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Entsorgte Objektivität

Schon wieder eine AfD-Skandal-Inszenierung. Schon wieder die deutschen Leitmedien im Gleichschritt. Schon wieder Empörung statt Journalismus. Dabei hatte es doch kleine Hoffnungszeichen gegeben, zumindest in einzelnen Redaktionen wolle man zurückkommen zur Recherche, wolle einen Informationsauftrag erfüllen, Geschehnisse sinnvoll einordnen (und nicht wie Twitter bringen, was gerade auf Zustimmung stößt).

Die Causa: Alexander Gauland soll bei einer Wahlkampfveranstaltung gesagt haben

“Ladet sie [Aydan Özoğuz (SPD), Integrationsbeauftragte der Bundesregierung] mal ins Eichsfeld ein und sagt ihr dann, was spezifisch deutsche Kultur ist. Danach kommt sie hier nie wieder her, und wir werden sie dann auch, Gott sei dank, in Anatolien entsorgen können.”

Das Journalismus-Versagen dabei:
* Gaulands Aussage wird ohne ihren Zusammenhang kolportiert.
* Ein einzelnes Wort wird zum Eklat: “entsorgen”. Ohne jede Einordnung (dabei haben schon weit prominentere Politiker Konkurrenten “entsorgen” wollen).
* Der von den Medien inszenierte Skandal wird von ihnen zu einer Medienpropaganda der AfD erklärt.
* Am Ende wird niemand auch nur einen Funken schlauer sein, aber alle Gruppen wurden in ihrer Identifikation (= Abgrenzung von allem anderen) gestärkt. Weiterlesen

Demokratie als Journalisten-Phantasie

DeineDemokratie-RadiokampagneIm Radio wird das nächste große Nichtwähler-Bashing vorbereitet. 23 private und gebührenfinanzierte Sender in Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz werben bei ihren Kunden derzeit für die Teilnahme an den Landtagswahlen am Sonntag.

In einem von drei Spots wanzt sich beispielsweise eine Frauenstimme an die Hörer ran: Weiterlesen

Empörung statt Recherche

Woran erkennt man die Qualität eines journalistischen Artikels? Diese Frage beschäftigt uns hier im Blog schon seit vielen Jahren, und die Suche wird weitergehen. Da sich auf die Schnelle ein Sachverhalt  vom Rezipienten meist nicht prüfen lässt (von persönlichen Spezialkenntnissen abgesehen) ist ein wichtiges Indiz die einem Beitrag zugrunde liegende Recherche – erkennbar an den genannten Quellen und ihrer Einordung. Erstaunlich oft ist da aber – wenig. Ein Beispiel:

Der Bürgermeister von Jüterbog, Arne Raue, schrieb am 3. November 2015 auf Facebook folgendes:

Infektionsgefahr-Fluechtlinge-Ausgangspost-BM

Kontakt mit Asylbewerbern und Flüchtlingen-
Warnung vor Infektionskrankheiten

Ich bin heute schriftlich durch eine Ärztin als Bürgermeister darauf hingewiesen worden, dass schon bei geringfügigem Kontakt mit Neuankömmlingen Gefahr von Infektionskrankheiten besteht. Einige Infektionskrankheiten können verstärkt auftreten:
-Windpocken
-Keuchhusten
-Poliomyelitis
-Röteln
-Mumps
-Hepatitis A
-Hepatitis B
Zusätzlich gibt es auch solche Infektionskrankheiten, gegen die es leider keine wirksame Impfung gibt und die in vielen Entwicklungsländern noch weit verbreitet sind. Hierzu zählt vor allem Tuberkulose. Sie wird durch Tröpfcheninfektion, also über die Luft, übertragen.
Ich weise die Bevölkerung von Jüterbog ausdrücklich darauf hin.
Für das städtische Personal werde ich vorsorglich (soweit für einzelne Krankheiten möglich) Impfungen anbieten.

In den Facebook-Kommentaren dazu gibt es die übliche Lagerbildung: “Hetze” werfen  die einen vor, “Verharmlosung” die anderen. Man giftet sich gegenseitig an, nur vereinzelt gibt es sachliche Beiträge. Soweit, so traurig-normal.

Doch wie greifen die Medien das Thema auf? Sie setzen wie so oft bei der Empörung an. Das geht besonders einfach, wenn sich politische Widersacher zu Wort gemeldet haben. So bringt die Märkische Allgemeine die notorische Rücktrittsforderung:

Angesichts von Stimmungsmache gegen Flüchtlinge sei Raue „unhaltbar“, so Grünen-Landeschef Clemens Rostock. Es sei ein von rechten Kräften in die Welt gesetztes Gerücht, dass Flüchtlinge die Gesundheit anderer gefährdeten.

