SPIEGEL sehr knapp zu Farbanschlag auf Brandenburger Tor

Der SPIEGEL hat am Sonntag den Farbanschlag auf das Brandenburger Tor in Berlin, zu dem sich die “Letzte Generation” bekannt hat, nur in einer – recht wohlwollenden – Meldung beschäftigt. Anders als bei vergleichbaren Protestformen anderer politischer Gruppen verzichtete der SPIEGEL völlig auf eine Einordnung: Er benannte keine Details zu den Folgen des Farbanschlags und brachte keinerlei kritisches Statement von gesellschaftlichen Akteuren. Stattdessen berichtete er:

>Die Protestaktion sei Teil des sogenannten Wendepunkts, hieß es von der Letzten Generation: Hunderte Menschen seien in der Hauptstadt zusammengekommen, um einen Wendepunkt anzustoßen. Bis Freitag seien Spenden von mehr als 600.000 Euro für die Aktionen der Klimaaktivisten zusammengekommen.
Von Montag an wolle sie erneut in größerem Umfang Straßen und Kreuzungen in Berlin blockieren, kündigte die Gruppe an. Die Polizei hat angekündigt, schnell zu reagieren und für Blockadeaktionen bekannte Kreuzungen und Autobahnausfahrten frühzeitig zu beobachten.<

Auf der Startseite gab es am Sonntagabend keinerlei prominenten Hinweis. Die Tagesschau hingegen, der immer wieder vorgeworfen wird, brisante Nachrichten nicht oder zu spät zu bringen, hatte den Vorfall in ihrer Hauptsendung um 20 Uhr.

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SPIEGEL: “Alles für Deutschland”

Fehler können und dürfen passieren – auch dem SPIEGEL. Doch wer sich nicht nur immer wieder seiner Dokumentationsabteilung rühmt, die jedes Wort prüfe, sondern wer auch bei der Beurteilung anderer gerne auf Fehlergnade verzichtet, sollte dann doch in entsprechendem Zusammenhang erwähnen, selbst einen Fauxpas begangen zu haben.

>Der Thüringer AfD-Chef Björn Höcke muss wegen des Vorwurfs der Verwendung von NS-Vokabular vor Gericht. Das Landgericht Halle in Sachsen-Anhalt ließ die Anklage der Staatsanwaltschaft Halle wegen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen zur Hauptverhandlung zu, wie das Gericht mitteilte.<

So beginnt Spiegel.de eine Meldung (13.09.2023), die gerade durch alle Medien geistert. Höcke und Nazi-Vokabular, da kann der Journalismus nicht widerstehen.

Etwas später heißt es im SPIEGEL-Text:

>Konkret geht es um Äußerungen Höckes auf einer AfD-Wahlkampfveranstaltung vor zwei Jahren in Merseburg. Höcke soll dort vor rund 250 Zuhörerinnen und Zuhörern die Worte »Alles für Deutschland« benutzt haben, die verbotene Losung der Sturmabteilung (SA) der nationalsozialistischen NSDAP. Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft wusste Höcke um die Herkunft und Bedeutung dieses Ausdrucks.<

Es fehlt eine Wissens-Begründung, die sich in anderen Texten findet, z.B.: “Höcke war vor seiner politischen Karriere Geschichtslehrer in Hessen.” (SZ) Weiterlesen

Die SZ-Berichterstattung über das “Auschwitz-Pamphlet” ist mindestens handwerklich defizitär

>Der bayerische Wirtschaftsminister und stellvertretende Ministerpräsident Hubert Aiwanger steht im Verdacht, als Schüler ein antisemitisches Flugblatt verfasst und im Burkhart-Gymnasium in Mallersdorf-Pfaffenberg ausgelegt zu haben.<

Mit diesem Satz eröffnete die Süddeutsche Zeitung am vergangenen Freitag eine vermeintliche Top-Story, die sofort von Medien im ganzen Land aufgegriffen wurde.

Doch die Berichterstattung der SZ hat schwerwiegende Qualitätsmängel, von denen ich vier skizzieren möchte.

