Schlagwort-Archive: Vollständigkeit

Text des Tages

In der Rubrik „Bild des Tages“ präsentiert der Schleswig-Holsteinische-Zeitungsverlag (sh:z) am 14. Oktober 2024 das hier Abgebildete. Der Text („BU“) dazu lautet:

>Minya, Ägypten. Menschen stehen neben den Trümmern, nachdem eine Lokomotive in das Heck eines nach Kairo fahrenden Personenzugs etwa 168 Meilen südlich von Kairo gekracht ist. Foto: AP/dpa<

Eine reine Bildbeschreibung als Schrifttext wird Blinden nicht viel helfen. Und auch Sehende sollten vielleicht erfahren, was sie auf dem „Bild des Tages“ nicht sehen können. „Forbes“ berichtete unter Berufung auf die staatliche Zeitung Al-Ahram von mindestens zwei Toten und 20 (Leicht-)Verletzten, „Daily News Egypt“ spricht von einem Toten. Weiterlesen

Was wer wissen muss (Korinthe 93)

Schon in nachrichtlichen Texten gehört zur Vollständigkeit jeder News eine ihre Relevanz begründende Einordnung – auch wenn dies regelmäßig unterbleibt. Aber schon die tägliche Polizeimeldung in der Lokalzeitung vom Verkehrsunfall braucht diesen Kontext: War der vermeldete der einzige Unfall am Vortag oder einer von vielen? War der Unfall ein statistisches Unikat oder ein erwartbares, nur nicht genau zu terminierendes Ereignis?

In Kommentaren gehört zur Einordnung die eigene faktische Position, von der aus Vorgänge bewertet werden.

In der Spiegel-Kolumne „Die Lage am Morgen“ fragt Philipp Wittrock am 12. April 2024, wer dem AfD-Politiker Björn Höcke abnehmen wolle, „dass er, der Geschichtslehrer, nicht gewusst haben will, dass »Alles für Deutschland« eine SA-Parole ist?“ Weiterlesen

Bauern-Protest und demokratische Kultur in der Tagesschau

Die Tagesschau präsentiert zum heutigen Beginn der „Bauernproteste“ online als erste Meldung:

>Forscher, Verfassungsschützer und Politiker warnen: Extremisten unterwandern zunehmend Demos. Von den Landwirten fordern sie eine klare Abgrenzung. Wenn an Traktoren Galgen hängen, sei eine Grenze überschritten, so Minister Habeck.<

Entgegen der Ankündigung im Teaser kommen jedoch nur ein Forscher und ein Verfassungsschützer im Beitrag zu Wort. Nach welchem Kriterium die beiden ausgewählt wurden, wird nicht dargelegt. Damit ist u.a. völig unklar, ob ihre Positionen als repräsentativ für ihr Metier gelten können – was bei dem Allgemeinbegriff „Forscher“ schon an sich unmöglich wäre. Eine Vielfalt an Perspektiven kann so keinesfalls aufgezeigt werden, womit das Qualitätskriterium der Vollständigkeit tangiert ist.

Denn was der zitierte Forscher Matthias Quent (Institut für demokratische Kultur, Hochschule Magdeburg-Stendal) vorträgt, sind vor allem Bewertungen, ja konkrete Handlungsempfehlungen: Weiterlesen

Medienkritik zur Berichterstattung über Aiwangers Flugblatt aus Jugendtagen

Das Skandalthema dieses Wochenendes lautet, der bayerische Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) habe als Schüler ein antisemitisches bzw. rechtsextremistisches Flugblatt verfasst. Dies hatte die Süddeutsche Zeitung anonyme Zeugen behaupten lassen und in ihrer Print-Ausgabe (26.08.2023) auch das Corpus Delicti präsentiert. In kurzen Zeitabständen folgten öffentliche Anschuldigungen, Dementis und weitere „Enthüllungen“ – die erwartbare Empörungswelle war losgetreten. Auch ungeachtet der weiteren Entwicklung hat die SZ-Berichterstattung zahlreiche handwerklich Mängel. Eine Medienkritik mit nachfolgender Materialsammlung. Eine kürzere Zusammenfassung wesentlicher Kritikpunkte gibt es in einem eigenen Beitrag hier im Blog. 