Der kurze Beitrag des Bürgermeisters wird ohne weitere Erläuterungen als Tritt ins “Fettnäpfchen” bezeichnet, der nicht sein erster sei:

Zuletzt hatten Stadtverordnete im Mai seine Alleingänge gerügt und die Kommunalaufsicht des Kreises eingeschaltet.

Erst danach werden weitere Einschätzungen gebracht, die aber allesamt politisch sind. Eine Beschäftigung mit dem Kernthema erfolgt nicht, obwohl sie recht einfach wäre:

Gegen alle genannten Krankheiten außer Hepatitis B und Tuberkulose empfiehlt das Robert Koch Institut bzw. die Ständige Impfkommission grundsätzlich eine Impfung, und diese ist in Deutschland auch schon lange üblich, erfolgt also, wenn Eltern sie ihren Kindern nicht aktiv verwehren (weshalb immer wieder über eine Impfpflicht diskutiert wird). Schutzimpfungen gegen Hepatitis A wird nur für bestimmte Personengruppen bzw. bei bestimmten Aktivitäten (u.a. Reisen in Prävalenz-Gebiete, homosexuell aktive Männer, medizinisches Personal) angeraten.

Dass in Ländern, aus denen derzeit viele Flüchtlinge kommen, keineswegs von einer durchgängig vorhandenen Immunisierung gegen diese Krankheiten ausgegangen werden kann, ist bekannt – und ein wichtiges Thema der Gesundheitsämter. Allerdings besteht eben für Geimpfte in Deutschland keine Gefahr. Durch die Flüchtlinge hat sich also an der Situation nichts geändert: jeder darf bisher noch selbst entscheiden, ob er sich gegen bestimmte Infektionskrankheiten impfen lässt oder nicht – und die Nicht-Geimpften werden meist deshalb nicht krank, weil eben der größte Teil der Mitmenschen geimpft ist und damit eine Krankheitsausbreitung verhindert (auch dies beschreibt das Robert-Koch-Institut (RKI) an zig Stellen).

Eine Orientierungsleistung des Journalismus in dem Zusammenhang könnte also sein zu erläutern:
– dass für Personen mit Imfpschutz kein Risiko besteht
– eine Infektion immer direkten (bzw. nahen) Kontakt mit einem infektiösen Erkrankten voraussetzt (längst nicht jeder Infizierte kann auch zum Überträger einer Krankheit werden!)- dass es in Deutschland nicht-übertragbare Krankheiten gibt (Malaria etwa – bis der Klimawandel weiter vorangeschritten  ist jedenfalls)
– wie man sich vor nicht-impfbaren oder in Deutschland nicht geimpften Krankheiten schützen kann (dazu müsste man sich nur vergegenwärtigen, was Ärzte machen, die täglich mit allen möglichen Krankheiten zu tun haben und dies meist gut überstehen).

Auch die (vorsichtige) Warnung vor Tuberkulose von Bürgermeister Raue könnte man journalistisch, also recherchierend, aufarbeiten, anstatt sie aus dem Bauch heraus zur Panik- oder Stimmungsmache zu erklären. Man könnte dabei u.a. feststellen:
– dass das RKI Flüchtlinge durchaus als Risikogruppe sieht:

In Deutschland ist die aktive Fallsuche von Erkrankten eine wichtige Voraussetzung für die Reduzierung der Erkrankungshäufigkeit an Tuberkulose. Diese besteht in der Umgebungsuntersuchung von Kontaktpersonen infektiöser Tuberkulosepatienten.8 Zu den Zielgruppen für eine aktive Fallsuche gehören darüber hinaus Migranten aus Ländern mit hoher Tuberkulose-Prävalenz (wie Asylsuchende, Flüchtlinge, Aussiedler) und Personengruppen mit erhöhtem Infektionsrisiko, z.B. Obdachlose, Drogengebraucher und Gefängnisinsassen.