Der erste Schwachpunkt ist, dass die SZ die Relevanz ihres Themas nicht nachvollziehbar begründet hat. Von heute aus betrachtet scheint sie klar: schließlich berichten alle intensiv, die Emotionen kochen hoch. Doch das wäre unlauter. Zu prüfen ist, ob wir es mit einer Orientierung bietenden Aufklärung zu tun haben oder mit einer Skandalisierung, die von Eigeninteressen der Medien und möglicherweise auch von einigen der in ihr vorkommenden Protagonisten getrieben wird. Weiterlesen

Medienkritik zur Berichterstattung über Aiwangers Flugblatt aus Jugendtagen

Das Skandalthema dieses Wochenendes lautet, der bayerische Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) habe als Schüler ein antisemitisches bzw. rechtsextremistisches Flugblatt verfasst. Dies hatte die Süddeutsche Zeitung anonyme Zeugen behaupten lassen und in ihrer Print-Ausgabe (26.08.2023) auch das Corpus Delicti präsentiert. In kurzen Zeitabständen folgten öffentliche Anschuldigungen, Dementis und weitere “Enthüllungen” – die erwartbare Empörungswelle war losgetreten. Auch ungeachtet der weiteren Entwicklung hat die SZ-Berichterstattung zahlreiche handwerklich Mängel. Eine Medienkritik mit nachfolgender Materialsammlung. Eine kürzere Zusammenfassung wesentlicher Kritikpunkte gibt es in einem eigenen Beitrag hier im Blog. 

Flugblatt aus SZ vom 26.08.2023 Seite 3

Flugblatt aus SZ vom 26.08.2023 Seite 3

Sechs Wochen vor der bayerischen Landtagswahl präsentierte die Süddeutsche Zeitung (SZ) am Freitag online und am Samstag  ausführlicher in Print auf Seite 3 eine Verdachtsberichterstattung über den Vize-Ministerpräsidenten und Vorsitzenden der Freien Wähler Hubert Aiwanger. Dieser stehe im Verdacht, “als 17-Jähriger” “ein antisemitisches Flugblatt verfasst und im Burkhart-Gymnasium in Mallersdorf-Pfaffenberg ausgelegt zu haben”. Der Artikel wirft zahlreiche Qualitätsfragen auf, die von grundlegender Bedeutung für zahlreiche journalistische Darstellungen sind.

Aus dem “Schriftstück mit dem rechtsextremistischen Inhalt, das im Schuljahr 1987/88 in der Schule auftauchte”, zitiert die SZ online nur Bruchstücke. Was andere Medien – wie zu erwarten – nicht davon abhält, die Geschichte nur auf dieser Basis nachzuerzählen. t-online etwa hat, obwohl mit einem Redakteurs-Kürzel versehen, nichts weiter beizusteuern und folgt sogar dem Aufbau des Originals und bleibt auch in der Wortwahl so nah dran, dass Plagiatsjäger ihre Freude hätten.

Doch was spricht nun aus Sicht der Medienkritik gegen den SZ-Online-Artikel? Vor allem eine Minderleistung bei den Qualitätskriterien Relevanz, Maßstabsgerechtigkeit, Vollständigkeit, Einordnung, Richtigkeit und Transparenz. Weiterlesen

Alles Migranten?

Früher hießen mal alle ohne die Staatsbürgerschaft des Landes, in dem sie sich aufhalten: Ausländer. Das passte auf alle – sogar Touris – galt aber irgendwann zunehmend als diskriminierend. Wollte man das spezifizieren, gab es genügend Begriffe, die allesamt auch Metamorphosen zur diskriminierungsfreien Sprache erleben (wie: Asylanten wurden Asylsuchende, dann Flüchtlinge, Geflüchtete, Schutzsuchende…). Inzwischen heißen alle Ausländer “Migranten”. Das ist auf alle Fälle diskriminierungsfrei – und zwar im wissenschaftlichen, negativen Sinne. Denn damit wird auf sehr hilfreiche Unterscheidungen verzichtet. Ein Migrant ist jemand, der nicht nur auf Stippvisite kommt, sondern “in eine andere Gegend, an einen anderen Ort abwandert” (Duden). Weiterlesen

An Corona gestorben

Tim Röhn (Welt-Reporter und Leiter des Investigativ-Teams) schreibt auf Twitter:

“Habe die neue #Hirschhausen-Covid-Doku bis Minute 3 gesehen. Dann behauptet der Autor: „Zur Einordnung: In Deutschland sind 173.000 Menschen AN Corona gestorben.“ Das ist eine so offensichtliche Falschinformation, dass man fast von Absicht ausgehen muss, @DasErste” (10. Juni 2023; 23:39 Uhr)

Weiter hat Röhn dann nach eigenen Angaben nicht geschaut. Und als jemand, der sich intensiv mit dem Corona-Journalismus beschäftigt hat, kann ich es ihm sehr gut nachfühlen. Denn ja, solche Falschaussagen sind Absicht, sie sind kein Versehen, sie werden nicht korrigiert, wenn man den Kollegen darauf hinweist. Aber es sind nach meiner Einschätzung auch keine vorsätzlichen Lügen, kein bewusstes Biegen der Wahrheit wie in der klassischen Public Relations. Sondern es ist die Überzeugung dieser Journalisten, mit ihrer Hemdsärmeligkeit richtig zu liegen. Es ist ihr Erkenntnisdesinteresse, das zu all solchen Falschmeldungen führt – und die natürlich einen Bestätigungskosmos ergeben, einen Resonanzraum für weiteren Quark. Weiterlesen

“Hürden der Aufklärung”

Journalismus und gesellschaftliche Verständigung –
Vierteiliger Essay zur demokratischen Aushandlungspraxis.

Teil 1: Was ist und soll eigentlich (unsere) Demokratie?
Teil 2: Tatsachen als Problem der Verständigung
Teil 3: Wenn Diskussionsgrundlagen unklar sind
Teil 4: Debatte: Meinungen aufs Geratewohl

Der Essay enthält einige für die Medienkritik relevante Fälle, vor allem zur Verwechslung von Tatsachen und Meinungen (Stichworte: Buch “Gekränkte Freiheit” von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey; “Führer der freien Welt”; “Zeitenwende”; “Die Wissenschaft irrt sich empor”; “Die Covid-Impfung schützt Sie zuverlässig”; Vergleichbarkeit oder Unvergleichbarkeit von Covid-19 und Grippe; “BILD ist deutscher Rügen-Meister”; falsche Annahme einer einheitlichen Grundgesamtheit bei statistischen Vergleichen; Armin Wolffs “die Ukraine habe einen ‘Krieg gegen Russland’ begonnen”; Fremdschutz durch Corona-Impfung; Bereicherung durch Zuwanderung; Sozialtourismus; “Ärzte und Pfleger arbeiten am Limit”; Sexismus; Meinungen aufs Geratewohl; Grenzen des Sagbaren; toxische Weiblichkeit).

Demokratisierung der Rundfunkräte

Die Aufsichtsgremien des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, die sogenannten “Rundfunkräte” (beim ZDF: Fernsehrat; beim Deutschlandfunk: Hörfunkrat), sind alles andere als divers besetzt. Sie sollen zwar die Zivilgesellschaft vertreten, spiegeln die Gesellschaft jedoch nicht wider (siehe die Auszählung “Repräsentativität in Rundfunk- und Fernsehrat – Eine vergleichende Analyse der Diskrepanz von Besetzung und Demografie“, von Jasmin Koch, Sabine Schiffer, Fabian Schöpp und Ronja Tabrizi, journalistik 1/2023).

In einem Essay für epd Medien (Heft 9/2023) habe ich daher erneut vorgeschlagen, die Rundfunkräte per Los zu besetzen: Bürger in die Räte (via Turi2). Wie immer bei solchen aleatorischen Auswahlverfahren muss dann zugleich die Amtsdauer radikal auf eine Sitzungswoche begrenzt werden.

Bereits in epd Medien 39/2014 hatte ich das Modell skizziert, kurz nach einem Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts und noch vor der Neuaufstellung des ZDF-Fernsehrats (der später zwar pflichtgemäß die Zahl der Politker-Plätze reduziert, sonst aber nichts für mehr Vielfalt getan hat): “Stellvertreter für alle“. Heute dürfte die Auslosung angesichts der in Mode gekommenen Bürgerräte weniger befremdlich wirken als damals.

Zu demokratischen Losverfahren sei auch auf meinen Podcast ?Macht:Los! verwiesen.