Mehrere Frauen erheben neue Vorwürfe gegen Rammstein-Frontmann Lindemann. Gegenüber NDR und SZ beschreiben sie, wie junge Frauen offenbar gezielt für Sex mit ihm rekrutiert werden. Zwei Frauen berichten zudem von mutmaßlichen sexuellen Handlungen, denen sie nicht zugestimmt hätten.
So beginnt die Tagesschau (NDR) einen Bericht am 2. Juni 2023. Die Recherchen von NDR und Süddeutscher Zeitung werden breit kolportiert. Einige lose Anmerkungen zur Verdachtsberichterstattung über Till Lindemann und Reaktionen darauf.
1. Wir können uns alles Bohei um nicht-identifizierende Berichterstattung und die juristische Hoheit von Gerichten klemmen, wenn Investigativ-Journalisten einseitige Erzählungen wie Reportagen nachplappern:
Es ist ein Spätnachmittag im Februar 2020, das Konzert ist noch nicht einmal gestartet, als Till Lindemann im Backstage einer Konzerthalle durch die Tür schaut und mit dem Finger eine “Komm her”-Bewegung macht.
Oder:
Beide Frauen, sowohl Cynthia A. als auch Kaya R., sind nach ihren Erlebnissen […]
Da gibt es keinerlei Distanz der Reporter, sie setzen einzelne Aussagen als Wahrheit.
2. Die Autoren Daniel Drepper (Vorsitzender Netzwerk Recherche e.V.), Sebastian Pittelkow und Isabel Schneider schreiben:
Damals ist Cynthia A. nicht zur Polizei gegangen, hat aber Freundinnen und Freunden davon erzählt. Mehrere von ihnen haben dies an Eides statt gegenüber NDR und SZ im Detail bestätigt.
In den Worten der Nachplapperer heißt es dann:
Die Frauen haben gegenüber NDR und „Süddeutsche Zeitung“ eidesstattliche Versicherungen abgegeben, bleiben auf eigenen Wunsch anonym. (Bild)
Es gibt aber keine Versicherung an Eides statt gegenüber Journalisten. Es klingt wichtig, ist aber nicht mehr als das “große Indiander-Ehrenwort”. Eidesstattliche Versicherungen können nur gegenüber einer dazu berechtigten Behörde abgegeben werden (§ 156 StGB). Entsprechende Erklärungen gegenüber Anwälten, Notaren, Redakteuren sind nicht mehr als die Behauptung, dass stimme, was jemand sagt.
3. Was das Rechercheteam bisher vorlegt, ist wahlweise Entrüstung über die Sexualmoral des Rammstein-Sängers oder die Behauptung unzurechnungsfähiger Frauen. Gerade wenn Drepper im Tagesschau-Interview nochmal als Beleg für ‘das System’ die eine Aussage zitiert, die auch im Text steht – “Eine Frau berichtet, dass ihr klar kommuniziert worden sei, dass es den Zugang zu Konzert und Aftershow-Party nur bei Interesse an Geschlechtsverkehr mit Lindemann gebe” – sollte im Beitrag erörtert werden, wo das Problem liegt.
4 Dass der Verlag Kiepenheuer & Witsch (KiWi) “die Zusammenarbeit mit Till Lindemann mit sofortiger Wirkung” beendet hat, ist zwar allen Nachrichtenmedien eine Meldung wert, gehört aber zum Ablauf wie Betroffenheitsbekundungen von Politikern nach Unfällen. Wie weit es den Verlagsmenschen tatsächlich um ihre Werte geht, muss für immer Spekulation bleiben. Klar ist aber: wirtschaftlich angezeigt ist immer die sofortige Beendigung jedes Kontakts mit medial infizierten Personen bzw. Namen. Fynn Kliemann hat das im Podcast “Baby got Business” ein Jahr nach seinem Sturz so berichtet: bisherige Partner hätten ihm gesagt, da sei zwar nichts dran, aber sie könnten nicht anderes als die Zusammenarbeit mit ihm öffentlich zu beenden.
Die Berichterstattung täte daher gut daran, wenigstens die vorgetragene Begründung zu hinterfragen. KiWi-Verlegerin Kerstin Gleba schreibt nämlich:
>Im Zuge der aktuellen Berichterstattung haben wir Kenntnis erlangt von einem Porno-Video, in dem Till Lindemann sexuelle Gewalt gegen Frauen zelebriert und in dem das 2013 im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienene Buch “In stillen Nächten” eine Rolle spielt. Wir werten dies als groben Vertrauensbruch und als rücksichtslosen Akt gegenüber den von uns als Verlag vertretenen Werten.
Wir verteidigen aus voller Überzeugung die Freiheit der Kunst. Durch die FRauen demütigenden Handlungen Till Lindemanns im besagten Porno und die gezielte Verwendung unseres Buches im pornographischen Kontext wird die von uns so eisern verteidigte Trennung zwischen dem “lyrischem Ich” und dem Autor/ Künstler aber vom Autor selbst verhöhnt.<
Wo hebt Lindemann die Trennung zwischen Kunstfigur und Realperson hier auf? Ob er in Gedichten herumfantasiert oder in einem Film – es handelt das “lyrische Ich”. Die Sexualität und Gewalt in dem Video sind und bleiben gespielt, fiktional, so wie die Gedichte in dem Buch, das Lindemann wohl auch “seines” nennen dürfte (und nicht “das von KiWi”).
Siehe auch:
# Medienkritik, wo ist der Journalismus (zur metoo-Debatte und der Kritik von Thomas Fischer an der Verdachtsberichterstattung über Dieter Wedel)
# Spekulativer Nachrichtenwert (über die Verdachtsberichterstattung zu Julian Reichelt)
Hinweis:
Die Autoren dieser losen Anmerkungen hier sind Nullkommanull Fans von Rammstein, finden Musik wie Show vielmehr schon immer abstoßend. Die Beschäftigung mit diesem Medienfall ist daher mit besonderen Leiden und keinerlei Leidenschaft verbunden.