– dass längst nicht alle Flüchtlinge sofort bei Aufnahme in eine Sammelunterkunft (Erstaufnahmeeinrichtung, entsprechende Außenstellen oder “Überlauflager”) auf Tuberkulose untersucht werden, sondern i.d.R. nur ein medizinischer Schnellcheck erfolgt (Anamnese, also Befragung, Fibermessen etc.), eine TBC-Prüfung erst später erfolgt (was einige Zeit dauern kann, zumal wenn Flüchtlinge sich auf eigene Faust auf den weiteren Weg machen)
– dass eine “geschlossene Tuberkulose” nicht ansteckend ist
– die allermeisten Flüchtlinge, die in Deutschland ankommen, gesund sind*, was kein politisches Bekenntnis ist, sondern schlicht der Tatsache geschuldet ist, dass mit einer schweren Erkrankung die strapaziöse Reise bis hier meist gar nicht machbar wäre und die Inkubationszeit der meisten Krankheiten ggf. im Zeitverlauf der Flucht liegen müsste. (*=Diese Einschätzung stammt von einem niedergelassenen Arzt, der bei Erstuntersuchungen mitwirkt.)

Das Fazit könnte also sein: Es besteht natürlich die Gefahr einer Krankheits-Infektion für Personen, die unmittelbaren, nahen Kontakt mit infizierten Flüchtlingen haben, aber die Gefahr unterscheidet sich nicht vom Risiko bei der Begegnung mit anderen Personen (z.B. Deutschen, die im Urlaub waren), die nicht geimpft sind und sich eine Bakterien- oder Virusinfektion eingefangen haben. Es schützen die empfohlenen Grundimpfungen und die Regeln der Hygiene (u.a., – peinlich, dass man darauf in Deutschland immer noch hinweisen muss: regelmäßiges Händewaschen).

Was wäre nach einer solchen Recherche noch am Posting des Bürgermeisters von Jüterbog auszusetzen? Dass er nicht das lange Erklärstück geliefert hat, welches auch die Journalisten nicht zustande bringen? An seiner Information ist nichts falsch, sie entspricht dem, was das für maßgeblich gehaltene RKI selbst ständig schreibt; sein Angebot, für städtische Mitarbeiter Imfpungen anzubieten (was wohl meint: die Kosten zu übernehmen, die nicht regulär von den Kassen getragen werden, das betrifft regulär Hepatitis und die Schutzimpfungen gegen “Kinderkrankheiten” im Erwachsenenalter) ist konstruktiv und nach dem Stand der Dinge verantwortungsvoll, nicht Panik verbreitend. Und es bleibt die Frage, warum die Medien selbst das Thema nicht (flächendeckender) selbst aufgegriffen haben – denn wer vor Ort recherchiert, bei den Helfern etwa, der stößt geradezu unweigerlich darauf.

Die Märkische Allgemeine (MAZ) war natürlich nicht die einzige Zeitung, die aus einer Info einen Eklat gemacht hat.
Der Tagesspiegel (Berlin) etwa dichtet schon in der Überschrift: “Bürgermeister bezeichnet Flüchtlinge als ansteckend”. Der Teaser in BILD-Erregung:

Jüterbogs Bürgermeister warnt vor Kontakt zu Flüchtlingen – weil die angeblich Infektionskrankheiten übertragen. Und er hat kein Problem damit, als Rassist beschimpft zu werden. Das Sozialministerium ist entsetzt.

Daran ist – zumindest bezogen auf den hier zitierten Facebook-Eintrag (sollte es andere Publikationen geben, bitten wir um Hinweise – der Tagesspiegel verlinkt sie nicht), so viel falsch als möglich. Raue hat nicht vor Kontakt zu Flüchtlingen gewarnt! Infektionskrankheiten können (von jedem, Flüchtlinge eingeschlossen) nicht nur angeblich, sondern tatsächlich übertragen werden. Die Bezeichnung als “Rassist” sollte vor der Verbreitung geprüft und im Artikel nachvollziehbar dargelegt werden. Und ein Sozialministerium kann wohl kaum entsetzt sein (es wird auch nur ein namentlich nicht weiter identifizierter Sprecher des Ministeriums zitiert).

Alexander Fröhlich schreibt auf tagesspiegel.de:

Der parteilose Bürgermeister von Jüterbog (Teltow-Fläming), Arne Raue, macht mit der Warnung vor ansteckenden Krankheiten Stimmung gegen Flüchtlinge. In einer Mitteilung warnte er die Bürger seiner Stadt „ausdrücklich“ vor dem Kontakt mit Asylbewerbern.

“Stimmung gegen Flüchtlinge” ist eine gewagte Interpretation, die der Faktenlage nicht standhält. Und dass er “‘ausdrücklich’ vor dem Kontakt mit Asylbewerbern” warnt, ist schlicht falsch, denn das zitierte Wort “ausdrücklich” steht in einem anderen Zusammenhang (Hervorhebung von spiegelkritik.de):

Zusätzlich gibt es auch solche Infektionskrankheiten, gegen die es leider keine wirksame Impfung gibt und die in vielen Entwicklungsländern noch weit verbreitet sind. Hierzu zählt vor allem Tuberkulose. Sie wird durch Tröpfcheninfektion, also über die Luft, übertragen.
Ich weise die Bevölkerung von Jüterbog ausdrücklich darauf hin.

