Da hier gelegentlich auch auf Medienkritik bei Telepolis (TP) verwiesen wird, sei auch die Medienkritik an Telepolis gewürdigt. Denn der jüngste Cup, pauschal alle Texte, die vor 2021 erschienen sind, zu depublizieren, hat erwartungsgemäß keine Begeisterungsstürme ausgelöst. (Im relevanten Medienjournalismus ist der Vorgang allerdings noch nicht angekommen.) Chefredakteur Harald Neuber spricht von einer „Qualitätsoffensive“ (Update dazu am Ende): Weiterlesen
Archiv der Kategorie: Qualitätsdebatte
Tatsachen und Meinungen – Ein Differenzierungsvorschlag
Für das Orientierungsangebot des Journalismus ist es essentiell, bei Aussagen zwischen Tatsachen und Meinungen zu unterscheiden. Dies betrifft die Recherche genauso wie die Darstellung/ Vermittlung. Denn während einer Tatsache keine „alternativen Fakten“ gegenüberzustellen sind, verlangt das Angebot zur Einordnung stets die gesamte Bandbreite an Meinungen.
Während der deutsche Pressekodex diesen Grundsatz nicht enthält, sagt das österreichische Pendant: „Für die Leserinnen und Leser muss klar sein, ob es sich bei einer journalistischen Darstellung um einen Tatsachenbericht oder die Wiedergabe von Fremdmeinung(en) oder um einen Kommentar handelt.“ (Österreichischer Presserat 2019: § 3.1)
Die Schweizer Selbstregulation formuliert: „Die Wahrheitssuche stellt den Ausgangspunkt der Informationstätigkeit dar.“ (Schweizer Presserat 2022: § 1.1) Da Meinungen keine Wahrheiten darstellen, lässt sich das Diskriminierungsgebot davon ableiten. Entsprechend für Deutschland: „Die Achtung vor der Wahrheit […] und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse.“ (Deutscher Presserat 2021: § 1)
In der Praktikerliteratur wie den Grundlagenwerken zur Journalistik taucht die Trennung von Tatsachen und Meinungen oft nur als selbstverständliche Randnotiz auf (Bölz 2018: 164; Thomaß 2012: 395; Russ-Mohl 2010: 61; Ludwig 2007: 68; kritisch Weischenberg 1995: 165-168; empirische Befunde bei Schönbach 1977).
Die Bedeutsamkeit einer Unterscheidung von Tatsachen und Meinungen für die Kommunikation und damit auch für Journalismus und Journalistik kann kaum überschätzt werden, denn die enthaltenen Informationen unterscheiden sich grundlegend. In einer Vielzahl von Fällen journalistischer Qualitätsdefizite ist die mangelhafte Unterscheidung von Tatsachen und Meinungen ursächlich (Rieg 2024: 15ff). Zugleich erscheint das Bewusstsein für dieses Qualitätsdefizit nicht sehr ausgeprägt.
Deshalb wird in diesem Beitrag die Unterscheidung von Tatsachen und Meinungen im Journalismus erörtert und mit Beispielen (B*, Quelle hinter dem Literaturverzeichnis) zur Diskussion gestellt. Leitendes Kriterium ist dabei das (mögliche) Orientierungsangebot journalistischer Produkte für Rezipienten (vgl. Meier 2018: 14f).
Dabei gibt es sicherlich noch Lücken, vielleicht auch Widersprüche. Entsprechend willkommen sind Kommentare, um die hiesigen Überlegungen weiterzuentwickeln, ggf. auch zu revidieren.
