Tagesschau Faktencheck checkt’s nicht

Viele Journalisten können Tatsachen und Meinungen nicht unterscheiden. Das thematisieren wir immer wieder hier im Blog, weil es immense Auswirkungen hat. Um ein Beispiel aus dem vielfältigen Versagen bei der Corona-Berichterstattung zu nennen (genauer eben: bei der Recherche): In vielen Beiträgen findet sich die Angabe, wieviele oder dass einzelne Menschen aufgrund ihrer schweren Covid-19-Erkrankung “beatmet werden müssen“. Die Beatmung selbst ist ein Fakt, ihre Notwendigkeit hingegen eine Meinung. Auch wenn es umständlicher klingt, ist die einzig richtige Formulierung: Menschen werden beatmet (bzw. ihre Ärzte glauben, dass eine Beatmung notwendig sei). Wer aber nicht erkennt, dass die Entscheidung für die Beatmung eine Meinung und kein Faktum ist, der kann das genau in dieser Meinung möglicherweise liegende Problem gar nicht recherchieren.

Ernsthafte Probleme bekommt der Journalismus, wenn selbst die Faktenchecker die Unterscheidung nicht mehr treffen können – und Faktenchecks zu Meinungsbekundungen werden. Aktuelles Beispiel: Die Rezeption der Twitter-Entscheidung, zwei Tweets des US-Präsidenten Trump mit dem Verweis auf “die Fakten” zu versehen, womit wohl “die Wahrheit” gemeint ist, die sich dabei passend zum Unternehmen aus Tweets anderer Unternehmen speist.

Die Rezeption im deutschen Journalismus war von der ersten Sekunde an erwartbar: Weil Trump ein Populist ist (über den man hierzulande fast jede Unflätigkeit sagen darf), ist jeder Schritt richtig, seine Propaganda zu unterbinden oder wenigstens zu begrenzen.

Über diesen Vorgang berichtet auch der ARD-Faktenfinder in Person von Patrick Gensing auf tagesschau.de.  Das Ergebnis seiner Recherche darf man schon der Überschrift entnehmen: “Die Lüge vom Wahlbetrug”. Doch wie sieht das mit den Fakten und Meinungen, mit dem Messen und Fühlen, mit dem Undiskutierbaren und dem Verhandelbaren aus? Eine kurze Autopsie:

Text Faktenfinder Tagesschau Anmerkungen
Trump gegen Twitter
Die Lüge vom Wahlbetrug
Stand: 27.05.2020 15:22 Uhr
Lüge?
Twitter hat eine Behauptung von US-Präsident Trump mit einem Hinweis auf Faktenchecks versehen.
Dies bringt den Präsidenten zum Toben. Toben? Beleg
Dass seine Vorwürfe bereits seit Jahren widerlegt sind, ignoriert er hingegen.
Auf Twitter hat Donald Trump vor angeblichem Betrug bei den US-Präsidentschaftswahlen gewarnt.
Er behauptet, im Bundesstaat Kalifornien würden Millionen Stimmzettel an Menschen verschickt, die gar nicht wählen dürften. Falsch. Trump schrieb: “The Governor of California is sending Ballots to millions of people, anyone living in the state, no matter who they are or how they got there, will get one.”
Dies eröffne viele Möglichkeiten, die Wahl zu manipulieren. Eine merkwürdige Zusammenfassung,  die auch zur vorherigen, falschen Übersetzung nicht passt.
Dafür fehlt komplett, welche Manipulationsmöglichkeit Trump explizit angesprochen hat.
Mehrfach hatte er schon Kalifornien beschuldigt, Wahlbetrug zu ermöglichen.
Für diese Behauptung gibt es allerdings keine seriösen Quellen. Gibt es denn “unseriöse” Quellen – und wenn ja, wie lauten sie und was sagen sie?

Wie sollte eine seriöse Quelle aussehen, die die Meinung, es werde zu Wahlmanipulation kommen, mit Fakten belegt, also die Meinung unmöglich macht?