Flugblatt aus SZ vom 26.08.2023 Seite 3

Flugblatt aus SZ vom 26.08.2023 Seite 3

Sechs Wochen vor der bayerischen Landtagswahl präsentierte die Süddeutsche Zeitung (SZ) am Freitag online und am Samstag  ausführlicher in Print auf Seite 3 eine Verdachtsberichterstattung über den Vize-Ministerpräsidenten und Vorsitzenden der Freien Wähler Hubert Aiwanger. Dieser stehe im Verdacht, „als 17-Jähriger“ „ein antisemitisches Flugblatt verfasst und im Burkhart-Gymnasium in Mallersdorf-Pfaffenberg ausgelegt zu haben“. Der Artikel wirft zahlreiche Qualitätsfragen auf, die von grundlegender Bedeutung für zahlreiche journalistische Darstellungen sind.

Aus dem „Schriftstück mit dem rechtsextremistischen Inhalt, das im Schuljahr 1987/88 in der Schule auftauchte“, zitiert die SZ online nur Bruchstücke. Was andere Medien – wie zu erwarten – nicht davon abhält, die Geschichte nur auf dieser Basis nachzuerzählen. t-online etwa hat, obwohl mit einem Redakteurs-Kürzel versehen, nichts weiter beizusteuern und folgt sogar dem Aufbau des Originals und bleibt auch in der Wortwahl so nah dran, dass Plagiatsjäger ihre Freude hätten.

Doch was spricht nun aus Sicht der Medienkritik gegen den SZ-Online-Artikel? Vor allem eine Minderleistung bei den Qualitätskriterien Relevanz, Maßstabsgerechtigkeit, Vollständigkeit, Einordnung, Richtigkeit und Transparenz. Weiterlesen

Journalistischer Rekord-Fetisch

Journalisten lieben Rekorde. Weil sich  aus jedem Rekord eine Meldung machen lässt. Besonderen Nachrichtenwert haben Rekorde, wenn sie unheilvoll klingen, im negativen Sinne noch nie Dagewesenes verkünden. Bei geschickter Auswahl lassen sich so aus einem Sammelsurium von Daten immer wieder Katastrophenmeldungen basteln. Besonders einfach geht dies bei Entwicklungen,  die zwangsläufig nur in eine Richtung verlaufen können und so permanent Rekord um Rekord bilden: dann werden vom Journalismus eigens dafür aufgestellte ‚Marken geknackt‚.

Beispiel Sterbe-Rekord

Ende Januar vermeldete das Statistische Bundesamt:

>Im Dezember 2020 sind in Deutschland nach vorläufigen Ergebnissen mindestens 106 607 Menschen gestorben. […] Mehr als 100 000 Sterbefälle in einem Dezember gab es zuletzt im Jahr 1969. Damals waren die Sterbefallzahlen im Zuge der Hong-Kong-Grippe erhöht und es wurden 109 134 Sterbefälle gezählt.<
(Destatis Pressemitteilung Nr. 44/2021)

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Zur medialen Debatte um Silvester-Ausschreitungen

Anmerkungen zu einigen medienkritischen und journalistischen Darstellungen und Kommentierungen der Gewalt gegen Polizei und Rettungsdienst an Silvester vor zwei Wochen.
Mit Updates zu einer Fehlberichterstattung  von t-online über Silvesterkrawalle im sächsischen Borna und Ergänzungen zu zwei Beiträgen auf Übermedien.

+ Zur medienwissenschaftlichen Debatte um die Herkunftsnennung von Tätern und Tatverdächtigen ist kurz vor Silvester ein Beitrag in der „Publizistik“ erschienen. Besprechung und Kommentierung dazu (leider in zwei Teilen veröffentlicht): „Welchen Pass hat der Täter? Herkunftsnennungen im Journalismus“ (16.01.2023); Teil 2: „Schon der Begriff ‚Migrant‘ ist eine Vernebelung“ (18.01.2023).

+ Andrej Reisin hat auf Übermedien – wie so oft – einige kluge Anmerkungen zur Mediendebatte gemacht. Am 4. Januar 2023 verweist er u.a. darauf, dass viele Polizeistellen von einer normalen bzw. ruhigen Silvesternacht berichtet hatten, und erzählt anekdotisch, dass es in Berlin Neukölln „früher“ schlimmer gewesen sei mit der Jugendgewalt (an Silvester). Weiterlesen

Der Staat im Stuhlkreis

Die journalistischen W-Fragen lauten Was, Wer, Wo, Wann, Wie, Warum und Woher (stammen die Aussagen). Die demokratischen W-Fragen lauten: Wer will was von wem wozu warum.