Übersicht:
a) Tatsachen
b) Meinungen
c) Die Äußerung einer Meinung
d) Tatsachen und Werturteile im Recht
e) Fallbeispiele zur Trennung von Tatsachen und Meinungen
f) Wertung mit (implizitem) Wertmaßstab
g) Wertungen ohne (verbindlichen) Wertmaßstab
h) Meinungen ohne Meinende
i) Plausibilität ist Meinung
j) weitere Begriffe und Abgrenzungen
k) Abgrenzungsprobleme
l) Weitere Fallbeispiele zur Abgrenzung
m) Definitionen
n) Indizien bzw. Indikatoren
o) Schlussfolgerungen für die journalistische Praxis
p) Tatsachen-Meinungs-Unterscheidung (erster Entwurf)
A1) Literatur
A2) Belege
A3) Fußnoten
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Framing statt Berichterstattung
DJV-Blog korrigiert intransparent
Die journalistische, also kollegiale Reaktion auf einen Reformaufruf für den Öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ÖRR), „Meinungsvielfalt jetzt“ fiel vor allem kommentierend auf – und wenig berichtend. Dass ausgerechnet bei einem solchen Medienthema Journalisten selbst wieder meinen, den Diskussionston angeben zu müssen, anstatt zunächst einmal nach sachlicher Berichterstattung die Reaktionen des (also: ihres) Publikums abzuwarten, zeigt wohl schon einen wesentlichen Teil des Problems. Weiterlesen
Bauern-Protest und demokratische Kultur in der Tagesschau
Die Tagesschau präsentiert zum heutigen Beginn der „Bauernproteste“ online als erste Meldung:
>Forscher, Verfassungsschützer und Politiker warnen: Extremisten unterwandern zunehmend Demos. Von den Landwirten fordern sie eine klare Abgrenzung. Wenn an Traktoren Galgen hängen, sei eine Grenze überschritten, so Minister Habeck.<
Entgegen der Ankündigung im Teaser kommen jedoch nur ein Forscher und ein Verfassungsschützer im Beitrag zu Wort. Nach welchem Kriterium die beiden ausgewählt wurden, wird nicht dargelegt. Damit ist u.a. völig unklar, ob ihre Positionen als repräsentativ für ihr Metier gelten können – was bei dem Allgemeinbegriff „Forscher“ schon an sich unmöglich wäre. Eine Vielfalt an Perspektiven kann so keinesfalls aufgezeigt werden, womit das Qualitätskriterium der Vollständigkeit tangiert ist.
Denn was der zitierte Forscher Matthias Quent (Institut für demokratische Kultur, Hochschule Magdeburg-Stendal) vorträgt, sind vor allem Bewertungen, ja konkrete Handlungsempfehlungen: Weiterlesen
Die SZ-Berichterstattung über das „Auschwitz-Pamphlet“ ist mindestens handwerklich defizitär
>Der bayerische Wirtschaftsminister und stellvertretende Ministerpräsident Hubert Aiwanger steht im Verdacht, als Schüler ein antisemitisches Flugblatt verfasst und im Burkhart-Gymnasium in Mallersdorf-Pfaffenberg ausgelegt zu haben.<
Mit diesem Satz eröffnete die Süddeutsche Zeitung am vergangenen Freitag eine vermeintliche Top-Story, die sofort von Medien im ganzen Land aufgegriffen wurde.
Doch die Berichterstattung der SZ hat schwerwiegende Qualitätsmängel, von denen ich vier skizzieren möchte.
Der erste Schwachpunkt ist, dass die SZ die Relevanz ihres Themas nicht nachvollziehbar begründet hat. Von heute aus betrachtet scheint sie klar: schließlich berichten alle intensiv, die Emotionen kochen hoch. Doch das wäre unlauter. Zu prüfen ist, ob wir es mit einer Orientierung bietenden Aufklärung zu tun haben oder mit einer Skandalisierung, die von Eigeninteressen der Medien und möglicherweise auch von einigen der in ihr vorkommenden Protagonisten getrieben wird. Weiterlesen
Aufarbeitung des Corona-Journalismus
Zum Working-Paper „Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus“ gibt es mehrere Interviews. Ein kurzes ist bei RTL West zu sehen. Ein sehr ausführliches hat Bastian Barucker geführt (zu dem es auch eine Kurzversion gibt):
Corona-Journalismus: Schweizer Qualitäts-Check
Einige der Kritikpunkte, die hier im SpKr-Blog im laufe der Zeit ausgeführt wurden, finden sich schon in der ersten großen Qualitätsstudie — allerdings nur für die Schweiz. Am „Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft“ (fög) wird seit 2010 die Qualität der Schweizer Medien gemessen[1] und in einem Jahrbuch veröffentlicht. Mit ähnlicher Methodik hat das Forschungszentrum der Uni Zürich Ende Juli 2020 Befunde zur „Qualität der Medienberichterstattung zur Corona-Pandemie“ (Eisenegger et al. 2020) vorgelegt. Die Inhaltsanalysen erfassen dabei stets nur allgemeine Ausprägungen der Berichterstattung, etwa wie viele verschiedene Akteure zu Wort kommen. Nicht gemessen werden u.a. so wichtige Qualitätskriterien wie die Richtigkeit oder Vollständigkeit von Berichten. Die Studie misst die Medienleistung in den Dimensionen Vielfalt, Relevanz und Deliberationsqualität.
