende nur eine Vermutung zutreffend gewesen sein, es können nicht beliebig viele dauerhaft parallel bestehen.
Der BGH sah 1982 im Kontext die Aussage, „die Kassenarztpraxen an den Universitätskliniken seien illegal„, nicht als Tatsachenbehauptung an, sondern als „auf subjektiver Wertung“ beruhendes Werturteil (BGH VI ZR 251/80). Das OLG Hamburg (7 U 74/18) wertete in einem Dialog „Lügenpresse“ im Sinne eines aktuellen Synonyms zu „Gossenblatt“ als Meinungsäußerung.
Der Begriff Werturteil trifft eigentlich gut, was hier unter Meinung verstanden wird, da die individuelle, gerade nicht allgemeinverbindliche, oft ideelle Bewertung zum Ausdruck kommt (vgl. „Wertmaßstab“, Duden: a). Allerdings ist er in der Journalistik weniger gebräuchlich, die Gegenüberstellung von Tatsachen und Meinungen hingegen üblich, welche daher auch hier beibehalten wird. Zudem klingt Werturteil ein wenig nach der Anwendung eines individuell konsistenten Wertmaßstabs, der jedoch keine Voraussetzung für eine Meinungsäußerung ist. Ferner könnte es zu begrifflichen Verwirrungen führen, dass korrekt vorgenommene Wertungen auch Tatsachen sein können, siehe oben Schulnoten, aber auch TÜV-Plaketten (die Hauptuntersuchung des Fahrzeugs führte zur Wertung als verkehrstauglich nach § 29 Abs. 3 StVZO), weil in diesen Fällen keine andere Wertung möglich ist (ausf. unter (f)).[5]
Auch Tatsachen werden im juristischen Sprachgebrauch etwas weiter gefasst als hier, nämlich als „Vorgänge, Zustände oder Eigenschaften, die wahrnehmbar in Erscheinung getreten und dem Beweis zugänglich sind“ (Hartstein 2022, Rn. 11).
e) Die strikte Trennung von Tatsachen und Meinungen verlangt eine genaue Betrachtung von Aussagen, da in ihnen regelmäßig beides vorkommen kann und oft eng mit einander verknüpft ist. Für die Erörterung von Qualitätsfragen müssen daher ggf. als Einheit auftretende Aussagen in diese Bestandteile zerlegt werden.
Bsp. 3: Sprecher A: „Ich meine, dass X hinter den Anschlägen auf die Nord Stream Pipelines steckt, davon bin ich 100-prozentig überzeugt.“
Sprecher B: „Ich glaube eher, am Ende kommt raus, dass Y es war.“
Sprecher A vermutet eine Tatsache (X steckt hinter den Anschlägen) und verbindet sie mit der Meinung, von der Richtigkeit dieser Tatsachenvermutung vollständig überzeugt zu sein.[6]
Sprecher B vermutet eine andere Tatsache (Y steckt hinter den Anschlägen), auch wenn dies mit den Worten „ich glaube“ eingeleitet wird. Da es sich um eine potentiell prüfbare Aussage handelt, gehört sie nicht in die Glaubens-Sphäre. Vielmehr ist nur die Aussage „ich glaube eher“ eine Meinungsbekundung, nämlich die Bewertung der Richtigkeit (oder Wahrheitswahrscheinlichkeit) nachfolgender Tatsachenvermutung.
Ob eine einzelne Aussage eine Tatsachenbehauptung oder eine Meinungsbekundung ist, hängt wie immer vom Kontext ab.
Bsp. 4: „A ist ein waschechter Nazi.“ Wenn es im Kontext eine klare Definition gibt, wer als Nazi zu bezeichnen ist, handelt es sich um eine Tatsachenbehauptung. Andernfalls ist es eine Meinung, die ggf. durch den Kontext auch den individuell verwendeten Wertungsmaßstab impliziert (z.B. „Für mich ist jeder, der X sagt/ gegen Y ist/ Z wählt, ein Nazi“).
Bsp. 5: A sagt zu B: „Dein Hund ist ein Kamel.“
C sagt über B: „B hält sich zuhause ein Kamel.“
Im ersten Fall werden wir es vermutlich (eben je nach Kontext) mit einer Meinungsäußerung zu tun haben, die bedeutet: der Hund stellt sich doof an, wie ein Trampeltier…
Der zweite Fall könnte eine falsche Tatsachenbehauptung sein, z.B. basierend auf dem „Stille-Post-Effekt“ (vor dem selbst die KoWi nicht gefeit ist, vgl. Neuberger 2009).
Bsp. 6: „Man kann natürlich auch Desinfektionsmittel trinken, um sich vor Corona zu schützen.“
Im entsprechenden Sprachzusammenhang wird dies eine ironische Aussage sein, die daher eine korrekte Tatsache behauptet, nämlich dass man sich damit nicht schützt, sondern schadet.
Bsp. 7: In einem Interview macht der Journalist den Vorhalt: >Dafür empfiehlt Trump seinen Bürgern das Injizieren von Desinfektionsmitteln.< (B5)
Diese Aussage ist jedenfalls nicht belegt und mit Blick auf die stets angeführte Quelle einer Pressekonferenz vom 23.04.2020 falsch (B6, B7), ungeachtet Trumps späterer Erklärung, es habe sich um Sarkasmus gehandelt (B8). Denn er hatte nicht die Einnahme empfohlen, sondern eine medizinische Prüfung für interessant gehalten. Trump vertrat eine Meinung („it’d be interesting to check that so that your’re gonna have to use medical doctors with, but it sounds, it sounds interesting“), der deutsche Journalist der SZ machte daraus eine unwahre Tatsachenbehauptung.
Ist eine Aussage falsch, kann es sich nicht um eine Meinung handeln, sondern nur um eine falsche Tatsachenbehauptung oder -vermutung. Das ändert sich auch nicht mit der selbst im Journalismus inzwischen verbreiteten Hinzufügung eines „gefühlt“ (B9).
Auch die Darstellungsform „Kommentar“ enthält (meist überwiegend) Tatsachenbehauptungen, die dann individuell bewertet werden.