(Tg)

Bonusmaterial:

Wer mag, konnte sich über die Diskriminierung von Flüchtlingen und anderen Gruppen schon lange aufregen:

Nach dem „Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen“ (Infektionsschutzgesetz – IfSG) sind Bewohner von „Altenheim, Altenwohnheim, Pflegeheim“ und in einer „Gemeinschaftsunterkunft für Obdachlose, Flüchtlinge, Asylbewerber oder in eine Erstaufnahmeeinrichtung des Bundes für Spätaussiedler“ verpflichtet, „ein ärztliches Zeugnis darüber vorzulegen, dass bei ihnen keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer ansteckungsfähigen Lungentuberkulose vorhanden sind.“ Flüchtlinge und Asylsuchende über 15 Jahre müssen dazu eine in Deutschland erstellte Röntgenaufnahme ihrer Lunge vorweisen, Schwangere ausgenommen (§ 36 Absatz 4 IfSG). Die entsprechenden Untersuchungen müssen sich die Menschen gefallen lassen, das Gesetz legt dazu explizit fest: „Das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit (Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz) wird insoweit eingeschränkt.“

Ferner bestimmt das Asylgesetz (AsylG) in § 62:

„Ausländer, die in einer Aufnahmeeinrichtung oder Gemeinschaftsunterkunft zu wohnen haben, sind verpflichtet, eine ärztliche Untersuchung auf übertragbare Krankheiten einschließlich einer Röntgenaufnahme der Atmungsorgane zu dulden. Die oberste Landesgesundheitsbehörde oder die von ihr bestimmte Stelle bestimmt den Umfang der Untersuchung und den Arzt, der die Untersuchung durchführt.“

(Im Jahr 2014 gab es in Deutschland insgesamt 4.488 Tuberkulose-Fälle.)

Zur Prävention empfiehlt das Robert Koch Institut, auch bei den hier ankommenden Flüchtlingen umgehend fehlende Impfungen nachzuholen. Liegen keine Impfdokumente vor, sei davon auszugehen, dass kein Schutz besteht und daher geimpft werden müsse. (Diese Info für jene, die in den FB-Kommentaren darauf hinweisen, dass Flüchtlinge doch meist gar keine Impfpässe bei sich tragen.)

Ergänzungen:

  1. Hier noch der fast wortgleiche Text des Bürgermeisters auf www.jueterbog.de – wie im Tagesspiegel-Artikel erwähnt, steht hier noch der Zusatz “Bitte prüfen Sie Ihren Impfschutz!”
  2. Landrätin Kornelia Wehlan (Landkreis Teltwo-Fläming) hat sich am 9.11 auch geäußert und schreibt unter anderem: “Herr Raue warnte in den sozialen Medien davor, dass Asylbewerber Krankheiten einschleppen und somit eine Gefahr für die Bevölkerung darstellen würden. Das deckt sich in keiner Weise mit unseren Erfahrungen und den Einschätzungen des Gesundheitsamtes.” Dies steht jedoch nicht im Widerspruch zu dem viel diskutierten Hinweis Raues, “dass schon bei geringfügigem Kontakt mit Neuankömmlingen Gefahr von Infektionskrankheiten besteht.” Wann und wie diese Gefahr besteht, ist oben ausführlich beschrieben.
  3. Auch RBB hat berichtet.

Biopsie-Befund: Eppendorf-Syndrom

Politikjournalisten leben in einem Paralleluniversum: im Gegensatz zu fast allen anderen Menschen haben sie täglich mit Politikern und deren nachgeordnetem Gezumsel zu tun, sie bearbeiten fast nur Themen,die ihnen Politiker vorgeben, sie denken in den Mustern und Kategorien von Berufspolitikern, sie sehen Politik praktisch immer durch die Brille der Politiker. Auch die Welt mancher Wirtschaftsjournalisten muss eine eigene sein, deren Sprache an keiner Schule gelehrt wird. Und während sich Sportjournalisten vermutlich am Stammtisch, dem Journalistensinnbild gemeinen Volkes schlechthin, bestens schlagen können, sind Kulturjournalisten unserem Diesseits komplett entrückt.

