Schlagwort-Archive: Richtigkeit

Qualitätskriterium Richtigkeit

Richtigkeit” haben wir bei Spiegelkritik lange Zeit für ein Basiskriterium des Journalismus gehalten, das nur ab und an mal gerissen wird. Fehler passieren eben überall (natürlich auch hier im Blog). Aber je mehr Auge und Verstand geschult sind, umso größer wird das Problem. Zwei wesentliche Erkenntnisse haben sich über die Jahre dabei herausgebildet:

  1. Die meisten Fehler entstehen durch freihändige Behauptungen. Sie wären allesamt vermeidbar, wenn es eine penible Belegpflicht gäbe (was der Spiegel ja stets mit seiner “Dokumentation” zu haben behauptet). Diese Belegpflicht sollte zumindest redaktionsintern erfüllt werden, ist aber mit dem Internet auch für alle Print- und Rundfunkbeiträge möglich (denn in der Tat würde es innerhalb der Berichte oft stören). Aber so werden Meinungen zu Tatsachen, Glaube zu Wissen, und Fakten nach Belieben zu neuen komponiert. Mit ein paar Logik-Checks finden sich praktisch auf jeder Zeitungsseite Fehler, ohne dass man dazu allwissender Faktenchecker sein müsste (da dürfte dann oft noch weit mehr im Argen liegen).
  2. Hinweise auf Fehler interessieren Redaktionen und Autoren meist nicht die Bohne. In den Sozialen Medien kann das jeder nachverfolgen, und wir haben zahlreiche besonders krasse Fälle hier im Blog notiert; sie sind stets als Beispiele zu lesen.

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Paul Ehrlich Institut erfasst keine Abrechnungsdaten zu Impfnebenwirkungen

Nicht erst “Fake-News” sind ein Problem in der öffentlichen Kommunikation – vorsätzliche Falschbehauptungen gibt es wenige und sie sind meist schnell entlarvt. Bedeutsamer dürften die vielen kleinen Fehler in der Berichterstattung sein, um die wir uns daher immer  mal wieder in diesem Blog kümmern. Brigitte Fehrle von der “Relotius-Kommission” des Spiegel sagte damals: “Die am weitesten verbreitete Manipulation ist im Übrigen nicht das Hinzuerfinden, sondern das Weglassen.”

Nachdem ich über einen kleinen Fehler in einem Bericht des Tagesspiegel gestolpert bin, hat ein genauerer Blick noch ein paar weitere Schwachstellen gezeigt. Daher erfolgt mal wieder eine Textautopsie: “Chef der Krankenkasse „BKK ProVita“ bezweifelt Impfdaten – und muss jetzt gehen” vom 2. März 2022; ähnliche Formulierungen wie die hier diskutierten finden sich in zahlreichen Beiträgen. Aus urheberrechtlichen Gründen sind wie immer Passagen ohne Anmerkungen ausgespart. Weiterlesen

Beherzt aber faktenfrei gegen Bürgerräte

Journalistische Medienkritik zielt vor allem auf die Aspekte Richtigkeit und Ethik. (Wir haben das mal in einer Stichprobe fürs Bildblog ausgezählt, da war es überdeutlich, und wer sich die etwas über den Insiderkreis hinausreichenden Qualitätsdebatten in Erinnerung ruft, wird das bestätigt sehen: entweder schreibt die BILD-zeitung Quatsch (“lügt”), oder sie betreibt Hetze – das sind die Standardvorwürfe.) Gerade hatten wir wieder eine unerquickliche Diskussion um “False Balance“, die von viel Gefühl und wenig Fakten gespeist wurde und in dem ganzen Durcheinander letztlich wieder auf ethische Fragen hinauslief.

Womit wir uns in der Medienkritik nur selten beschäftigen, ist u.a. die Argumentation von Beiträgen (in der  Literatur noch sperriger “Argumentativität” genannt). Falsche Behauptungen kann man greifen. Aber unlogische Schlüsse, unpassende Vergleiche, rhetorische Tricks der Irreführung und vieles mehr verlangen eine sehr ausgefeilte Diskursanalyse.