Bsp. 8: Aus einem fiktiven Kommentar zur ebenso fiktiven Nachricht, am Vortag seien erstmals alle ICE aus Berlin pünktlich in Leipzig eingetroffen:
>Verrückt, dass die Bahn das, was normal sein sollte, als große Nachricht herausstellt. Man sieht daran, dass Zugverspätung das Normale und Pünktlichkeit die Ausnahme ist.< (EIJK 2023: Manual höheres Niveau, S. 8)
„Verrückt“ ist hier eine Meinungsbekundung in der üblichen Kurzform (zu übersetzen als „ich halte es für verrückt“), identifizierbar daran, dass es keinen allgemeinverbindlichen Maßstab gibt, was für verrückt zu halten ist und was nicht. „Was normal sein sollte“ ist ebenfalls eine Meinung (Sprecher ist unzweifelhaft der Kommentator), nämlich die Wertung des Ereignisses (alle ICE aus Berlin waren pünktlich). Das „sollte“ macht deutlich, dass es sich gerade nicht um einen Regelfall handelt, sondern um einen Tatsachenwunsch (‚meiner Ansicht nach sollte die Welt so und so sein‘). „Als Nachricht herausstellt“ ist eine Tatsachenbehauptung; aus dem Kontext der Meldung ergibt sich, dass die Bahn die Pünktlichkeit selbst vermeldet hat. „Groß“ ist eine Wertung, mangels allgemeingültigen Wertungsmaßstabs eine individuelle und damit eine Meinung. „Dass Zugverspätung das Normale und Pünktlichkeit die Ausnahme ist“, stellt hingegen wieder eine Tatsachenbehauptung dar (die nur richtig ist, wenn ansonsten – also in einem betrachteten Zeitraum – die Mehrzahl der ICE unpünktlich eintrifft). Sie wird aus einer falschen Tatsachenbehauptung (Prämisse) abgeleitet, denn aus der Kundgabe eines Tags ohne ICE-Verspätung lässt sich natürlich nicht schließen, dass ansonsten „Pünktlichkeit die Ausnahme ist“.
Tatsache und Meinung innerhalb einer Aussage erkannte der Deutsche Presserat bei folgender Headline:
Bsp. 9: >Die Lockdown-Macher< (B10). Das zugehörige Bild zeigt die Portraits dreier während der Corona-Pandemie medial präsenter Wissenschaftler. Beschwerden gegen die Schlagzeile der ‚Bild‘ führten demnach aus, „der durchschnittlich verständige Leser […] verstehe [sie so], dass die drei genannten Wissenschaftler verantwortlich für Entscheidungen der Bundes- und Landesregierungen seien. Auf diese Weise würden sie zum Stoff für Verschwörungstheorien. Im Übrigen sei ‚Lockdown-Macher‘ eine Personifizierung für die drei, die deren differenzierter und sachlicher wissenschaftlicher Arbeit nicht gerecht werde.“ (B11) Der Presserat hingegen befand – in Übereinstimmung mit der hiesigen Definition –, die Aussage habe „zweifelsfrei einen Tatsachenkern“. Die drei Wissenschaftler hätten „wesentlichen und belegbaren Einfluss auf die Corona-Maßnahmen der Politik ausgeübt“. „Lockdown-Macher“ sei – und hier kommt die Vermischung – „eine Zuspitzung, die polemisch, pointiert und streitbar sein mag, die aber von der Meinungsfreiheit gedeckt ist“. Ist also „Lockdown-Macher“ gleichzeitig eine Tatsache und eine Meinung? Möglich ist dies, z.B. bei vielen Schimpfwörtern wie „Bastard“ (Duden: b), „Bulle“ (Duden: c), aber auch bei im Journalismus gebräuchlicheren Begriffen wie „Freiheitskämpfer“, „Aufständische“, „Rebellen“, „Terroristen“, die alle mit einer persönlichen Wertung verbunden denselben Sachverhalt beschreiben können.[7] Wichtig ist in diesem Beispiel die Feststellung, dass es sich zumindest nicht nur um eine Meinung handelt: ‚Diese drei sind Lockdown-Macher‘ ist in jedem Fall auch eine Tatsachenbehauptung. Sollte sie unzutreffend sein, wäre dies nicht mit einem Verweis auf die Meinungsfreiheit zu rechtfertigen, da falsche Tatsachenbehauptungen dem Orientierungsauftrag des Journalismus immer zuwiderlaufen.
Bsp. 10a: In der „Hamburger Erklärung“ der UseTheNews gGmbH von Mai 2024 heißt es:
>Diskussionen leben von unterschiedlichen Meinungen über unbestreitbare Fakten.< (B12)
Diese Definition greift deutlich zu kurz, denn einen großen Teil jeder Kommunikation bilden Tatsachenvermutungen, die bisher eben keine „unbestreitbaren Fakten“, aber auch keine Meinungen sind (weil man Tatsachen eben nicht ‚meinen‘ kann). Jeder angenommene Kausalzusammenhang, jede Ankündigung der Wirkung einer Maßnahme, jede Spekulation über ein Handlungsmotiv ist eine Tatsachenvermutung. Ob es sich um einen Fakt oder eine Fehlannahme handelt, ist noch ungeklärt (ist es nur dem Sprecher nicht bekannt, handelt es sich im zweiten Fall um eine falsche Tatsachenbehauptung[8]).
f) Wertung mit (implizitem) Wertmaßstab. Auf allgemeingültigen bzw. gebräuchlichen Wertmaßstäben beruhende Werturteile sind Tatsachen, weil damit ein jeder zum selben Ergebnis kommen muss. Der Journalismus kann zwar – und oft muss er – verschiedene Meinungen zu einem so gebildeten Werturteil recherchieren, und es mag verschiedene gebräuchliche Wertmaßstäbe parallel geben, auf die ggf. zu verweisen ist, doch das Werturteil selbst ist in solchen Fällen als Fakt zu begreifen und zu vermitteln.
Bsp. 10b: Typischer Fall ist hier wieder die Rechtsprechung. Der Presserat rügte eine Urteilsdarstellung, weil aus der Überschrift nicht deutlich würde, dass „dieses Urteil für einen jugendlichen Täter durchaus üblich“ sei (B13). Die Üblichkeit und damit die im Rahmen des verbindlichen Maßstabs ‚korrekte‘ (genauer: zulässige) Wertung durch das Gericht steht der parallelen Heranziehung eines anderen Maßstabs (hier: Entsetzen eines Teils der Bevölkerung über die Tat) nicht entgegen. Das Gericht kann also nach dem für sein Handeln gültigen Maßstab richtig, zugleich aber nach einem anderen Maßstab unrichtig geurteilt haben. Soweit dieser Unterschied deutlich wird, wäre die Berichterstattung unter dem Kriterium Orientierungsangebot nicht zu beanstanden.