 Stefan Willeke, bis vor kurzem Ressortleiter Dossier bei der ZEIT und nun deren Chefreporter, nennt das freimütig – aber auch etwas verharmlosend – das „Eppendorf-Syndrom“:

„Natürlich stammt kaum jemand von uns aus einer Hartz-IV-Familie. Natürlich leben wir viel zu oft in denselben bürgerlichen Stadtteilen derselben Großstädte, in Berlin-Prenzlauer Berg oder in Hamburg-Eppendorf. Altbau, hohe Decken, Fischgrätparkett.” Und natürlich tendierten “die Journalisten der großen Zeitungen […] stärker zum rot-grünen Milieu […] als die meisten Wähler.”

Noch deutlicher macht Willeke sein Eppendorf-Syndrom allerdings mit seiner monströs vorgetragenen ZEIT-Arroganz: „wir, die Journalisten meinungsbildender Blätter“ schreibt er über sich, während er sein Haupt schüttelt über den von ihm recherchestark besuchten Pöbel, dessen Meinung die ZEIT bisher noch nicht zu seiner Zufriedenheit bilden konnte.
Und so interpretiert er aus seinem Paralleluniversum diese komischen Menschen, die er quer durch Deutschland besucht hat.

„Eine deutsche Präzisionsarbeit ist das, die Transformation von Angst in Wut. […] Wahrscheinlich hat sich der Wutbürger in einen Wutleser verwandelt. Politisch kann es jetzt um alles gehen, das von der hergebrachten Normalität abweicht. Und es kann zugleich gegen alle gehen, die Verschiedenheit zulassen.“

Verschiedenheit ist hier natürlich immer die Verschiedenheit der Gleichen, die Verschiedenheit derer, die mit unter der politischen Dunstglocke sitzen.

Stefan Kuzmany, Kulturredakteur im Berliner Büro von SPIEGEL ONLINE, lebt sein Eppendorf-Syndrom an Burger-King-Darmbakterien für Proleten aus. In einer Rezension der RTL-Sendung „Team Wallraff – Reporter undercover“ vom 28. April 2014 überlegt er kurz öffentlich, ob er als Fernsehkritiker die dramatisierende Aufmachung bemäkeln sollte, die Musik, die Floskeln, die unnötigen Inszenierungen, die einfältigen Recherchetipps des großen Enthüllers Günter Wallraff („Eigentlich fehlt nur noch, dass Wallraff sich bei seinen Eingebungen die Nase reibt wie Wickie, das superschlaue Besserwisserkind“). Doch er entschließt sich, heute mal auf Kritik zu verzichten angesichts der Ekelzustände bei Burger King – der Aufklärung der Unterschicht zuliebe:
„Setzt man voraus, dass Fast-Food-Kunden auch RTL-Kunden sind, ist es möglicherweise sogar zwingend notwendig, die eigentlich für sich selbst sprechenden Fakten publikumsgerecht auszuschmücken, damit die Zielgruppe dranbleibt – und vielleicht demnächst den Yildiz-Filialen fern.“

Im FAZ-Feuilleton lässt uns Christian Metz mit einem Blick auf David Fincks Roman „Das Versteck“ etwas von seinem Paralleluniversum erahnen:

„Bernhard und Gabriele, die Perspektivfiguren des Romans, sind ein Allerweltspaar. Er arbeitet als Anwalt in einer kleinen Kanzlei, sie als Architektin in einem Büro.“

Kleinstparteien

“Sie machen den Wahlzettel extralang, und ihre Namen sind oft extraschwer zu merken: Tierschutzpartei, Familien-Partei, Partei Bibeltreuer Christen, die Violetten, Partei der Nichtwähler, Partei der Vernunft, die Nein!-Idee – so viele Kleinparteien wie nie haben sich um die Zulassung für die Bundestagswahl beworben.” (Spiegel-Online)

Spiegel-Online berichtet etwas wirr von den Kleinstparteien. Die Intention ist nicht ganz klar, aber drei Dinge fallen auf:

a) Ausgerechnet die absolute Pseudopartei “Die Partei” wird nicht erwähnt und auf ihre Existenzberechtigung hin befragt. Deren Chef Martin Sonneborn arbeitet für Spiegel-Online und promotet dort seine Spaßpartei nach Kräften.