Erster auffälliger Befund: Corona hat in der Berichterstattung nicht nur dem Eindruck nach alles beherrscht. Bis zu 75 % aller Artikel in den Zeitungen und aller Rundfunknachrichten der Stichprobe beschäftigten sich mit der Pandemie. Eine vergleichbare Themendominanz hat es wohl lange nicht gegeben. Zum Vergleich: Das dominante Thema Klimawandel erreicht im Schweizer Parlamentswahljahr 2019 zur Spitze kaum mehr als 10 % der Gesamtberichterstattung. Für die manuelle Inhaltsanalyse wurde eine repräsentative Stichprobe aus 28.695 Beiträgen zum Thema COVID-19 gezogen, die zwischen 1. Januar und 30. April in 22 deutsch- und französischsprachigen Schweizer Nachrichtenmedien erschienen waren (darunter NZZ, Tagesanzeiger, Blick, 10vor10 und Tagesschau des SRF[2]). Zusätzlich gab es eine automatische Vollerhebung des Themas COVID-19 in 34 deutsch-, französisch- und italienischsprachigen Schweizer Nachrichtenmedien mit insgesamt 100.612 Beiträgen aus der Zeit 1. Januar bis 30. Juni 2020.
Nachdem der Bundesrat (Schweizer Regierung) am 28. Februar 2020 die „besondere Lage“ erklärt hatte (mit Ziel und Folge einiger Kompetenzverschiebungen), stieg in den deutschsprachigen Schweizer Medien der Veröffentlichungsanteil mit Coronabezug von etwa 30 % auf über 60 % und blieb bis Mitte Mai stets über 50 %.
Damit ist die Dominanz überdeutlich — und zugleich zwangsläufig belegt, dass der Raum für alle anderen Themen sehr begrenzt war. Haarkötter beklagte schon Anfang April 2020 im Gewerkschaftsmagazin „Menschen Machen Medien“[3]:
>Die Sendezeit und die bedruckte und im Internet beflimmerte Fläche, die auf die Corona-Pandemie verwandt wird, verdrängt andere Sachverhalte und Ereignisse aus dem Sichtfeld. Dabei ist die Welt, entgegen dem weitläufigen Eindruck, nicht stehen geblieben. Die Krisengebiete, die es vor der Corona-Krise gab, bestehen immer noch, die Bürgerkriege, die Heuschreckenplagen und die Hungersnöte grassieren weiterhin völlig unbeschadet eines Virus, das auch den Journalismus beträchtlich infiziert hat.<
Während die Themenvielfalt insgesamt also stark sank, war sie laut Schweizer Studie innerhalb des Corona-Feldes jedoch nah am Maximum. Dazu wurden die journalistischen Stücke zum einen nach ihrem Ressort klassifiziert, nach gesellschaftlich-öffentlicher Sphäre (Politik, Wirtschaft, Kultur) und gemeinschaftlich-privater Sphäre (Sport, Bevölkerung/Human Interest). Zum anderen