An einem Beispiel soll die Problematik gezeigt werden. Es geht um einen Artikel, der die Dachzeile “Hintergrund & Analyse” trägt, aber nur kopfschüttelnd zurücklassen kann, wer ein wenig Ahnung vom analysierten Thema hat. Aber wie greift man das? Was ist eindeutig falsch, was abwegig, was eine – wie zu bewertende – Meinung?Es geht um den (inzwischen überwiegend beendeten) Hungerstreik in Berlin, mit dem ursprünglich sieben junge Leute ein Gespräch mit den drei Kanzlerkandidaten zur Klimapolitik erzwingen wollten. Weiterlesen

ZEIT-Online: Journalismus oder Propaganda?

Was ist die Aufgabe journalistischer Kommentare? Die Meinung eines Bürgers, der zufällig das Privileg massenmedialer Kommunikation hat, einem möglichst großen Publikum kund zu tun? Ganz sicher nicht. Denn die Meinung zu diesem und jenem von uns Journalisten ist so relevant wie die von jedem anderen Menschen. Wir haben keinerlei Mandat, unsere Stimme wichtiger zu nehmen als jede andere. (Natürlich dürfen Journalisten für ihre Kunden schreiben, also schlicht für Applaus und Penunzen, aber das ist kein journalistischer, sondern ein parteilicher Ansatz, der nicht der Information und damit Meinungsbildung dient, sondern dem eigenen Guru-Status, der Community-Bildung, Jüngersammlung, Führerschaft, weshalb früher einmal Parteizeitungen so beliebt waren.)
Die Aufgabe journalistischer Kommentierung ist es, Rechercheergebnisse einzuordnen, sie zu bewerten, zu gewichten, und das heißt meist, nicht nur Fakten, sondern Meinungen zu sortieren, nämlich all jene, die zum Thema relevant sind (und spätestens bei der Recherche zutage gefördert wurden). Der journalistische Wert für die Kunden kann nicht in dem liegen, was früher gelegentlich in Leserbriefen und heute en masse in Online-Kommentaren ausgedrückt wird: “Vielen Dank für diesen Kommentar (ich sehe alles genauso).” Natürlich ist es auch eine Orientierungsleistung, wenn Rezipienten ihre vorhandene Meinung vollständig bestätigt finden, in der großen Mehrzahl der Fälle sollten jedoch neue Aspekte erwartet werden dürfen (andernfalls hätten die kommentierenden Journalisten keinen Wissensvorsprung gegenüber ihren Kunden). Für Kommentare gelten alle Qualitätsstandards des Nachrichtenjournalismus, mit Ausnahme der Unparteilichkeit oder Neutralität (was nicht mit Objektivität zu verwechseln ist).
Unter dieser Prämisse fallen viele journalistische Kommentare damit auf, das Orientierungspotential nicht auszuschöpfen (was der alte Lehrmeister Walther von La Roche in seinem bekannten Einführungsbuch, 15. Auflage, wohlwollend den “Geradeaus-Kommentar” nannte, der “auch einmal aufs Argumentieren verzichten und einfach ‘geradeaus’ begeistert loben oder verärgert schimpfen” werde).
Bei der Berichterstattung über die Corona-Pandemie, vor allem die politischen Maßnahmen dazu, sind die Qualitätsansprüche besonders hoch: weil das Thema seit einem halben Jahr alles beherrscht, weil die Politik (und andere Entscheidungen/ Handlungen) enorme Konsequenzen haben und weil alle Medienforschung bisher zumindest für die alles entscheidende Anfangszeit erhebliche Defizite ausgemacht hat.

Dass diese Defizite längst nicht überall überwunden sind zeigt ein Kommentar von Christian Bangel bei Zeit-Online (“Neue Härte”). Es geht um das Verbot der seit vier Wochen angekündigten großen Demonstration in Berlin gegen die Corona-Politik, die am 29. August stattfinden sollte. Auf drei eklatante Probleme in diesem Kommentar möchte ich kurz eingehen. Weiterlesen

Meinungen sind nichts für Faktenchecker

Immer wieder haben Journalisten Probleme damit, Tatsachen und deren Bewertungen auseinanderzuhalten. Im derzeitigen Corona-Mainstream fallen da die Bemühungen auf, Aussagen von Wolfgang Wodarg zu widerlegen. Mit “Faktenchecks” wird dann bewiesen, dass Wodargs Skepsis gegenüber dem Corona-Pandemie-Betrieb wenig mit Wissenschaft zu tun hat oder gefährliche Falschinformation ist.