In der journalistischen Praxis treffen wir aber regelmäßig auf Wertungen, denen nicht unmittelbar ein Wertmaßstab zu entnehmen ist. Eine Tatsachenbehauptung liegt dennoch vor, wenn damit ein Sachverhalt beschrieben anstatt individuell bewertet wird. Dieser Sachverhalt kann richtig, falsch oder mehrdeutig dargestellt sein. Der verwendete Wertmaßstab muss sich dann aus dem Kontext ergeben. Nur wenn es diesen nicht gibt oder er individuell gebildet wurde, handelt es sich um eine Meinung.
Bsp. 11: In einer Zeitungsmeldung heißt es: >Zur Jahreshauptversammlung waren die Vereinsmitglieder zahlreich erschienen.<
Wie viel ist „zahlreich“? Dies wird u.a. von der Vereinsgröße und der ortsüblichen Teilnahmequote bei solchen Veranstaltungen abhängen. Auch wenn unbekannt ist, welcher Wertmaßstab zur Angabe „zahlreich“ geführt hat, wird ein Sachverhalt beschrieben (dessen Richtigkeit uns hier nicht interessieren muss).
Ebenso sollte die Aussage „gut besuchte Versammlung“ verstanden werden, wenn wir uns damit auch einem Grenzbereich nähern. Man wird die Angabe weniger als Lob denn als Mengenangabe verstehen.
Bsp. 12: „Das anhaltend schlechte Wetter führte dazu …“
Obwohl es jedem freisteht, Sturm, Regen oder Schneegestöber zu mögen (individuelle Wertung = Meinung), wird die Angabe „schlechtes Wetter“ im entsprechenden Kontext von allen, die guten Willens sind, als eine Sachverhaltsbeschreibung verstanden werden (aus der sich i.d.R. auch ergeben dürfte, für wen oder was das Wetter schlecht war, z.B. bei einem Open-Air-Festival). Neben beliebig vielen individuellen Wertmaßstäben (Bauer A freut sich über den Regen für seine Wiese, Bauer B wird an der Getreideernte gehindert) gibt es hier auch einen mit allgemein gebräuchlichen Wertmaßstäben verbundenen Sprachgebrauch, der die Aussage als Tatsachenbeschreibung verständlich macht.
Abgesehen von allen auch sonst möglichen Fehlern bei einer Tatsachenerkennung kommt für die falsche Behauptung einer Wertungstatsache vor allem die Verwendung verschiedener Wertungsmaße bei gleichen Sachverhalten in Betracht. Dies wird praktisch auch unter dem Gesichtspunkt der Argumentation bzw. Argumentativität verhandelt, ist aber eindeutig bereits über die Basis-Kategorie Richtigkeit zu erfassen.
Bsp. 13: Wer sich unter Berufung auf das Resozialisierungsgebot gegen die identifizierende Berichterstattung über Straftaten ausspricht, kann davon nicht im Einzelfall abweichen, erst recht nicht, wenn eine Straftat noch gar nicht festgestellt ist. Wer für die identifizierende Berichterstattung auf Ereignisse von zeitgeschichtlicher Bedeutung abhebt (B14), muss dies in allen Fällen tun, die nach dem angelegten und nachvollziehbaren Maßstab zeitgeschichtlich sind. Geschieht dies nicht konsistent, liegt ein Bewertungsfehler vor, der wenigstens implizit zu einer falschen Tatsachenbehauptung führt („dies ist (kein) zeitgeschichtliches Ereignis“). Für nicht falsch kann man Aussagen in solchen Fällen nur halten, wenn sie unzutreffend als Meinung verstanden werden.
g) Wertungen ohne (verbindlichen) Wertmaßstab. Ein Standardfehler im Journalismus ist die Vermittlung eigener Bewertungen statt Beschreibung von Geschehnissen. Verschärft wird das Problem, wenn auch noch der Wertungsmaßstab fehlt, was zwangsläufig eine Meinungsäußerung ergibt (deren journalistisches Orientierungsangebot wegen der Beliebigkeit sehr beschränkt ist).
Bsp. 14: >Wenn Ärzte Corona verharmlosen – oder gar leugnen< (B15) war eine WDR-Meldung überschrieben, in der es dann u.a. hieß:
>Der Ärztekammer Nordrhein sind nach Angaben einer Sprecherin 17 Fälle bekannt, in denen Mediziner das Coronavirus verharmlosen oder gar leugnen.<
Dass Corona bzw. das entsprechende Virus „verharmlost“ wird, ist hier eine Tatsachenbehauptung. Es geht um >Fälle<, und >das Herunterspielen< könne >berufsrechtliche Maßnahmen< wie >eine Rüge< oder >eine empfindliche Geldstrafe< nach sich ziehen, wie es im Beitrag heißt. Für diese Feststellung muss jedoch die Gefährlichkeit des Coronavirus bekannt sein, im vorliegenden Fall konkret der kursierenden Varianten für den konkreten Patienten. Denn zu verharmlosen bedeutet: „(etwas Gefährliches, Riskantes, Bedrohliches o. Ä.) harmloser […] hinstellen, als es in Wirklichkeit ist; bagatellisieren“ (Duden: e). Als Abweichung von dieser nicht angegebenen tatsächlichen Gefährlichkeit gibt der Beitrag das offenbar fiktive Beispiel:
>Der Mediziner wiegelt im persönlichen Gespräch ab. Das Coronavirus? Das sei doch keine wirklich große Bedrohung, meint er.<
Als wie groß also hätte >der Mediziner< die Bedrohung beschreiben müssen, um den Sachverhalt korrekt zu beschreiben? Ab welcher Abweichung davon liegt dann eine Verharmlosung vor (und ab welcher eine Übertreibung)? Der Beitrag präsentiert stattdessen die Wertung eines nicht genannten (und nicht nachvollziehbaren) ‚Messergebnisses‘.[9]
Ein Messfehler führt auch bei Verwendung eines individuellen Maßstabs zu einer falschen Tatsachenaussage. Im Gegensatz zur korrekten Messung kann es sich dabei nicht um eine Meinung handeln.
h) Meinungen ohne Meinende. Jede Meinung braucht jemanden, der sie äußert (auch nonverbal);
„Gerade bei Äußerungen, mit denen der Sprecher sich in hohem Maß identifiziert oder sein eigenes Schicksal darstellt, gehört die Namensnennung daher zu den Voraussetzungen der Vermittlung des Äußerungssinns“ (BVerfG 1 BvR 131/96: Rz 27).