Trump verwies bei solchen Anschuldigungen auf einen Bericht zu “inaktiven Wählern”. Doch darin wurde nicht festgestellt, es habe Wahlbetrug gegeben, sondern es ging um Wähler, die noch in Kalifornien registriert waren, aber nicht mehr dort leben oder verstorben sind.
Der kalifornische Staatssekretär Alex Padilla, dessen Behörde für den Ablauf von Wahlen zuständig ist, sagte Factcheck.org, egal wie oft Trump es wiederholt, seine “Lügen über Wählerbetrug sind schlicht unwahr”. Das ist eine Behauptung, also eine Meinung, kein Faktum
Auch verschiedene Medien prüften die Vorwürfe und stellten fest, dass diese falsch sind. Von einem Faktenfinder darf man erwarten, dass er diese hier benennt und auch die Beweisführung nachvollzieht.
Dennoch twitterte Trump die Behauptung erneut – und Twitter ergänzte diese nun erstmals mit einem Hinweis auf die tatsächlichen Fakten. Falsch. Trump hat geschrieben, welche Möglichkeiten für eine Wahlbeeinflussung durch das Briefwahlverfahren er sieht.
Trump reagierte mit einer Drohung auf diese Hinweise. Wo ist die Drohung?
Twitter unterdrücke die Meinungsfreiheit, schrieb er, dies werde er als Präsident nicht erlauben.
Trump behauptete sogar bereits, Kalifornien habe eingeräumt, es habe eine Million illegale Stimmen gegeben, die nicht hätten zählen dürfen. Auch dafür gab es keine Belege. Der US-Präsident berief daher eine Kommission ein, die den angeblichen Betrug untersuchen sollte. Diese wurde aber wieder aufgelöst, ohne irgendwelche Beweise zu liefern. (Alles Nachfolgende hat nichts mit dem aktuellen Tweet und der Twitter-Reaktion zu tun.)
Hillary Clinton hatte bei der Präsidentenwahl 2016 landesweit mit fast 2,9 Millionen Stimmen vorne gelegen, doch gewann Trump die Abstimmung letztlich mit den ausschlaggebenden Stimmen der Wahlleute. Richtig, auch wenn mit dieser Darstellung weiterhin das Gefühl vermittelt wird, Wahlgewinnerin sei Clinton gewesen. Das wäre sie aber nur in einem anderen Wahlsystem,  wie schon mal in einem Faktencheck dargelegt. Eine ähnliche, gewollte Verzerrung haben wir z.B. bei der Wahl des Europaparlaments (die Zahl der Abgeordneten eines Landes ist nicht direkt proportional zur Größe der Wahlberechtigten) oder bei den Stimmen der Länder-Regierungen im Bundesrat. Und natürlich ist es das Prinzip bei der deutschen “Erststimme” zur Bestimmung eines Wahlkreiskandidaten.
Trump behauptet seitdem, ohne die gefälschten Stimmen hätte er vorne gelegen. Die Größe seines Sieges sollte sich auch an der angeblich größten Zahl der Besucher bei der Amtseinführung zeigen lassen – doch tatsächlich waren weniger Menschen anwesend als bei anderen Präsidenten.
Bereits im Sommer 2016 hatte Trump Gerüchte gestreut, die Wahl könne manipuliert werden.
Diese Strategie wenden auch andere Populisten immer wieder an. Wo ist der Beleg für die “Strategie”? Sie ist wohl nur eine Mutmaßung des Faktenfinders, zulässig – aber dann keine gefundenes Faktum
Der Chef der italienischen Lega Nord beschuldigte Österreich, die Präsidentschaftswahl 2017 manipuliert zu haben. Vor der Wahl in Schweden verbreiteten rechtsradikale Aktivisten Gerüchte über einen bevorstehenden Wahlbetrug.

In Deutschland warnte die AfD vor verschiedenen Wahlen vor angeblichen Manipulationen. Rechtsradikale Aktivisten riefen dazu auf, die Wahlen zu beobachten und bauschten einzelne Pannen in Wahllokalen zu angeblich systematischen Betrügereien auf. Vor der Bundestagswahl 2017 tauchte zudem plötzlich das Schlagwort “#wahlbetrug” massenhaft auf Twitter auf.