Der vielfach in Artikeln zitierte Faktencheck von Correctiv schafft es nicht, die Fakten in Wodargs Videos herauszuarbeiten. Stattdessen geht der Faktencheck so: Wolfang Wodarg sagt, die in Berlin entwickelten Corona-Tests seien nicht hinreichend getestet worden – Christian Drosten weist die Vorwürfe zurück.
“Wodarg unterstellt den Wissenschaftlern […] finanzielle Interessen”, Drosten widerspricht, “man verdiene mit dem Test unter dem Strich ‘keinen Cent’“.

Anstatt Meinungen als falsche Fakten entlarven zu wollen wäre es journalistisch gewinnbringender, der Kritik nachzugehen, andere Stimmen einzuholen und so etwas mehr Vielfalt in die Berichterstattung zu bringen. Das meiste, was Christian Drosten z.B. in seinem werktäglichen Podcast sagt, sind auch nur Meinungen – Bewertungen der Lage, wie sie sich ihm jeweils darstellt. Das ist ohne Zweifel spannend und hilfreich. Aber Meinungen verlangen per se Widerspruch, Kritik, andere Sichtweisen – sonst sind sie eben keine Meinungen mehr, sondern wahlweise Wissen oder Glauben. Weiterlesen

Derdiedas meiste (Korinthe 88)

Unter anderem “Übermedien” hat vor zwei Wochen auf eine arg schräge Medienrezeption der Antwort auf eine belanglosen Anfrage der AfD im Landtag Saarland hingewiesen. U.a. unser Liebling Spiegel.de hatte per Überschrift behauptet: “Die meisten Messerangreifer heißen Michael“. Die vor allem in Reduktionsdiensten wie Twitter,  aber etwa auch bei der Saarbrücker Zeitung vermittelte Botschaft lautete, politisch hoch motiviert:  “Keine arabischen Namen unter den Top 10”.

Was dabei gelegentlich unterging oder unterschlagen wurde: Es ging bei dieser Auswertung   von Vornamen zur “Messerkriminalität” im Saarland zwischen Januar 2016 bis April 2018 nicht um alle mutmaßlichen Straftaten, die mit einem Messer begangen worden waren, sondern nur um diejenigen, bei denen als Tatverdächtiger ein deutscher Staatsbürger registriert worden war.

Soweit, so verdienstvoll. Doch nun legt Boris Rosenkranz im Übermedien-Newsletter nochmal nach und schreibt, mit Bezug auf nicht korrigierte falsche bzw. irreführende Überschriften,  dass “eben nicht die meisten aller Messerstecher im Saarland Michael heißen, sondern die meisten aller deutschen Messerstecher.”

Und das ist eben auch falsch. Denn “die meisten” bedeutet: der größte Teil, die größte Menge von etwas, die Mehrzahl. Dass dies nicht zutrifft, kann jedes Milchmädchen im Kopf überschlagen: Bei 842 ermittelten deutschen Tatverdächtigen brauchts halt schon 421 gleiche Vornamensträger. Illusorisch. Und auch die Addition der “TOP 10” bleibt  davon weit entfernt.

Was gemeint ist: Der Vorname Michael kommt am häufigsten vor – nämlich 24 Mal. Damit heißen aber noch lange nicht “die meisten aller deutschen Messerstecher”: Michael. DAS nämlich wäre wohl nicht mehr nur für die AfD ein Kopfkratzer.

“Aber, gut, wer differenziert heute schon noch? Und die Kollegen werden sicher irgendeinen Grund haben ,an dem Fehler festzuhalten. Ob wir noch mal nachfragen?”

Grönemeyer schlägt Presse gaga

Im Dezember 2014 echauffierten sich zahlreiche Medien und deren Protagonisten, Herbert Grönemeyer habe auf zwei Pressefotografen eingeschlagen, als diese ihn in  der Öffentlichkeit fotografieren wollten. Durchgängig war von “Ausraster” und “Angriff” die Rede.
Weil Journalisten notorisch unfähig zur Selbstkritik sind und bis auf wenige, klar benennbare Ausnahmen einen der Polizei nicht unähnlichen Korpsgeist zelebrieren, hatten wir schon damals an der “Berichterstattung” erhebliche Zweifel, die – zugegeben – von einer grundlegenden Sympathie zu dem angeblichen Schläger gestützt wurde. Aber die meisten Berichte servierten zu sehr als Fakten, was zu diesem Zeitpunkt allenfalls Annahmen und Interpretationen sein konnte. Weiterlesen