Meinungsäußerungen sind nur Lebewesen möglich[10]. Auch für juristische Personen können nur Menschen Meinungen vertreten (z.B. durch Mehrheitsbeschluss eines Vorstands, einer Mitgliederversammlung, eines Parlaments). Eine Meinung ohne Meinenden wäre eine Nullaussage (B16), da der sie überhaupt erst konstituierende Bezugspunkt fehlt.
Ist in einem journalistischen Beitrag eine Meinung keiner Person zugeordnet, kann sie (nur) als fälschliche Tatsachenbehauptung interpretiert werden. Der Autor kommt als Quelle nur in Betracht, wenn er als solcher in Erscheinung tritt, was auch mit Pseudonym möglich ist, nicht aber bspw. unter einem Agenturnamen. Eine benannte Autorenschaft alleine erlaubt jedoch noch nicht eine Zuordnung jeder ansonsten frei schwebenden Wertung. Sie kann nicht dogmatisch erfolgen, der Meinungsträger muss offenkundig sein.
Bsp. 15: >H&M blamiert sich mit rassistischer Werbung< (B17) betitelte das Manager Magazin eine mit „mg/dpa-af“ gekürzelte Nachricht und brachte damit gleich zwei Wertungen unter. Dass das Anzeigenmotiv, welches einen schwarzen Jungen mit dem Pulloveraufdruck „Coolest Monkey in the Jungle“ zeigte (im Original in Versalien), „rassistisch“ war, ist eine individuelle Wertung, ebenso wie die Aussage, der Modekonzern habe sich damit „blamiert“. Tatsache war allein die (medial entfachte) öffentliche Debatte um die Werbung mit entsprechenden Wertungen. Einzelne Menschen empfanden die Werbung als rassistisch und taten dies öffentlich kund. Dass aber bspw. ein (in jedem Land anders kodifizierter) strafbarer Rassismus vorlag, wurde nicht einmal behauptet (B18). Ein allgemeinverbindlicher Wertungsmaßstab für den rassistischen Gehalt von Reklame fehlt, mithin ist schon die Dimension nicht objektiv feststellbar. Eine zwingend als rassistisch zu wertende Aussage fehlte der Werbung völlig, vielmehr waren einige individuelle Interpretationen der dargebotenen Tatsachen notwendig, um überhaupt mit irgendeinem (nicht benannten) Maßstab zur Rassismus-Wertung zu gelangen.
Sollten individuelle Wertungen in die Headline, müssen sie personalisiert sein. Die gewählte Form hingegen stellt sie mangels Meinungen Äußernder als Tatsachen dar, was folgerichtig jegliche Diskussion über ihre Wirkung obsolet machen muss.
Die Tatsachenbehauptung der Headline ist: ‚Wir haben hier einen Fall von Rassismus.‘ Diese ist falsch, weil die Aussage ‚Diese Werbung ist nicht rassistisch‘ ebenfalls möglich (nämlich nicht falsifizierbar) ist. Dass sich die Firma damit blamiert habe, ist eine wiederum individuelle Wertung der falschen Tatsachenbehauptung, denn auch sie ist alles andere als zwingend. (So war auch die provokative Gegenposition zu finden der Art: ‚People of Color blamieren sich mit Erregung über Hoodie-Werbung‘, die Mutter des fünfjährigen Models wurde angefeindet und zog vorübergehend um (B19), in Südafrika wurden H&M-Läden verwüstet (B20).)
i) Der Trennung von Tatsachen und Meinungen kommt entsprechend nicht nur bei der wissenschaftlichen Analyse journalistischer Beiträge Bedeutung zu, sondern auch bei Diskussionen über die Qualität des Journalismus insgesamt.
Bsp. 16: In einem Interview u.a. zur journalistischen Leistung in der Corona-Pandemie sagte Terra-X-Journalist Dirk Steffens:
>Wendet man das Prinzip des politischen Journalismus – mit allen Seiten zu sprechen – auf den Wissenschaftsjournalismus an, wird es katastrophal falsch. Angenommen, eine Astrophysikerin sagt in einer Talkshow, die Erde sei eine Kugel. dann sitzt da noch einer, der behauptet, die Erde sei eine Scheibe. Die Wahrheit liegt verdammt noch mal nicht in der Mitte. Wenn von zwei Aussagen eine völliger Unsinn ist, darf der Journalismus den Unsinn nicht genauso zu Wort kommen lassen wie die Wahrheit. Das ist unverantwortlicher Quatsch. Wir müssen schauen, wo die größte wissenschaftliche Plausibilität herrscht. Da muss Journalismus ansetzen […]. Wozu bräuchten wir sonst die ganzen Redaktionen, wenn sie nicht in der Lage wären zu beurteilen, was Sinn macht und was nicht. […] Ich werde nicht müde zu sagen: Wenn die andere Seite vollständiger Quatsch ist, dann dürfen wir unsere Zeit nicht damit verschwenden, ihnen zuzuhören.< (B21)
„Mit allen Seiten zu sprechen“ kann notwendig sein, um eine Tatsache zu ermitteln. Das ist das Handwerk jeder (investigativen) Recherche – und jedes Strafprozesses. Übereinstimmende Zeugenbekundungen sind zwar noch kein Beweis (sondern nur Belege), aber die juristische Formel von der „mit an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit“ darf auch im Journalismus bzw. der gesellschaftlichen Kommunikation genügen, etwas als Tatsache zu behandeln.
„Mit allen Seiten zu sprechen“ ist aber vor allem notwendig, um das Meinungsspektrum zum Thema abzubilden.