b) Der Erfolg – bzw. bisher Misserfolg – von Kleinstparteien hat wesentlich mit unserem Wahlsystem zu tun, bei dem man sich nur für eine Partei entscheiden kann und die Stimme nur dann nicht verloren ist, wenn die Partei die 5 Prozenthürde schafft. Deswegen wählen viele, die zwar mit einer kleinen (monothematischen) Partei sympathisieren konventionell.
Ändert man den Wahlmodus z.B. so, dass die Wähler so viele Parteien ankreuzen können wie sie wollen, kommt die Tierschutzpartei in einem wissenschaftlichen Versuch in Konstanz 2009 auf 12,2% (würde den Einzug ins Parlament aber dennoch ganz knapp verpassen). (Quelle)

c) Und wie bei allen anderen Parteien auch wäre es gut, wenn Politikjournalismus einmal die Blickrichtung ändern würde. Es geht ja nicht um die Parteien und ihre paar Protagonisten, es geht darum, was die Bürger wollen  – und dann möglicherweise mit einer Partei zu erreichen glauben. Deshalb wäre z.B. nicht die Tierschutzpartei das Thema, sondern Tierschutz. Der spielt aber überhaupt keine Rolle.

Wenn der Scheiß-Kahn sinkt

Die Wahlberechtigten in Deutschland reden vier Wochen vor der Bundestagswahl am 22. September 2013 übers Wetter und Essen, nicht aber über Politik, beklagt Günther Lachmann in der Welt aktuelle Meinungsumfragen. Und konstatiert am Ende:

“Das Land [Deutschland] scheint eine Insel der Seligen, eine Oase des Wohlstands zu sein. Es verharrt in einem eigenartigen Stillstand, der die Schatten der Zukunft fernzuhalten scheint. Dieses Land, das so oft und so sehr nach einem Wandel strebte, will derzeit nur eines: die Zeit anhalten. Es gibt sich einer gefährlichen Illusion hin.”

Selige und Wohlhabende gibt es ohne Zweifel, aber dass sie “das Land” sind, müsste erstmal bewiesen werden – viel Spaß bei dem Versuch.

Natürlich “steht viel auf dem Spiel”, wie es im Vorspann heißt, – doch die erforschte Interesselosigkeit ist gerade kein Wunder, sondern Zwangsläufigkeit. Lachmann führt zwar einige “Highlights” deutscher Politikdiskussionen an, verkennt aber, dass genau ihre Folgenlosigkeit zum Politikerverdruss geführt hat, und zwar, wie richtig analysiert, fortwährend – wenn auch nicht kontinuierlich – steigend.

“Politisch interessiert blieben die Deutschen dennoch. Die Atomenergie spaltete die Gesellschaft in zwei Lager, in das der Befürworter und das der erbitterten Gegner. Aus der Ablehnung der Aufrüstung zwischen Ost und West formierte sich die Friedensbewegung. Bis zur Bundestagswahl 1987 lag die Wahlbeteiligung bei weit über 80 Prozent.”

Eben: Atomkraftwerke hat die Mehrheit der Bevölkerung immer schon abgelehnt, schlicht aus Angst. Dennoch wurden immer mehr gebaut, und selbst der rot-grüne Ausstieg war nur eine Vertröstung, kein Ende der Gefahr. Wen oder was soll man da wählen, wenn ohnehin Politiker im Verbund mit Wirtschaft, “Experten” und im schlimmsten Fall auch noch Journalismus-Onkels als Kaste der Weisen entscheiden, wo es zum Wohl des dummen Volkes hingehen soll? Und Atommüll hinterlassen, für das nun – völlig ernstgemeint! – ein auf eine Million Jahre sicheres Lager gefunden werden soll! Jetzt, nachdem Politiker in ihrer unendlichen Weisheit sechs Jahrzehnte lang das Land mit Atommüll angereichert haben. Allein dieser langanhaltende Wahnsinn macht alle beteiligten Parteien unwählbar.

“Zum anderen gelang es SPD und Grünen, den Menschen das Gefühl zu vermitteln, mit ihnen breche eine neue Zeit an. Als diese neue Zeit dann in Form der Hartz-Gesetze wirkungsvoll in den Alltag eingriff, stürzte Schröder über massive Proteste auf der Straße, aber auch aus der eigenen Partei.”

Eben. Gewählte Politiker setzen eben nicht um, was die Wähler wollen (wozu natürlich auch die Kommunikationswege fehlen), sondern sie machen, was sie wollen. Deshalb gibt es eine wahlerfolgreiche Links-Partei, die natürlich im Falle der Regierungsbeteiligung auch wieder nur machen würde, was ihren Karrieristen nützt.

“Die Menschen glauben nicht mehr, dass Politik die Probleme dieser Zeit lösen kann. Sie wissen aber auch nicht, wer diese Probleme sonst lösen könnte.”