>wurde das Thema identifiziert, über das zentral im Beitrag berichtet wurde. Unterschieden wurde dabei zwischen den Themen ‚Grundlagenwissen über Corona und Pandemie‘, ‚Umgang mit der Pandemie‘, ‚Maßnahmen gegen Corona/Pandemie auf individueller (Mikro), organisationaler (Meso), oder gesamtgesellschaftlicher Ebene (Makro)‘, ‚Schäden (Mikro, Meso, Makro)‘, ‚Nutzen (Mikro, Meso, Makro)‘, ‚Hilfen zur Bewältigung der Corona-Folgen‘ und ‚Exit(-strategien) aus dem Lockdown und Lockerung der Maßnahmen‘.< (Eisenegger et al. 2020: 8)
Eine solche Vielfaltsberechnung erfasst also nicht alle tatsächlichen Themen, sondern nur ein sehr grobes Raster. Ob alle möglicherweise für relevant gehaltenen Aspekte behandelt wurden, sagt die Auswertung nicht — so wie sie auch nicht berücksichtigt, ob die einzelnen Themen journalistisch „gut“ behandelt wurden; die Richtigkeit von Aussagen z.B. wird nicht überprüft, ob jeweils „die Gegenseite“ zu Wort kommt ebenfalls nicht. Die Themenvielfalt hat über die Zeit zugenommen. Zu Beginn der Pandemie erfolgte die Berichterstattung „zu insgesamt knapp 70 % aus der Perspektive der Medizin (42,2 %) und der Wirtschaft (26 %)“. Die Autoren resümieren:
>Zusammenfassend wird die Berichterstattung den sich ändernden Informationsbedürfnissen der Bevölkerung im Laufe eines Krisenzyklus weitgehend gerecht. Zunächst erfolgt die Vermittlung von Grundlagenwissen, dann stehen die Maßnahmen zur Bekämpfung der Krise deutlich im Vordergrund, gefolgt von der gemeinsamen Fokussierung auf die Maßnahmen und den Umgang mit der Krise sowie abschließend der Darstellung von Umgang, Maßnahmen und verursachten Schäden.< (Eisenegger et al.: 10)
Separat untersucht wurde die Vielfalt an Experten, die in den Medien zu Wort kommen. Experten sind dabei „alle Akteure, die wegen ihres privilegierten Wissens schwerpunktmäßig im Beitrag ihre Position, Ansicht, Entscheidung oder auch Forderung vermitteln (können)“. 83 % aller Beiträge werden auch von Experten getragen, und mit der Berücksichtigung verschiedener Professionen (wie Wirtschaft, Wissenschaft, Medizin, Politik, Justiz und Polizei) zeigen sich die Forscher erneut zufrieden:
>Dass die Corona-Pandemie ein gesamtgesellschaftliches Problem darstellt, zu dem sich auch verschiedene Expertengruppen äußern und ihre Perspektive einbringen sollten, wird somit in den Medien ab Mitte März 2020 weitgehend Rechnung getragen.< (Eisenegger et al.: 11)
Dennoch gibt es natürlich Experten, die besonders häufig zu Wort kommen. „Unter den 30 resonanzstärksten Experten waren fast nur Mediziner“, sagt Linards Udris auf Anfrage. So belegt der deutsche Virologe Christian Drosten bei den Internetangeboten von Blick, NZZ, Watson, Aargauer Zeitung, Berner Zeitung, 20minuten und Tagesanzeiger jeweils einen der ersten drei Plätze der am häufigsten zitierten Experten. Die „TOP-3-Experten“ zusammen vereinen gemeinsam je nach Medium 31 bis 75 % der Resonanz auf sich.