Die Aussagen, die Erde sei eine Kugel bzw. eine Scheibe, sind jeweils Tatsachenbehauptungen. Da nicht beide Behauptungen wahr sein können, muss mindestens eine falsch sein. Da die erste Aussage als Allgemeinwissen gilt, müsste man journalistisch für die zweite Aussage den Beweis fordern. Solange er nicht erbracht und die erste Aussage über die Kugelform der Erde nicht widerlegt wird, handelt es sich um eine falsche Tatsachenbehauptung bzw. – in Steffens Worten – um Quatsch. Solcher Quatsch gehört natürlich nicht in den Journalismus, weil er keine Orientierungsangebote macht.
Entsprechend ist wissenschaftliche Plausibilität (von Tatsachenvermutungen) Meinung. Denn die Einschätzung der Plausibilität ist eine Wertung. Selbst wenn alle Wissenschaftler eine in ihrem Fach aufgestellte Tatsachenvermutung überzeugend finden, adelt sie dies noch nicht zu einer Tatsache.
Tatsachen sind nicht plausibel, sie sind einfach.
j) Weitere Begriffe und Abgrenzungen
* Für Äußernde selbst ist das, was wir als Meinung einordnen, regelmäßig eine Tatsache: sie sind krank, wenn sie sich krank fühlen, sie finden die Musik tatsächlich schrecklich (und werden nicht morgen etwas anderes sagen), für sie waren die Schmerzen unerträglich etc. „Wenn man eine Empfindung zu haben glaubt, hat man sie tatsächlich“ (Davidson 2005: 53). Das Synonym „Wertung“ macht die korrekte Zuordnung deutlicher: Wer sagt „ich bin krank“, wertet seine verschiedenen Befindlichkeitsmessungen nach individuellem Maßstab eben als Ausdruck von Kranksein.
Die einfachste und sicherste Form der journalistischen Weitergabe ist daher das direkte Zitat:
>X sagt: „Meine Schmerzen waren unerträglich.“<
Bei anderen Darstellungsformen muss der Meinungscharakter der Information deutlich werden.
>Ihren Angaben zufolge litt sie unerträgliche Schmerzen.< Oder:
>Die Schmerzen waren unerträglich, wie sie sagt.<
>Sie habe unerträgliche Schmerzen erlitten.<
Falsch ist entsprechend die Tatsachenform:
>A fügte B dabei unerträgliche Schmerzen zu.<
Zulässig und damit nicht zu beanstanden ist hingegen eine – je nach Sachverhalt naheliegende – Tatsachenvermutung, etwa durch Hinzufügen eines >mutmaßlich< (wenn deutlich wird, wer hier mutmaßt), oder das Aufzeigen einer nicht auszuschließenden Möglichkeit (>vielleicht<, >möglicherweise<, >vorstellbar<, >könnte gewesen sein< etc.).
* Sachverhalt ist die „Gesamtheit von (in einem bestimmten Zusammenhang, unter einem bestimmten Gesichtspunkt) bedeutsamen Umständen, Tatsachen“ (Duden: d), also die zur Beschreibung notwendige Summe von Tatsachenaussagen.
* Ein Ereignis ist immer ‚richtig‘, es kann nur falsch beschrieben werden. Dies gilt auch, wenn das Ereignis selbst eine Inszenierung, ein „Fake“ sein sollte.
* Vorurteile sind Wertungen von Tatsachenvermutungen, von nicht näher betrachteten (oder evtl. gar nicht bekannten) Sachverhalten. Das „Urteil“ könnte erst nach Kenntnis des genauen Sachverhalts erfolgen, wobei es sich dann je nach verwendetem Wertmaßstab um eine Meinung oder eine Tatsachenbehauptung handelt. Die negative Konnotation des Begriffs wird dabei seinem Wesen nicht gerecht. Nicht nur, dass Menschen gänzlich ohne Vorurteile mit der Flut von genauen Sachverhaltsprüfungen überfordert wären (mit ggf. weitreichenden Folgen)[11]; dem Negieren liegt meist ein anderes, entgegengesetztes Vorurteil zugrunde (z.B. >Der sieht kriminell aus< vs. >Er wird ein Mensch wie jeder andere sein<).
* Auch Meinungsbehauptungen können falsche Tatsachenbehauptungen sein, nämlich wenn sie erweislich unwahr sind, s.o. (b). Dies ist weniger der Dogmatik geschuldet, dass Meinungen gar nicht falsch sein können, sondern dem für die Kommunikation (und in Folge auch die Journalismusforschung) relevanten Diskriminierungsgebot. Der Heiratsschwindler macht sich des Betrugs (K. Weber 2019: 720) schuldig, wenn seine Liebesbeteuerungen nicht seiner Meinung entsprachen.
* Eine Lüge ist entsprechend eine falsche Tatsachen- oder Meinungsbehauptung als „bewusst falsche Aussage zur Täuschung anderer“ (DWDS: o.J.).
* Irrtum ist eine unabsichtlich falsche Tatsachenaussage oder eine entsprechende Annahme, die ggf. Grundlage für eine Meinungsäußerung war. Juristisch ist Irrtum „die unbewusste Unkenntnis vom wirklichen Sachverhalt bzw. das Auseinanderfallen der (subjektiven) Vorstellung eines Handelnden und der (objektiven) Wirklichkeit“ (Köbler 2016: 229).
* Nicht wahrheitsfähige Aussagen sind neben Meinungen z.B. Fragen und Befehle (Luhmann 2020).
* Bezeichnungen sind stets in ihrem Kontext zu sehen, wozu wesentlich der Äußernde und sein Publikum gehören. Der Begriff ‚Mörder‘ wird im allgemeinen Sprachgebrauch weniger eng definiert als im Strafrecht (§211 StGB) und muss daher auch bei einem juristischen Totschlag (§ 212 StGB) keine falsche Tatsachenbehauptung sein.
* Begriffe, die tatsächlich Meinungen beschreiben, können durch entsprechenden Gebrauch in der öffentlichen Kommunikation zu Tatsachenbeschreibungen werden. Z.B. „geschlechtergerechte Sprache“: Gemeint sein konnte damit ursprünglich nur die Meinung (Wertung mit individuellem Maßstab), dass eine spezielle Sprachform einer bestimmten Anforderung gerecht wird, sie also voll erfüllt (was auch bedeutet, dass es mit dieser Ausdrucksweise keine sprachliche Ungerechtigkeit mehr gibt). Derzeit soll der Begriff hingegen meist eine tatsächliche Sprachnutzung beschreiben. (Es wäre allerdings empirisch zu prüfen, ob dies auch zutrifft ‑ wie beim obigen Beispiel „schlechtes Wetter“.)