Im ersten Satz muss es richtig heißen “lösen will”, nicht “kann”: Politiker leben schließlich von ihren selbstgeschaffenen Problemen – “alles in Ordnung” ist für sie keine Geschäftsgrundlage. Der zweite Satz ist nicht mehr als eine freche Behauptung, schließlich gibt es unzählige Bürgerinitiativen, engagierte Gruppen, Vorschläge von Verbänden und Kirchen und weiß der Kuckuck wem alles, die jedoch eint, dass sie nicht gewählt werden können. Vom Politikjournalismus wird das jeweils nur soweit zur Kenntnis genommen, wie es für die eigene Leserschaft notwendig ist, sei es als Skandal oder Hoffnung.

Die Ignoranz des Journalismus’, zumindest in diesem Fall des Springer-Journalismus’, quillt zum Beispiel aus folgenden zwei Sätzen: Weiterlesen

Parteien und Journalisten haben gewählt

Warum blicken Journalisten immerzu aus der Sicht der Mächtigen, der großen Akteure unserer Gesellschaft – und so selten aus der Sicht der Bürger, des Souveräns, ihrer Journalismus-Kunden auf das politische Geschehen? Viele Verdrossenheiten, die sich derzeit als Journalismus-Verdruss bündeln lassen, dürften sich in Wohlgefallen auflösen, wenn es in der Berichterstattung, dem Talk-Gequatsche, den Analysen und Kommentaren um die große Mehrheit der Leser, Hörer und Zuschauer ginge. Und das sind keine Berufspolitiker, keine Vorstandsvorsitzenden von Banken oder Autokonzernen.

Nie wird das Manko so deutlich wie bei der Wahlberichterstattung. Von der Idee her soll am Wahltag der Souverän die Grundrichtung festlegen, in die es in den nächsten Jahren gehen soll.

Dabei beschränkt sich die Selbstbestimmung des Volkes zwar auf das, was Parteien und ggf. Direktkandidaten anbieten und – ohne jeden Bindungszwang – olitisch umzusetzen versprechen, aber immerhin: aus dem vorgelegten Angebot, vom politischen System selbst auf seine Zulässigkeit geprüft, sollen die stimmberechtigten Bürger frei wählen dürfen. Sie können dabei nichts falsch oder richtig machen, denn was für richtig und was für falsch zu halten ist, entscheiden sie ja gerade bei der Wahl selbst.

Doch was machen die Damen und Herren Journalisten? Sie verkumpeln sich mit den Politikanbietern, mit den Dienstleistern der Wähler, verbringen den Tag mit ihnen in deren Geschäftszentralen und kolportieren über Stunden, wie sich das vom Steuerzahler finanzierte Politikpersonal gerade fühlt und wie es – ab 18 Uhr – gedenkt, den Wählerwillen jetzt Wählerwillen sein zu lassen und zum Parteiengeschäft überzugehen.

Die Wähler haben nicht einfach gewählt, nein, es sind immer die Parteien, die gehandelt haben – und zwar die Mitte-Parteien immer gut, wenn sie viele Stimmen bekommen haben.

” Während sich die SPD auf ihre alten Stärken besonnen hat, hat die CDU die Macht in den Ruhrgebietsstädten verspielt.” (Der Westen)

Der Wähler hat nicht entschieden, sondern SPD und CDU haben entschieden. Die Sozis haben sich richtig, die Union irgendwie falsch benommen. Der WAZ-Chefredakteur Ulrich Reitz weiter:

“Duisburg zeigt, wie es auch gehen kann […] Duisburg ist für die Revier-CDU der einzige Trost. Trostlos ihre Perspektive in Bochum, einer Stadt, in der der SPD zuletzt eine Menge daneben ging und in der immerhin der Bundestagspräsident Lammert zuhause ist. Ernüchtern auch das CDU-Ergebnis in Mülheim: Mit diesem schlechten Abschneiden der CDU hatte niemand gerechnet, nicht einmal die SPD. “

Andere Überschriften vom WE:
“Sein Traum vom OB-Amt ist wieder geplatzt” (Aus Bürgersicht heißt das: Etwa 15% der Wahlberechtigten wollten den CDU-Kandidaten als Oberbürgermeister haben – oder auch: 85% haben ihn nicht gewählt.)
“NRW-Siege als kleines Trostpflaster für die SPD” (Eine wirklich reizende Perspektive: das Wählervotum als Bonbon für die SPD.)

Auch in Thüringen gab es keine Wahl, sondern schlechte (sportliche?) Leistungen der Wähler, für die ungenügende PR-Arbeit der Parteien verantwortlich ist.

“Trotz der CDU-Schlappen in Thüringen und im Saarland startet Angela Merkel keine Offensive.” (Spiegel-Online)

Es geht nicht um Politik, sondern um Strategie und Attacke.

