Archiv der Kategorie: kurz kommentiert

Was wer wissen muss (Korinthe 93)

Schon in nachrichtlichen Texten gehört zur Vollständigkeit jeder News eine ihre Relevanz begründende Einordnung – auch wenn dies regelmäßig unterbleibt. Aber schon die tägliche Polizeimeldung in der Lokalzeitung vom Verkehrsunfall braucht diesen Kontext: War der vermeldete der einzige Unfall am Vortag oder einer von vielen? War der Unfall ein statistisches Unikat oder ein erwartbares, nur nicht genau zu terminierendes Ereignis?

In Kommentaren gehört zur Einordnung die eigene faktische Position, von der aus Vorgänge bewertet werden.

In der Spiegel-Kolumne “Die Lage am Morgen” fragt Philipp Wittrock am 12. April 2024, wer dem AfD-Politiker Björn Höcke abnehmen wolle, “dass er, der Geschichtslehrer, nicht gewusst haben will, dass »Alles für Deutschland« eine SA-Parole ist?” Weiterlesen

Personalpolitik des Bayerischen Rundfunks per Twitter

Die öffentlich-rechtlichen Sender Bayerischer Rundfunk und Arte haben am Wochenende öffentlich verkündet, mit dem Journalisten und Moderator Malcolm Ohanwe nicht mehr zusammenzuarbeiten. Anlass waren wohl Äußerungen auf X/ Twitter zu den Angriffen der Hamas auf Israel.

Beide Sender machten die Personalentscheidung zwar öffentlich, lieferten aber keine für eine Beurteilung notwendigen Fakten. Stattdessen präsentierten sie ein Dauerproblem des Journalismus: Meinungen und Tatsachenannahmen statt Fakten.

So schrieb Arte am Samstagabend auf Twitter/X: Weiterlesen

SPIEGEL sehr knapp zu Farbanschlag auf Brandenburger Tor

Der SPIEGEL hat am Sonntag den Farbanschlag auf das Brandenburger Tor in Berlin, zu dem sich die “Letzte Generation” bekannt hat, nur in einer – recht wohlwollenden – Meldung beschäftigt. Anders als bei vergleichbaren Protestformen anderer politischer Gruppen verzichtete der SPIEGEL völlig auf eine Einordnung: Er benannte keine Details zu den Folgen des Farbanschlags und brachte keinerlei kritisches Statement von gesellschaftlichen Akteuren. Stattdessen berichtete er:

>Die Protestaktion sei Teil des sogenannten Wendepunkts, hieß es von der Letzten Generation: Hunderte Menschen seien in der Hauptstadt zusammengekommen, um einen Wendepunkt anzustoßen. Bis Freitag seien Spenden von mehr als 600.000 Euro für die Aktionen der Klimaaktivisten zusammengekommen.
Von Montag an wolle sie erneut in größerem Umfang Straßen und Kreuzungen in Berlin blockieren, kündigte die Gruppe an. Die Polizei hat angekündigt, schnell zu reagieren und für Blockadeaktionen bekannte Kreuzungen und Autobahnausfahrten frühzeitig zu beobachten.<

Auf der Startseite gab es am Sonntagabend keinerlei prominenten Hinweis. Die Tagesschau hingegen, der immer wieder vorgeworfen wird, brisante Nachrichten nicht oder zu spät zu bringen, hatte den Vorfall in ihrer Hauptsendung um 20 Uhr.

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SPIEGEL: “Alles für Deutschland”

Fehler können und dürfen passieren – auch dem SPIEGEL. Doch wer sich nicht nur immer wieder seiner Dokumentationsabteilung rühmt, die jedes Wort prüfe, sondern wer auch bei der Beurteilung anderer gerne auf Fehlergnade verzichtet, sollte dann doch in entsprechendem Zusammenhang erwähnen, selbst einen Fauxpas begangen zu haben.

>Der Thüringer AfD-Chef Björn Höcke muss wegen des Vorwurfs der Verwendung von NS-Vokabular vor Gericht. Das Landgericht Halle in Sachsen-Anhalt ließ die Anklage der Staatsanwaltschaft Halle wegen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen zur Hauptverhandlung zu, wie das Gericht mitteilte.<

So beginnt Spiegel.de eine Meldung (13.09.2023), die gerade durch alle Medien geistert. Höcke und Nazi-Vokabular, da kann der Journalismus nicht widerstehen.

Etwas später heißt es im SPIEGEL-Text:

>Konkret geht es um Äußerungen Höckes auf einer AfD-Wahlkampfveranstaltung vor zwei Jahren in Merseburg. Höcke soll dort vor rund 250 Zuhörerinnen und Zuhörern die Worte »Alles für Deutschland« benutzt haben, die verbotene Losung der Sturmabteilung (SA) der nationalsozialistischen NSDAP. Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft wusste Höcke um die Herkunft und Bedeutung dieses Ausdrucks.<

Es fehlt eine Wissens-Begründung, die sich in anderen Texten findet, z.B.: “Höcke war vor seiner politischen Karriere Geschichtslehrer in Hessen.” (SZ) Weiterlesen

Alles Migranten?