* Argumente sind Tatsachenbehauptungen, die eine oder mehrere Prämissen und eine Konklusion enthalten; sie sowie ihre Verbindung müssen wahr sein (Pfister 2022: 31).
k) Abgrenzungsprobleme. Bei allem Bemühen um systematische Klarheit wird es immer Aussagen geben, die auch bei genauer Betrachtung des Kontexts keine unstreitige Identifikation als Tatsachenaussage oder Meinungsbekundung zulassen. Dieses Problem lässt sich allerdings auch mit anderen, insbesondere weiter gefassten Definitionen von Meinung nicht lösen – einen ungenauen Grenzbereich wird es immer geben. Für die Qualitätsdebatte sind vor allem falsche Tatsachenaussagen bedeutsam, einschließlich der fälschlichen Darstellung einer Meinung als Tatsache vice versa. Dabei kann und sollte die Zweifelhaftigkeit der Zuordnung offen kommuniziert werden der Art: „Wenn die Aussage als Tatsachenbehauptung verstanden wird, dann gilt/ ist sie …“
Bsp. 17: In obigem Beispiel 8 wurde aus dem Kontext geschlossen, dass es sich um eine Meinungsbekundung handelt der Art „ich halte es für verrückt“, weil kein allgemeinverbindlicher Maßstab erkennbar ist. Anders wäre diese bei einer psychologische Einschätzung. Für die Entscheidung über Zurechnungsfähigkeit oder Unzurechnungsfähigkeit einer Person bzw. ihre Unterbringung in einer entsprechenden Klinik sollte keine Meinung genügen, sondern eine Messung mit verbindlichem Maßstab, so dass „verrückt“ nach diesem dann eine Tatsache sein müsste.
l) Weitere Fallbeispiele zur Abgrenzung
Bsp. 18: In seinem Codebuch definiert Schäfer-Hock (2018: 555):
>Meinung des Autors
Vorgehen: Hier wird codiert, ob der Autor in Absatz seine eigene Meinung explizit vertritt oder nicht. Meinungen werden nur codiert, wenn sie entweder angekündigt (z. B.: „Ich meine…“, „Man bekam den Eindruck…“), deutlich mit einem Verb formuliert („…es sollte doch möglich sein…“, „…der Außenminister hätte in dieser Frage nicht so nachgiebig sein dürfen…“) oder mit klaren Wertungen geäußert werden („…dieser Idiot…“, „…grandiose Leistung…“). Fakten oder auf sie aufbauende Vermutungen, die aufgrund ihrer Stellung im Beitrag eventuell als Wertung zu verstehen sind (z. B.: „…der Überzeugungstäter in Sachen Tierschutz…“, „…sie setzte mir ihrer Leistung neue Maßstäbe…“), reichen nicht aus, um eine Meinungsäußerung zu codieren. Gesondert codiert wird eine Meinungsäußerung, die sich grafisch/optisch vom Haupttext des Absatzes abhebt, gleichzeitig aber gestalterisch Teil des Absatzes ist, z. B. in Form eingeschobener Textbausteine oder sog. Kopfnoten. Tabelle 127 zeigt die Ausprägungen.<
Nach „ich meine“ muss keine Meinung folgen, „man bekam den Eindruck“ dürfte eine Tatsachenvermutung folgen. „Es sollte doch möglich sein“ kombiniert Meinung und Tatsachenbehauptung oder -vermutung, nämlich dass etwas möglich ist und entsprechend behandelt werden sollte. „Grandios“ ist hingegen eindeutig eine Meinung, nämlich die persönliche Wertung einer (objektiv möglichen) Messung.
Bsp. 19: Ein Wissenschaftler, der die Studie von Kollegen als „exzellent“ bezeichnet, äußert eine Tatsache, wenn ein allgemeinverbindlicher Maßstab zugrunde liegt. Ohne einen solchen handelt es sich um eine Meinung, der daher zur Orientierung andere Meinungen hinzugesellt werden sollten.
m) Diese Überlegungen und Annahmen lassen folgende Definitionen zu:
* Eine Aussage ist immer dann eine Tatsachenaussage, wenn sie wahr oder unwahr sein muss.
* Eine Aussage ist immer dann eine Meinungsbekundung, wenn sie weder wahr noch unwahr sein kann.
* Eine Aussage ist eine Glaubensbekundung, wenn sie wahr oder falsch sein muss, eine Prüfung jedoch unmöglich ist und sie nicht eigenes Erleben beteuert.
Daraus ergeben sich folgende, nicht abschließende, aber Im Hinblick auf die Kommunikationspraxis hilfreiche Feststellungen:
* Tatsachenbehauptung ist jede Aussage, die Wahrheit bzw. Absolutheit beansprucht („Das ist so“, „Es wird genau so kommen“).
* Meinung ist jede Aussage, neben der zurecht eine widersprechende oder auch nur relativierende bzw. modalisierende Aussage dauerhaft bestehen kann.
* Meinung ist jede individuelle, im gegebenen Kontext nicht zwingende Wertung. (Sie liegt immer vor, wenn auch eine andere Wertung zulässig ist.)
* Meinung ist jede Wertung, der eine nur subjektiv mögliche Sachverhaltsfeststellung zugrunde liegt. („Das Essen ist zu scharf“ basiert auf einer unverbindlichen, nicht replizierbaren Messung des Schärfegeschmacks.).
Stets Meinungen sind:
– der Tenor (Entscheidungsausspruch) eines Gerichtsurteils (nicht aber die diesem zugrundeliegenden objektiven, deskriptiven und normativen Tatbestandsmerkmale (Köbler 2016: 422)
– Geschmacksurteile (weil sie aus einer unbestimmten Zahl von Messungswertungen gebildet werden, so dass der Volksmund zurecht sagt: „Über Geschmack lässt sich nicht streiten.“)
n) Bei der Identifikation von Meinungen und Tatsachen helfen Indikatoren, die sich aus obigen Definitionen ableiten lassen.
