Schlagwort-Archive: Recherche

Der Staat im Stuhlkreis

Die journalistischen W-Fragen lauten Was, Wer, Wo, Wann, Wie, Warum und Woher (stammen die Aussagen). Die demokratischen W-Fragen lauten: Wer will was von wem wozu warum.

Wenn es in einem Artikel mal wieder um 200 Milliarden Euro geht, darf man erwarten, dass diese Fragen zumindest gestellt und die Antwortsuche dokumentiert wird. Aber Pustekuchen bei der Süddeutschen Zeitung. Sie titelt: Weiterlesen

Faktenfinder zum Sturm auf den Reichstag vom Gesetzgeber offline genommen

Die 3-in-1-Medienkritik:

  • Von der beispielhaften Auskunftsbereitschaft im NDR
  • Falschbehauptung im ‘größten deutschen Online-Magazin für Juristen’
  • Autopsie eines Tagesschau-Faktenfinders

Ausgerechnet diejenigen, die beruflich anderen Menschen Fragen stellen, antworten besonders ungerne auf ebensolche: Journalisten. Und die extra zur Auskunftserteilung beschäftigten Pressesprecher bei Medienunternehmen sind auch nicht kooperativer.

Wobei die Auskunftsfreudigkeit von Behörden, die im Gegensatz zu Journalisten und ihren Firmen i.d.R. zur Presseauskunft verpflichtet sind (nach den Landespressegesetzen, Bundesbehörden mangels gesetzlicher Regelungen als Ausfluss von Art. 5  GG) regelmäßig ebenfalls deutlich unter dem ist, was man als kooperatives Level verstehen könnte.

Im Zuge einer medienjournalistischen Recherche (zum konkreten Thema am Ende noch ausführlich) stieß ich beiläufig darauf, dass ein mir bereits bekannter Text aus der Reihe “Faktenfinder” von Tagesschau.de nicht mehr online stand. Der Link zu diesem Beitrag vom 31. August 2020 (13:08 Uhr) wird auf die Startseite umgeleitet, im Juni 2022 war er  jedoch  laut Archive.org noch verfügbar. Ungeachtet inhaltlicher Fragen war dies merkwürdig, da andere Faktenfinder-Artikel rund um dieses Datum im Archiv noch verfügbar sind, sogar zum gleichen Thema vom selben Tag.

Also fragte ich am 18. August 2022 bei der Redaktion via Kontaktformular nach. Es gab, wie so oft [1], keine Antwort. Nach zwei Wochen Geduld kontaktierte ich die NDR-Pressestelle. Schon wenige Stunden  später antwortete am 2. September Iris Bents (Zitat vollständig bis auf Anrede und Grußformel): Weiterlesen

Polizeijournalismus gesucht

Der Berliner Tagesspiegel wirbt in seinem heutigen Newsletter folgendermaßen für einen Artikel:

>>die Unfallmeldungen der Polizei klingen oft wie aus der Perspektive des verständnisvollen Beifahrers geschrieben: Der Autofahrer „konnte einen Zusammenstoß nicht mehr verhindern“, „nicht mehr rechtzeitig bremsen“, „nicht mehr ausweichen“. Die Radfahrerin oder der Fußgänger dagegen „wurde touchiert“, „erfasst“, „stürzte“ oder „kam unter den Wagen“. Warum das so ist, ob das so bleiben muss und weshalb es nicht einfach heißt „Autofahrer rammte Radfahrer“ oder „Raser fuhr Fußgänger über den Haufen“, darüber sprach Checkpoint-Autor Stefan Jacobs mit der Polizei. Sein Text im Tagesspiegel ist einer der meistgelesenen dieser Woche.<<

Im Artikel kommen Polizei und die Fußgängerlobby “FUSS e.V.” zu Wort. Als Problem werden die Polizeimeldungen identifiziert, als wären die verbreitenden Medien diesen machtlos ausgeliefert. Journalismus kommt nur am Rande vor, nämlich in Form der Kontrollstelle Deutscher Presserat.

Sicherlich kann man thematisieren, in welcher Form Behörden Informationen direkt verbreiten, auf Twitter, Facebook, Instagram. Medienmagazine tun dies allerdings meist sehr eigennützig aus Sorge um ihre Rolle als Informationsvermittler.  Doch das elementare Problem der “Verharmlosung”, genauer und unvoreingenommener gesagt: das Problem der Parteilichkeit entsteht nicht durch Pressemitteilungen der  Polizei, sondern durch deren unreflektierte, recherchefreie  Weiterverbreitung durch den Medien. Alle falschen Skandalisierungen der letzten Jahre entstanden durch die Kolportage von Behördenmeldungen: Wir erinnern an die Inszenierung von Hitzacker (für die sich bis heute kaum ein Medium entschuldigt hat); oder an die schön von Bastian Berbner (ZEIT) aufbereitete Medienerfindung vom Mädchen verfolgenden Mob in einem Kieler Einkaufszentrum (Podcast; ZAPP bei Youtube; Erstbericht Kieler Nachrichten, bis heute ohne Update darunter).