Lesebeute: Statistik

Auf zwei aufschlussreiche medienkritische Beiträge zur Statistik wollen wir hier verweisen, weil sie über den Tag hinaus lehrreich sein können:

* Zur Aussagekraft von Befragungen und dem Mut zur Kristallkugel: Wie die Leute vom Stern Unsinn in eine britische Studie hineininterpretierten (Der Graslutscher, 17. Januar 2019)

* Warum Besuche und Besucher zwei völlig verschiedene Größen sind: Zur Kenntnis … vom Nutzen der Zahlen (Peter Grabowski, der kulturpolitische reporter, 16. Januar 2019)

Siehe hierzu auch bei uns: 
* Statistik für Angstfreie (Korinthe 85)
Die ewig falsch verstandene “Polizeiliche Kriminalstatistik” (von Prof. Henning Ernst Müller)
* und ein paar andere Beiträge

Korinthe (87): Eingebung statt Einblick

>>Ein Narrativ ist eine „sinnstiftende Erzählung“, so betörend, dass sie unsere Wahrnehmung der Realität verändert. […] Solche Meistererzählungen steuern, wie wir unsere Welt sehen und uns verhalten. […] Es sind Rechtfertigungen für unser Handeln und Politik.<<

So erläutert Roland Tichy, was es mit Narrativen auf sich hat, bei denen “die exakten Grenzen zwischen Tatsachen, Erfindung und Hoffnung” verschwinden.

Bei seinen Beispielen bleibt Tichy überwiegend vage. Sein Bezug zur Relotius-Debatte ist grobschlächtig:

>>DER SPIEGEL ist dafür bekannt geworden, dass er Storys publizierte, die solche Narrative emotional aufladen und ausschmücken. Mit der Realität haben sie nichts zu tun. Es geht um die Bestätigung dessen, was wir glauben sollen. Journalismus wird dafür nur mißbraucht.<<

Bei diesem Pauschalvorwurf (einzelne Spiegel-Artikel haben mit der Realität nichts zu tun) wie bei all seinen Einzelstichworten verzichtet Tichy auf jeglichen Beleg: er behauptet einfach, irgendetwas sei ein Narrativ, also eine mehr geglaubte als faktenbasierte Erzählung. Es sind natürlich die üblichen Stichworte, weil es zu ihnen eben ein eigenes einfältiges Narrativ gibt: Weiterlesen

Nenne mir deine Quelle

Der “Fall Relotius” führt, wie es erwartbar war,  zu öffentlichen Grundlagendiskussionen. Das ist schön. Ein Problem, über das Spiegelkritik schon oft geschrieben hat, wird bei diesen Gesprächen selbst deutlich: die mangelnde Fähigkeit oder Bereitschaft von Journalisten, Fakten und Fiktionen zu trennen.

Das Problem ist normalerweise nicht die falsche Hausnummer in einem Artikel, und es ist sicherlich auch nicht die erfundene Zahl von Treppenstufen in irgendeiner Reportage. Das Problem ist, sauber zu sortieren, was eine beschreibbare Wirklichkeit ist und was die Interpretation dieser oder sogar eigener Imaginationen. Es geht um Recherche.

Beispiel 1: die meisten

In einer Auseinandersetzung um die Notwendigkeit kommentierender Einordnungen von Nachrichten schreibt der “Korrespondent von SPIEGEL ONLINE und DER SPIEGEL in Wien, Österreich” Hasnain Kazim auf Twitter: “[…] die Wahrheit ist, dass die meisten eben nicht selbst denken, sondern irgendwelchen Bullshit im Netz aufgreifen.”

Solche Zuspitzungen sind in Diskussionen selbstverständlich in Ordnung, aber zumindest wenn nach den Fakten gefragt wird, sollte man liefern können – oder eben zurückrudern: “Mir kommt es so vor, als ob…” wäre ja in Ordnung, aber nicht “die Wahrheit ist…”. (Siehe auch ergänzend auf Twitter Gesprächspartner Schlüter; im selben Gesprächsverlauf schrieb Kazim auch  auf die Frage “Was richtig ist und was nicht entscheiden Sie?”: “Wenn Sie so fragen: Ja, natürlich.”) Weiterlesen