Indizien für Tatsachenaussagen:
* Dimensionsangaben, für die im Kontext allgemein gebräuchliche, aber nicht (für den Alltagssprachgebrauch) definierte Skalen existieren (kürzlich/ neulich/ jüngst; kleinwüchsig; heftiger Regen)
* Relationen von Messungen (kleiner/ größer als; leichter/ schwerer als; wachsen/ schrumpfen) (vgl. Honerkamp 2013: XXIV-XXVI)
* absolute Dimensionsangaben (Stille; niemand/ jeder; leer/ voll)
* Wertungen, deren Prämissen im Kontext prüfbar sind (ausreichend/ unzureichend für etwas)
* Wenn-Dann-Behauptungen (>Wenn Sie mit dem Rauchen aufhören, werden Sie länger leben< bzw. >… verringern Sie die Wahrscheinlichkeit eines Lungenkarzinoms<);
Indizien für Meinungsaussagen:
* Dimensionsangaben, für die es im Kontext keine allgemein gebräuchliche Skala gibt und zu denen auch keine nachvollziehbaren, über den Einzelfall hinaus anzuwendenden Skalen angegeben sind, die also nur individuelle Wertungen sein können (viel/ wenig; laut/ leise; leicht/ schwer; gerecht/ ungerecht; groß/ klein; gebührlich/ ungebührlich; gut/ schlecht; schlau/ dumm)
* alles, was dem Begriff nach nur eine individuelle Wertung und damit nicht allgemeingültig sein kann, selbst wenn es eine (große) Mehrheit so sehen mag (lecker; schön/ hässlich; wohlklingend; gutaussehend (B22); adrett; sexy)
* Handlungsempfehlungen ohne Wenn-Dann-Behauptung (>Sie müssen mit dem Rauchen aufhören<)
Stets Meinungen enthalten:
– genuin meinungsäußernde Darstellungsformen wie Kommentar, Glosse, Rezension (Hooffacker/ Meier 2017: 139-147), aber auch Interview (ggf. auf beiden Seiten) und Umfrage (je nach Fragestellung) (Hooffacker/ Meier 2017: 130-135). Auch in „Korrespondenten-Analyse[n]“ fließen persönliche „Perspektiven und Empfindungen“ ein (Anton Sahlender: B23).
o) Schlussfolgerungen für die journalistische Praxis
* Die unzutreffende Klassifizierung einer Aussage als Tatsache oder Meinung schafft selbst eine falsche Tatsachenbehauptung (nämlich wenigstens implizit: >dies ist eine Tatsache/ Meinung<).
* Die unzutreffende Klassifizierung einer Aussage als Tatsache oder Meinung muss sich negativ auf die (weitere) Recherche auswirken.
* Wird fälschlich eine Meinung als Tatsache dargestellt, kann es die gebotene Meinungsvielfalt nicht geben.
* Prognosen ist immer ihr Wahrheitsanspruch hinzuzufügen.
* Prognosen, die sich als falsch herausgestellt haben, unterliegen der Korrekturpflicht (berichtigendes Follow-up). Dies ist für das Orientierungsangebot über den Einzelfall hinaus notwendig, um in Summe eine Abschätzung der Güte veröffentlichter Prognosen zu ermöglichen.
* In nachrichtlichen Texten kann zu einem Sachverhalt in der Regel nicht nur eine Meinung präsentiert werden, um ein Orientierungsangebot zu machen. Andernfalls liegt ein Indiz vor, dass es sich bei der einzigen präsentierten Meinung um eine Banalität handelt.
Im Zuge einer Qualitätsdiskussion journalistischer Beiträge sind vor allem folgende Fälle relevant:
* Eine Meinung wird als Tatsache dargestellt (duldet keinen Widerspruch).
* Eine Tatsache wird als Meinung dargestellt (soll verhandelbar sein).
* Eine Meinung ist keinem Sprecher zugewiesen (wertlos oder fälschlich Tatsachenbehauptung).
p) Tatsachen-Meinungs-Unterscheidung (erster Entwurf)
(1) Ist die Aussage eine Wertung?
a ja –> 2
b nein –> 5
(2) Die Wertung
a beruht auf einem erkennbaren Maßstab –> 3
b beruht nicht auf einem erkennbaren Maßstab –> 2a
(2a) Der Aussagende ist
a zu erkennen/ benannt: Meinung
b nicht zu erkennen/ nicht benannt: falsche Tatsachenbehauptung
(3) Der Maßstab ist
a allgemeinverbindlich oder – neben anderen – allgemein anerkannt –> 5
b unverbindlich –>4
(4) Die Messung mit unverbindlichem Maßstab ist
a korrekt bzw. konsistent: Meinungsäußerung
b nicht korrekt: falsche Tatsachenbehauptung (ggf. unzutreffende Proposition/ Annahme für eine Meinungsäußerung)
(5) Ist die Aussage richtig?