Untersucht wurde auch die „Deliberationsqualität“, und zwar unter drei Aspekten: „Behördendistanz“, „Einordnungsleistung“ und „Umgang mit Zahlen und Statistiken“. Zum spannenden ersten Aspekt konstatieren die Autoren:
>Die Befunde [zeigen], dass es leicht mehr kritische Stimmen gegenüber der nationalen Regierung und den nationalen Behörden (7 %) gibt als explizit unterstützende Stimmen (6 %). 14 % aller Beiträge thematisieren Regierungs- und Behördenhandeln neutral oder ambivalent. Es lässt sich also nicht behaupten, dass die Medien generell unkritisch über Behörden und die Regierung berichtet haben.< (Eisenegger et al.: 18)
Allerdings haben die Forscher auf eine sehr hilfreiche Differenzierung verzichtet und als „Kritik“ sowohl die Warnung vor als auch die Forderung nach mehr oder härteren staatlichen Maßnahmen zusammengefasst (was auch nachfolgende Studien so beibehielten). Doch mit einer qualitativ-hermeneutischen Betrachtung der Daten kommt Linards Udris zu folgendem Eindruck:
>Kurz vor dem Lockdown war es in der Schweiz so: Kritik an Regierung und Behörden war eher, dass diese bisher zu langsam reagiert hätten. Von dem her gab es damals (noch) keine Kritik, dass Maßnahmen wie der Lockdown übertrieben wären. Eine solche Kritik setzt erst ca. Anfang April ein. Schon relativ zu Beginn der Lockdown-Phase aber gab es Kritik an Regierung/ Behörden, dass diese die aktuelle Situation zu wenig professionell angehen würden — u.a. sei das Zusammentragen der Infektionsdaten aus den Kantonen zu langsam und zu fehleranfällig.< (Udris, persönliche Mitteilung)
In der Studie heißt es dazu:
>Eine systematische Auseinandersetzung mit der drastischsten Maßnahme, nämlich einem möglichen Lockdown, zum Beispiel durch einordnende Vergleiche mit unterschiedlich betroffenen Ländern, findet in den untersuchten Medienbeiträgen allerdings nur am Rande statt.< (Eisenegger et al.: 18)
Im Fazit ihrer Untersuchung der Corona-Berichterstattung, die ein „Stresstest für die Medien“ gewesen sei, heißt es:
>Insgesamt kann die Berichterstattungsleistung trotz klarer Mängel tendenziell positiv beurteilt werden. […]
Die Medien haben vor und während der Corona-Pandemie in mehreren Bereichen eine gute Qualität geleistet. Das bestätigt die früheren Resultate aus dem Jahrbuch Qualität der Medien, wonach die Qualität der Medien in der Schweiz im Allgemeinen relativ gut ist. […]
In nur rund 6 % aller Beiträge lässt sich eine fundierte, einordnende Hintergrundberichterstattung beobachten. Die Deliberationsqualität ist ambivalent, weil die Medien zwar insgesamt eine kritische Distanz gegenüber Regierung und Behörden wahren, diese Distanz aber in der sensiblen Phase kurz vor dem Lockdown gering ausfällt.< (Eisenegger et al.: 21)
In der Schweiz ist eine ganze Reihe (kurzer) Nachrichten zu dieser Studie erschienen, Tenor: „Schweizer Medien haben sachlich und vielfältig über Corona berichtet“[4]. In Deutschland gab es hingegen kaum Interesse an den Erkenntnissen (Ausnahmen u.a. das Branchenblatt Horizont[5]). Im Medienmagazin des Bayerischen Rundfunks kommentierte Studienleiter Mark Eisenegger die Ergebnisse, sein deutscher Kollege und gern gefragter Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen kommentierte den Bezug zu Deutschland[6]. Pörksen sieht nur eine sehr kurze defizitäre Phase in der deutschen Berichterstattung von zehn bis 14 Tagen:
>Journalistische gesprochen gab es sehr viele gute, herausragende, reflektierte Leistungen mit Ausnahme dieser Phase Ende März. Da hätte man aus meiner Sicht viel stärker auf eine Debatte über die Folgen und Nebenfolgen des Lockdowns drängen können.<
Aber war nicht genau das die entscheidende Phase, in der kritische Stimmen für die Meinungsbildung des demokratischen Souveräns notwendig gewesen wären? Begann nicht genau dort die Phase, in der die Weichen gestellt wurden, was künftig noch als denkbar, sagbar, diskutierbar gelten würde? Kann man sagen, es war quasi ein ‚kurzer Aussetzer‘, geschuldet der persönlichen Verunsicherung der Journalisten und ihrem Glauben an die Institutionen, die uns durch die Krise führen werden, auch und gerade ohne kritischen, umfassend informierenden Journalismus? Darum wird es im Weiteren noch ausführlich gehen – und nein, das ist kein „hindsight bias“ (Maurer/ Reinemann/ Kruschinski 2021: 57).
Bereits am 9. April 2020 hatten Vinzenz Wyss und Klaus Meier in Meedia „die fünf Defizite der Corona-Berichterstattung“[7] ausgemacht. In der Schweizer Studie sahen sie später ihre „erste grobe Analyse“ bestätigt. Meier resümiert[8] mit Bezug auf die fög-Studie:
>Zentraler Kritikpunkt war, dass die Maßnahmen von Politik und Behörden nicht frühzeitig in der Öffentlichkeit diskutiert wurden. Nicht vielfältige Recherche, kritische Distanz und Diskurs prägten demnach den Journalismus, sondern die Verlautbarungen ’starker Anführer‘ und sogar Rufe nach noch mehr und schnelleren drakonischen Einschränkungen unserer Grundrechte.