Wenn es in einem Artikel mal wieder um 200 Milliarden Euro geht, darf man erwarten, dass diese Fragen zumindest gestellt und die Antwortsuche dokumentiert wird. Aber Pustekuchen bei der Süddeutschen Zeitung. Sie titelt: Weiterlesen

Absurde Verdrehungen in der heute-Show

Abstract: Die Darstellung von Till Reiners ist in wesentlichen Punkten unvollständig und verzerrend und damit irreführend. An einer juristischen Falschbehauptung halten er und sein Sender unvermindert fest. Der ZDF-Intendant hat die Redaktion bereits „für eine bessere Detailtreue sensibilisiert“. Eine Falschinformation zur Strafbarkeit des sexuellen Missbrauchs wurde vom ZDF erst nach Eingabe einer formalen Programmbeschwerde korrigiert – teilweise. Der Begleittext zur Sendung („Dossier“ „What the Fakt!?“) war mit einem falschen Datum ausgewiesen: tatsächlich entstand er erst deutlich nach der Veröffentlichung des Videos. Letztes Update: 24.04.2023

„So viele absurde Sonderrechte haben christliche Kirchen in Deutschland“ betitelt die ZDF heute-Show ihren ersten Filmbeitrag von Comedian Till Reiners in der Sommerreihe „Till to Go„. Das journalistische Problem daran: Keines der von Reiners und seinem Co-Autor Stefan Stuckmann enthüllten „absurden Sonderrechte“ ist ein Sonderrecht der christlichen Kirchen. Und eigentlich sollte das auch alles längst bekannt sein, es ist zumindest sehr leicht herauszufinden. Reiners Behauptung zur Verjährung von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung ist grob falsch und wurde trotz vielfacher Hinweise nicht korrigiert.

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Wozu Recherche, wenn man von Verschwörung schwurbeln kann?

Nein, „die Medien“ machen in der Berichterstattung über Fynn Kliemann und den „Masken-Skandal“ nichts falsch. Wie sie auch sonst stets akkurat arbeiten (von der Bild abgesehen), weshalb man nichts so schwer in den Medien findet wie Medienkritik. Als Attest für die journalistische Akkuratesse darf u.a. gelten, dass die Kollegen von Übermedien nichts an den Medien, aber viel an Fynn Kliemann zu beanstanden haben. So wie auch unser Lieblingsmedium Spiegel, das gerade nochmal für seinen Podcast „Stimmenfang“ recherchiert hat:

„Das Ehrlichste, was sich Fynn Kliemann eingestehen müsste, ist, dass er selbst sein größter Feind ist, nicht die Medien, nicht die woke linke Szene, nicht irgendwelche wild gewordenen Reporter. Es ist Fynn Kliemann selbst, der sich immer wieder in irgendwelche Schwierigkeiten bringt, weil er eine fast schon verzerrte Wahrnehmung von sich selbst und dem, das er da tut, hat.“

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Paul Ehrlich Institut erfasst keine Abrechnungsdaten zu Impfnebenwirkungen

Nicht erst „Fake-News“ sind ein Problem in der öffentlichen Kommunikation – vorsätzliche Falschbehauptungen gibt es wenige und sie sind meist schnell entlarvt. Bedeutsamer dürften die vielen kleinen Fehler in der Berichterstattung sein, um die wir uns daher immer  mal wieder in diesem Blog kümmern. Brigitte Fehrle von der „Relotius-Kommission“ des Spiegel sagte damals: “Die am weitesten verbreitete Manipulation ist im Übrigen nicht das Hinzuerfinden, sondern das Weglassen.”

Nachdem ich über einen kleinen Fehler in einem Bericht des Tagesspiegel gestolpert bin, hat ein genauerer Blick noch ein paar weitere Schwachstellen gezeigt. Daher erfolgt mal wieder eine Textautopsie: „Chef der Krankenkasse „BKK ProVita“ bezweifelt Impfdaten – und muss jetzt gehen“ vom 2. März 2022; ähnliche Formulierungen wie die hier diskutierten finden sich in zahlreichen Beiträgen. Aus urheberrechtlichen Gründen sind wie immer Passagen ohne Anmerkungen ausgespart. Weiterlesen