a ja: wahre Tatsachenbehauptung (kurz: Tatsache)
b nein: unwahre Tatsachenbehauptung (Irrtum oder Lüge)
c derzeit nicht klar –> 6
d grundsätzlich nicht prüfbar –>8
(6) Die Richtigkeit der Aussage
a ist grundsätzlich (also wenigstens theoretisch) derzeit prüfbar –>7
b ist erst in der Zukunft prüfbar: Die Aussage ist eine Prognose (Tatsachenvermutung über die Zukunft)
(7)) Die Aussage
a behauptet die Möglichkeit einer Tatsache: Tatsachenvermutung
b behauptet eine Tatsache: derzeit nicht falsifizierte Tatsachenbehauptung
(8) Die Aussage
a behauptet oder vermutet eine Tatsache ohne Berufung auf eigenes Erleben: Glaube (nicht falsifizierbare Tatsachenbehauptung oder -annahme)
b behauptet eine Tatsache unter Berufung auf eigenes Erleben: nicht falsifizierbare Bezeugung
c vermutet eine Tatsache unter Berufung auf eigenes Erleben: Glaube[12]
(Letzte Änderung: 01.08.2024)
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Belege
B2 https://plakos-akademie.de/meinung-oder-tatsache-uebungen/
B3 https://www.spektrum.de/lexikon/astronomie/singularitaet/437#
B5 >Dafür empfiehlt Trump seinen Bürgern das Injizieren von Desinfektionsmitteln.<; SZ, 06.05.2020, S. 9
B6 https://www.youtube.com/watch?v=0_MACSL0Wrw
B7 https://www.youtube.com/watch?v=u0EqStU53Ek
B8 B2505c https://www.tagesschau.de/ausland/trump-desinfektionsmittel-101.html
B9 https://www.die-glocke.de/kreis-warendorf/warendorf/artikel/gefuehlt-brennt-es-jedes-jahr-mehr-auf-den-feldern-1689001205 oder:
https://www.fnp.de/lokales/wetteraukreis/bad-nauheim/rauschendes-comeback-pilo-feiert-in-bad-nauheim-92438200.html
B13 https://www.presserat.de/entscheidungen-finden-details/0511-22-2-7496.html
B16 https://www.dwds.de/r/?q=Nullaussage&corpus=regional
B17 B108d https://www.manager-magazin.de/unternehmen/handel/h-m-the-weeknd-geschockt-von-rassistische-werbung-a-1186899.html
B18 https://www.deutschlandfunk.de/der-tag-wirbel-um-h-m-werbung-wer-entscheidet-was-100.html
B23 https://www.mainpost.de/ueberregional/meinung/leseranwalt/analysen-sind-meinung-art-10029025
B24 https://www.dmz-news.eu/2021/04/28/meinung-behauptung/
B25 Instagram-Post Shelby Lynn via LTO https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/shelby-lynn-sieg-gericht
Anmerkungen (Fußnoten)
[1] In der Praxis kommt an allgemeinbildenden Schulen den bewertenden Lehrern laut Rechtsprechung allerdings schon ein Meinungsspektrum zu, wenn sie dies pädagogisch begründen. So entschied der Bayerische VGH (7 ZE 01.2889), dass eine Zeugnisnote mehr ist als der Durchschnitt aller Einzelnoten eines Schulhalbjahres. Dabei ging es jedoch nicht um die Benotung einer einzelnen Arbeit.
[2] Eine andere Differenzierung nimmt Tony Lax (B24) in einem Kommentar vor: >Kann es daher sein, dass unter dem Begriff „Meinungsfreiheit“ da und dort eher eine „Behauptungsfreiheit“ verstanden wird? […] Wenn ich der Meinung bin, dass etwas richtig oder falsch sei, trete ich anders auf, als wenn ich Selbiges behaupte. Mit der Meinungsäußerung meint man sich. Die Behauptung hingegen spricht ein nahes oder fernes Gegenüber an und unterstellt diesem, direkt oder unterschwellig, falsch zu liegen. Eine Behauptung erhebt einen Anspruch und provoziert den Widerspruch.<
[3] Es geht also nicht um einen Meinungswechsel, sondern ein ‚doppeltes Spiel‘. Da man nicht sinnvollerweise mehrere, sich widersprechende Meinungen gleichzeitig vertreten kann, ist es nicht notwendig, die ‚wahre Meinung‘ zu ermitteln (auch wenn dies meist Anlass für das Problematisieren sein wird, siehe etwa im Kontext mit Rechtsextremisten); denn die implizite Aussage >Ich vertrete nicht zugleich (andernorts) eine ganz andere Meinung< (ohne die jede Meinungsäußerung wertlos wäre) ist dann faktisch falsch.
[4] Die Kammer führt dazu u.a. aus: „Liegt somit aus Sicht der Antragsgegnerin ein Vorgang vor, der sich außerhalb ihrer Wahrnehmung abgespielt hat, verhält es sich – gerade im Hinblick auf die Abgrenzung zwischen Verdachtsberichterstattung und Meinungsäußerung – ähnlich wie bei Äußerungen, die sich auf eine Absicht einer dritten Person als innere Tatsache beziehen (vgl. dazu OLG Köln Urt. v. 28.06.2018 – 15 U 150/17, BeckRS 2018, 16334 Rn. 20).“
[5] Die Feststellung einer Schulnote oder der Verkehrstauglichkeit ist jeweils eine Tatsache, die entsprechende Äußerung der Prüfer also keine Meinung. Andere Sprecher können selbstredend Meinungen zum Sachverhalt vertreten (‚Meiner Meinung nach ist dieser Schulaufsatz hervorragend gelungen‘ oder ‚Ich sehe nicht, dass mein Auto die Verkehrssicherheit gefährden könnte‘).
[6] In Diskussionen wird man solche Formulierungen auch ohne den Zusatz „ich meine“ im entsprechenden Kontext jedenfalls bei der Befundbestimmung (Kap 7) nicht für falsche Tatsachenbehauptungen, sondern für Tatsachenvermutungen halten („Natürlich war X das, schauen Sie sich doch nur mal an…“). Anders sieht es bspw. im Text einer Nachrichtenagentur aus.
[7] Bei all solchen ggf. inkludierten Meinungen ist die für die Qualitätsmessung relevante Frage, ob der sie Äußernde erkennbar ist, siehe (h).
[8] Daran ändert auch eine Einschränkung wie „es könnte doch sein“ oder „ich halte es für möglich“ nichts. Eine bereits falsifizierte Hypothese stellt keine reale Möglichkeit mehr dar.
[9] Der Fall ist in Rieg (2024: 52f) beschrieben, u.a. mit einer Stellungnahme der Ärztekammer Nordrhein.
[10] Bei der Einordnung von KI bin ich derzeit noch unentschieden. ChatGPT selbst sagt bei entsprechenden Fragen immer etwas der Art: „Als KI habe ich keine eigene Meinung oder Überzeugungen und kann nur auf der Grundlage meiner Trainingsdaten antworten.“ Aber das muss noch nicht der Philosophie letzter Schluss sein. Anderer Ansicht sind z.B. Hase et al. (2021).
[11] Letztlich liegen jeder biologischen Signalverarbeitung Vorurteile zugrunde, ohne die eine Interpretation gar nicht möglich wäre (vgl. Krebs/ Davies 1996: 411-440).
[12] Alltagssprachlich wird man in diesen Fällen auch von Meinung sprechen: persönliche Wahrnehmungen werden zu einer für möglich gehaltenen Tatsache verdichtet, andere Interpretationen bleiben jedoch möglich. Da im Ergebnis keine Wertung, sondern eine Tatsachenannahme steht, scheidet der Bereich Meinung hier jedoch aus. Statt Glaube könnte man evtl. auch von einer Glaubensoption sprechen, da der Äußernde selbst andere Möglichkeiten nicht (ganz) ausschließt.