Die weitreichenden, bislang in der Demokratie nie dagewesenen Eingriffe waren zwischen einzelnen Experten und der Exekutive im Hinterzimmer verhandelt und anschließend lediglich verlautbart worden – insgesamt rund drei Dutzend Notverordnungen des Bundesrats. Ob sie im Detail notwendig, zielführend oder nicht auch willkürlich und widersprüchlich waren, wurde kaum recherchiert und thematisiert.<
Auch die kritisierte „Zahlenfixierung“, die „teilweise wie Tabellenstände im Sport vermittelt wurde“, weise die Schweizer Studie nach. Denn dort heißt es: „In 27,1 Prozent aller Beiträge machen Zahlen und Statistiken den Schwerpunkt der Berichterstattung aus.“
Obwohl aus professioneller Sicht Zahlen meist nicht für sich allein sprechen können, „sondern kritisch interpretiert und eingeordnet werden“ müssen, geschah dies in der Mehrzahl der Fälle nicht. In der fög-Studie heißt es:
>Es wird längst nicht immer begründet, was diese Zahlen aussagen und warum diese verwendet wurden. Der Anteil an Beiträgen ohne Einordnung von Zahlen und Statistiken (14,8 %) ist höher als der Anteil an Beiträgen, die Zahlen und Statistiken einordnen (12,4 %).< (Eisenegger et al. 2020: 21)
Klaus Meier:
>Ein weiterer Kritikpunkt von uns war, dass Virologen zu Medienstars aufgebaut wurden und Stimmen aus anderen Wissenschaften fehlten. […] Zudem bemängelten wir die Darstellung wissenschaftlicher Statements als eindeutig, unfehlbar und als Maßstab, nach denen sich Politik und Gesellschaft zu richten hätten. Dies läuft der Logik wissenschaftlicher Forschung zuwider, nach der sich Wissenschaftler irren dürfen – Wissenschaftler erzielen sogar durch den Beweis von Irrtümern Fortschritte.“[9]
Mangelnde Vielfalt wissenschaftlicher Expertise in der journalistischen Berichterstattung kritisiert nun auch die fög-Studie. Ob die Wissenschaft tatsächlich als unfehlbar dargestellt wurde, wie Meier und Wyss es annehmen, haben die Schweizer hingegen nicht untersucht.
Meier sieht zudem Indizien für mangelnde Transparenz im Journalismus. Weil Journalismus Medienrealität konstruiere und die Definition und Wahrnehmung von Krisen und Risiken durch die Menschen beeinflusse, müsste „immer wieder transparent darüber aufgeklärt werden, wie Journalismus dies tut.“ Doch unter den zahlreich zu Wort gekommenen Experten fehlten unter anderem Kommunikationswissenschaftler.
Der fünfte Kritikpunkt von Wyss und Meier bezog sich auf die Fokussierung und Dramatisierung des Einzelfalls, zulasten von Kontext und Gesamtstruktur. Dazu zählt vor allem die endlose Wiederholung dramatischer Bilder, beispielsweise von den Särgen in Bergamo[10], die in Deutschland zum Sinn- und Schreckensbild mindestens für gesamt Italien, wenn nicht für die globale Corona-Krise wurden, obwohl dies der realen Situation überhaupt nicht gerecht wurde (Beispiel: Tagesspiegel[11]). Bildsprache hat die fög-Studie allerdings komplett ausgeklammert, auch Fernsehnachrichten wurden nur auf ihre Texte hin untersucht, so dass zu repräsentativen oder verzerrenden Abbildungen der Corona-Pandemie die Journalismusforschung noch gefordert ist.