“Thüringen: Althaus nach der Wahlpleite” (Süddeutsche)

“NPD verfehlt Einzug in Thüringer Landtag um 7300 Stimmen” (Welt)

Was muss man tun, um einen Einzug zu verfehlen? An der Tür vorbeilaufen, den Bus verpassen, verschlafen? “Thüringen bleibt damit weiterhin das einzige ostdeutsche Bundesland, in dem es seit 1990 keine rechtsextreme Partei in den Landtag geschafft hat.” Ist das ein Versagen der Parteien? Oder haben schlicht stets weniger als 5 Prozent der Wähler für rechtsextreme Politik votiert?

Ging es bei den Landtagswahlen überhaupt um Landtagswahlen? Die Süddeutsche erklärt uns die Probleme, die die Wähler verursacht haben:

“In einem Punkt ist der Wahlsonntag für Angela Merkel gut gelaufen: In drei Ländern haben Persönlichkeiten die Wahlen entschieden, im Sieg wie in der Niederlage. […]Die Probleme für die CDU-Vorsitzende Merkel beginnen damit, dass sie als Parteichefin eine Mitverantwortung für die Niederlagen übernehmen muss, weil sie Althaus und Müller nicht die alleinige Schuld hinschieben kann, obgleich beide selber schuld sind – wenn auch Althaus mehr als Müller.”

Und wie geht es weiter? Nicht mit Politik jedenfalls, sondern mit PR, mit Werbung, mit Propaganda. Die FAZ weiß schon jetzt, dass es nicht etwa am Bürgerwillen liegt, wenn nach dem 27. September auf Bundesebene keine schwarz-gelbe Koalition entsteht. Unter der Überschrift “Gelbe Sorgen” heißt es:

“Wenn es wieder nicht reicht, wird das auch daran liegen, dass die Union bis hinauf zur Bundeskanzlerin bisher nichts tut, um die Strahlkraft eines schwarz-gelben Bündnisses zu vermitteln und damit Wechselstimmung zu erzeugen.”

Über das zu berichten, was Wähler wollen oder nicht wollen, ist anstrengend. Einfach ist es, mit den Parteien über ihren Wahlkampf zu schwadronieren. Wie beim Staubsaugerverkäufer geht es nicht um das Produkt, sondern um Verkaufsgeschick.

“Angela Merkel bleibt beim Schlafkampf – Angela Merkel will weiter die entrückte Superkanzlerin spielen und sich nicht mit der SPD fetzen. Experten sagen, das sei strategisch richtig – die Quittung komme aber nach der Bundestagswahl. Von Lutz Kinkel” (stern.de)

“Berlin vertraulich: SPD entkoppelt sich von der Realität – Die Siegerlaune von SPD-Kanzlerkandidat Steinmeier schien Beobachtern arg übertrieben. In der SPD jedoch freuen sich viele. Man darf wieder hoffen, Juniorpartner in einer Großen Koalition zu werden. Von Hans Peter Schütz” (stern.de)

Journalisten können über Politiker und ihr Streben nach Macht sogar berichten, wenn es praktisch gar keine Wähler gibt. Solange die Story gut ist. “Die Partei” von Satiriker Martin Sonneborn ist ein reines Medienprodukt, und die Bereitschaft der Journaille, sich für die Werbung von Hape Kerkeling als Horst Schlämmer einspannen zu lassen, ist nur noch witzfrei, ekelig und Wähler verachtend zu nennen.

Hans Onkelbach klagt in der Rheinischen Post:

“Das kann man drehen und wenden, wie man will – Tatsache ist, mehr als 50 Prozent der Düsseldorfer Wähler sind gestern nicht zur Urne gegangen und haben damit unmissverständlich klar gemacht, wie egal es ihnen ist, wer im Rathaus das Sagen hat.”

Es ist ein An- und Beklagen aus Sicht der Politiker – und der Journalisten, die mit ihrem Medientanz um das Promi-Personal der Parteien an deren Unattraktivität partizipieren.
Welche Unverschämtheit, in Wahlverweigerung eine Scheißegal-Haltung hineinzuinterpretieren. Ist mir meine Ernährung – oder noch besser: die Volksgesundheit – egal, wenn ich an einer dreckigen Imbissbude weder Currywurstpommes noch Frikadelle bestelle?

Ralf Klassen, stellvertretender Chefredakteur von stern.de, verortete CDU-Mann Peter Müller am Wahlabend in einem Paralleluniversium. Wo immer Klassen sich befindet, viele seiner Kollegen sind bei Müller – und fühlen sich dort sichtlich wohl.