Warum fehlt in dieser Auflistung ausgerechnet die viel diskutierte Einmischung Russlands in die US-Präsidenten-Wahl 2017?
Dahinter steckt offenkundig eine doppelte Strategie: “Strategie”? Insbesondere wenn sie “offenkundig” ist, sollte sie belegbar sein.

 

Zum einen wird Misstrauen gegen demokratische Wahlen geschürt, zum anderen kann der Vorwurf der Manipulation als Ausrede für ein schwaches Ergebnis bei einer Wahl herhalten.
Allerdings gibt es auch sachliche Kritik an der Briefwahl. Wieso ist Trumps Kritik anders als die im Folgenden referierte eines deutschen Experten nicht sachlich? ” That will be followed up with professionals telling all of these people, many of whom have never even thought of voting before, how, and for whom, to vote.” Dieses Problem wird schließlich auch in Deutschland für die Briefwahl regelmäßig diskutiert, insbesondere nach einem Beschluss des BVerfG 2019.
So warnen Experten, dass bei einer Briefwahl nicht immer garantiert werden könne, dass der oder die Wahlberechtigte abstimmt. Und: Wer die Stimme lange vor der Wahl abgibt, kann aktuelle Ereignisse nicht mehr berücksichtigen. Das Prinzip von der Gleichheit der Wahl erfordert es aber, dass die Wahlberechtigten über die gleichen Informationen verfügen, die von Relevanz sind, betonte der Staatsrechtler Alexander Thiele von der Uni Göttingen im Jahr 2017,
Für Trump ist der Twitter-Hinweis auf die Faktenchecks zu seiner Behauptung mutmaßlich besonders ärgerlich, da es sich bei dem Kurznachrichtendienst um seinen wichtigsten Kommunikationskanal handelt. Womit lässt sich objektiv der Superlativ belegen und warum unterbleibt dies?
Dort wendet er sich direkt an Millionen Amerikaner – unter Umgehung von Medien, die seine Aussagen kritisch einordnen könnten. Falsch. “unter Umgehung von Medien” mag die Angst vorm (Be-)deutungsverlust des Autors bekunden, ist jedoch faktisch völlig absurd. Egal wer Twitter nutzt, umgeht nicht “die Medien”. Das ist eine Verdrehung bzw. falsche Tatsachenbehauptung.
Dem US-Präsidenten folgen auf Twitter mehr als 80 Millionen Menschen.

Twitter hatte vor gut zwei Wochen die Gangart gegen irreführende Informationen verschärft. Unter anderem wurde angekündigt, dass sie mit Warnhinweisen versehen werden. Die Maßnahme wurde damals vor allem mit den Unwahrheiten über das Coronavirus in Verbindung gebracht.

Fazit: Für einen Faktenfinder strotzt der Beitrag vor Meinungen (bzw. unbelegten Behauptungen) – und “falschen Fakten”. Die zentrale Aussage, Trump habe mit seinen zwei Tweets auf Twitter gelogen, wird nicht belegt. Trumps Text wird weder richtig noch vollständig wiedergegeben.

Gepflegt wird stattdessen ein Narrativ, wie es im deutschen Journalismus inzwischen gängig ist (Masche: “Es ist nicht das erste  Mal, dass XY mit Z auffällt [und dann kommt irgendwas aus dem kollektiven Journalistengedächtnis].”)

 

 

2 Gedanken zu „Tagesschau Faktencheck checkt’s nicht

  1. Cource

    Selbst wenn Trump/Clinton zu unrecht an die macht gekommen sind, viel wichtiger ist die Tatsache, dass es eine unzufriedene weiße Bevölkerungsgruppe gibt die glauben, dass nur sie das Recht haben die wahren Interessen Amerikas zu vertreten und nur dieser allmachtsanspruch vergiftet/zerstört Amerika

  2. Werner Kirstein, Dr.

    Wenn Faktenchecker – Correktiv über recherchierte Fakten spricht, dann kann man ERFAHRUNSGEMÄSS von einer bezahlten Lüge ausgehen, weil Faktenchecker IMMER auf der Seite der Politik ist und gegen kritischen Journalismus rigoros vorgeht.

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