[1] https://www.foeg.uzh.ch/de/jahrbuch-qualit%C3%A4t-der-medien.html
[2] https://www.srf.ch/play/tv/sendung/tagesschau?id=ff969c14-c5a7-44ab-ab72-14d4c9e427a9
[3] https://mmm.verdi.de/beruf/gehts-auch-mal-wieder-kritisch-65457
[4] https://www.aargauerzeitung.ch/schweiz/studie-zeigt-schweizer-medien-haben-sachlich-und-vielfaeltig-ueber-corona-berichtet-138595389
[5] https://www.horizont.net/schweiz/nachrichten/universitaet-zuerich-relativ-hohe-qualitaet-der-berichterstattung-zur-corona-pandemie-184658
[6] https://www.br.de/radio/b5-aktuell/sendungen/medienmagazin/medien-schweiz-deutschland-corona-berichterstattung-100.html
[7] https://meedia.de/2020/04/09/journalismus-in-der-krise-die-fuenf-defizite-der-corona-berichterstattung/
[8] https://medienwoche.ch/2020/07/31/halb-voll-ist-eben-auch-halb-leer-studie-zur-corona-berichterstattung/
[9] https://medienwoche.ch/2020/07/31/halb-voll-ist-eben-auch-halb-leer-studie-zur-corona-berichterstattung/
[10] Bsp. für die Berichterstattung: https://www.bild.de/news/ausland/news-ausland/schockierende-bilder-aus-italien-armee-transportiert-corona-tote-69489308.bild.html Kritisch zum Narrativ: https://www.zispotlight.de/frank-fehrenbach-ueber-das-bild-aus-bergamo-oder-the-common-bond-is-the-movie-theatre/
[11] https://www.tagesspiegel.de/politik/italien-mit-hoechstzahl-an-corona-toten-armee-transportiert-leichen-mit-lkw-ab-ausnahmezustand-im-land-verlaengert/25660522.html
Die zitierte Literatur findet sich im Paper „Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus„, dem dieser Text entnommen ist.
Autopsie: Lauterbach fürchtet Winterwelle – und rügt Länder für »populistische« Lockerungen
Der folgende Beitrag von Marc Röhlig, Spiegel-Online kann stellvertretend für tausende solcher Artikel des Corona-Journalismus stehen. Wir stellen in erster Linie Fragen zur Argumentation. Dass sich der Beitrag auf Äußerungen des Bundesgesundheitsministers im Bayerischen Rundfunk stützt, steht dem nicht im Wege. Denn den BR-Beitrag gibt es ja bereits, journalistisch neu kann daher gerade nur die Beantwortung von relevanten Fragen sein. Zudem gibt es wieder Unrichtigkeiten (mindestens drei). Weiterlesen
Autopsie: Das Ende der Maskenpflicht naht
Als Beispiel für die anhaltenden Probleme des Corona-Journalismus wird nachfolgend eine längere, ungekürzte Artikel-Passage auf Qualitätsdefizite hin untersucht. Die Passage entstammt dem Artikel „Das Ende der Maskenpflicht naht“ von Deniz Aykanat, Thomas Balbierer, Johann Osel und Lisa Schnell in der Süddeutschen Zeitung (Print vom 23.11.2022, online seit 22.11.2022, jedoch datiert auf 23.11.). Diskussion bzw. Hinweise zu den Befunden sind wie immer willkommen. Weiterlesen
Wozu Recherche, wenn man von Verschwörung schwurbeln kann?
Nein, „die Medien“ machen in der Berichterstattung über Fynn Kliemann und den „Masken-Skandal“ nichts falsch. Wie sie auch sonst stets akkurat arbeiten (von der Bild abgesehen), weshalb man nichts so schwer in den Medien findet wie Medienkritik. Als Attest für die journalistische Akkuratesse darf u.a. gelten, dass die Kollegen von Übermedien nichts an den Medien, aber viel an Fynn Kliemann zu beanstanden haben. So wie auch unser Lieblingsmedium Spiegel, das gerade nochmal für seinen Podcast „Stimmenfang“ recherchiert hat:
„Das Ehrlichste, was sich Fynn Kliemann eingestehen müsste, ist, dass er selbst sein größter Feind ist, nicht die Medien, nicht die woke linke Szene, nicht irgendwelche wild gewordenen Reporter. Es ist Fynn Kliemann selbst, der sich immer wieder in irgendwelche Schwierigkeiten bringt, weil er eine fast schon verzerrte Wahrnehmung von sich selbst und dem, das er da tut, hat.“