Früher hießen mal alle ohne die Staatsbürgerschaft des Landes, in dem sie sich aufhalten: Ausländer. Das passte auf alle – sogar Touris – galt aber irgendwann zunehmend als diskriminierend. Wollte man das spezifizieren, gab es genügend Begriffe, die allesamt auch Metamorphosen zur diskriminierungsfreien Sprache erleben (wie: Asylanten wurden Asylsuchende, dann Flüchtlinge, Geflüchtete, Schutzsuchende…). Inzwischen heißen alle Ausländer “Migranten”. Das ist auf alle Fälle diskriminierungsfrei – und zwar im wissenschaftlichen, negativen Sinne. Denn damit wird auf sehr hilfreiche Unterscheidungen verzichtet. Ein Migrant ist jemand, der nicht nur auf Stippvisite kommt, sondern “in eine andere Gegend, an einen anderen Ort abwandert” (Duden). Weiterlesen

An Corona gestorben

Tim Röhn (Welt-Reporter und Leiter des Investigativ-Teams) schreibt auf Twitter:

“Habe die neue #Hirschhausen-Covid-Doku bis Minute 3 gesehen. Dann behauptet der Autor: „Zur Einordnung: In Deutschland sind 173.000 Menschen AN Corona gestorben.“ Das ist eine so offensichtliche Falschinformation, dass man fast von Absicht ausgehen muss, @DasErste” (10. Juni 2023; 23:39 Uhr)

Weiter hat Röhn dann nach eigenen Angaben nicht geschaut. Und als jemand, der sich intensiv mit dem Corona-Journalismus beschäftigt hat, kann ich es ihm sehr gut nachfühlen. Denn ja, solche Falschaussagen sind Absicht, sie sind kein Versehen, sie werden nicht korrigiert, wenn man den Kollegen darauf hinweist. Aber es sind nach meiner Einschätzung auch keine vorsätzlichen Lügen, kein bewusstes Biegen der Wahrheit wie in der klassischen Public Relations. Sondern es ist die Überzeugung dieser Journalisten, mit ihrer Hemdsärmeligkeit richtig zu liegen. Es ist ihr Erkenntnisdesinteresse, das zu all solchen Falschmeldungen führt – und die natürlich einen Bestätigungskosmos ergeben, einen Resonanzraum für weiteren Quark. Weiterlesen

“Der Westen” reichlich verpeilt im Norden

Erst interessiert tagelang nicht, dass die eigene Redaktion Quatsch als Nachricht verkauft. Als dann eine Frage dazu von uns eintrifft – bei der inhaltlich nicht wirklich etwas erwartet wird, die aber mindestens zum guten Ton gehört – wird der Quatschbeitrag etwas überarbeitet. Doch es fehlt sowohl ein Hinweis auf die Veränderung der Grundaussage, es fehlt eine Entschuldigung für die Fahrlässigkeit, die zu der vorherigen Quatschmeldung geführt hat – und es fehlt eine Antwort auf unsere Frage, oder wenigstens ein kurzer Dank für den in Frageform verpackten Hinweis auf Quark. Aber vielleicht ist “Der Westen” ja wirklich nur ein “Klickportal“, wie Übermedien-Gründer Stefan Niggemeier vor drei Jahren schrieb. Weiterlesen

Zur Rammstein-Berichterstattung

Mehrere Frauen erheben neue Vorwürfe gegen Rammstein-Frontmann Lindemann. Gegenüber NDR und SZ beschreiben sie, wie junge Frauen offenbar gezielt für Sex mit ihm rekrutiert werden. Zwei Frauen berichten zudem von mutmaßlichen sexuellen Handlungen, denen sie nicht zugestimmt hätten.

So beginnt die Tagesschau (NDR) einen Bericht am 2. Juni 2023. Die Recherchen von NDR und Süddeutscher Zeitung werden breit kolportiert. Einige lose Anmerkungen zur Verdachtsberichterstattung über Till Lindemann und Reaktionen darauf. Weiterlesen

Kirchenmoralischer Medienjournalismus?

Als “moralische[n] Medienjournalismus nach dem Wertebild der Kirchen” bezeichnet DWDL-Chefredakteur Thomas Lückerath epd Medien und KNA Mediendienst in einer Replik auf einen just bei epd Medien erschienenen Leitartikel von Hans-Jürgen Jakobs. Auf LinkedIn lobt Lückerath die digitale Vielfalt des heutigen Medienjournalismus und schreibt: Weiterlesen

Ein Volksentscheid kann nicht durch Abstimmung scheitern

Nach dem Ergebnis des Volksentscheids  “Berlin 2030 klimaneutral” ist allerorten vom Scheitern die Rede. Können Journalisten so sprachlich unsensibel sein?

Wie sollte ein “Entscheid” scheitern? Indem eine (neuerliche) technische Panne ihn verhindert vielleicht, aber sicherlich nicht, indem Bürger abstimmen oder es bleiben lassen. Tatsächlich gescheitert ist das Bürgerbegehren, das Berliner Klimaschutz- und Energiewendegesetz vom 22. März 2016 per Volksgesetzgebung zu ändern. Gescheitert ist also wenn schon die Initiative “Klimaneustart”, die diese Gesetzesänderung vorgeschlagen hat. Wobei “scheitern” auch hier im demokratischen Kontext reichlich absurd klingt.

Es ist die von Wahlen bekannte “Horse Race”-Berichterstattung, in der Journalisten stets die Kandidaten zu Akteuren machen statt korrekterweise die Wähler.

Die Süddeutsche Zeitung titelt:

Berliner Volksentscheid für strengere Klimaziele gescheitert

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