Hier im Blog haben wir deshalb schon vor einiger Zeit zur Diskussion gestellt, wie Journalisten mit Pressemitteilungen der Polizei umgehen sollten. Unstrittig sein dürfte: Ohne eigene Recherche ist die Weiterverbreitung von Behörden-Mitteilungen schlicht PR, nicht Journalismus. Weiterlesen

Autopsie: “Diskriminierung an Berliner Schulen verdoppelt”

„Die am weitesten verbreitete Manipulation ist nicht das Hinzuerfinden, sondern das Weglassen”, sagte Brigitte Fehrle kürzlich dem “journalist“, als eine der Erkenntnisse aus ihrer Arbeit in der Relotius-Aufklärungskommission des SPIEGEL Aus unserer langjährigen medienjournalistischen Arbeit können wir bestätigen: der vorsätzliche Fake ist das geringste Problem der  Presse. Schauen wir uns daher in unserer losen Autopsie-Serie einen eher belanglos wirkenden Beitrag von Spiegel-Online (SpOn) an:

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Recherche bei Polizeimeldungen

Gerade hat der Journalistenskandal “Hitzacker” ersten Geburtstag. Die völlig recherchefreie Übernahme einer Polizei-Pressemitteilung und deren mutige Ausschmückungen hatte zu einer bundesweiten Fehlinformation der Medienkunden geführt und teils heftige Wortreaktionen provoziert, auch aus der Politik. Dabei waren die Kernaussagen falsch, doch sie dienten zahlreichen Lobbyisten als Anknüpfungspunkt für ihre eigene PR, die wiederum dankbar und kritiklos von den Medien verbreitet wurden. (Siehe hierzu ausführlich die Dokumentation sowie den Kommentar “Journalismus im Pfingsturlaub“)
Hitzacker war aber kein Einzelfall, natürlich nicht, denn die blinde, zumindest blindgläubige Übernahme von Polizeimitteilungen ist Gang und Gäbe. Da sich viele Journalisten in Gesprächen zu ihrer “Berichterstattung” über Hitzacker oder die “Wacken-Opas” völlig verwundert zeigten, wie man denn die Wahrheit von behördlichen Pressemitteilungen anzweifeln könnte, soll hier einmal ausführlich auf die journalistische Bearbeitung von Polizei-PR eingegangen werden (als Prozess, weitere Anregungen werden gerne aufgenommen). Man mag sog. “priviligierten Quellen” eher trauen als anderen, von der Sorgfaltspflicht und konkret der Prüfung von Eigeninteressen (Polizei als Partei) entbindet das Konstrukt jedoch nie (vgl. dazu auch Schultz 2019).

Was sind “Polizeimeldungen”?

Die Polizei- oder “Blaulicht”-Meldungen sind Pressemitteilungen einer staatlichen Einrichtung, z.B. einer Polizeiinspektion, eines Polizeipräsidium oder einer Kreispolizeibehörde. Sie sind wie jede Pressemitteilung Bestandteil der Öffentlichkeitsarbeit, also PR. Entsprechend haben die Verfasser eine eigene Agenda, ein eigenes Entscheidungsmuster, welche Themen sie wie nach außen kommunizieren. Wie alle Öffentlichkeitsarbeiter hat auch die Polizei Interessen, die sie mit ihren Nachrichten und deren zunehmend aktiver Verbreitung verfolgt. Ebenso sind Eigeninteressen im Spiel, Ereignisse nicht zu thematisieren. Weiterlesen

Meinung muss auf Recherche gründen

Journalismus muss nicht neutral sein. Journalistinnen und Journalisten haben die Aufgabe, über Ereignisse, Entwicklungen und Zustände fair, sachgerecht und mit der nötigen Distanz zu berichten, aber das Berichtete auch zu interpretieren und zu kommentieren. Genau dazu wurden drei Typen von Darstellungsformen erfunden […]

Roger Blum, Ombudsmann des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in der Schweiz (SRF) und früher Professor für Medienwissenschaft in Bern, hat sich in der Aargauer Zeitung für Meinungsjournalismus ausgesprochen – und dafür in Journalistenkreisen erwartebaren Applaus bekommen.

Seine Darstellung der journalistischen Rolle ist präzise und in ihrer Kürze bestechend. Allerdings sollten seine Kernaussagen auch völlig unstrittig sein. Blum endet: Weiterlesen

Unfassbare Ahnungslosigkeit

Zur Berichterstattung über eine kleine spontane Demonstration im Wendland, die nachfolgende Polizeiarbeit und das große Versagen des Journalismus.

Eine inzwischen lange Sammlung, die unten weiterhin ergänzt wird. 
Summary als Kommentar

1. Einleitung

Die professionellen Nachrichtenmedien Deutschlands haben über das Pfingstwochenende mal wieder einen Skandal inszeniert, der mehr als lehrbuchmäßig ein journalismusfreies Publikationsbusiness zeigt. Das Verhalten der Nachrichtendistributoren erinnert an die Bahnmitarbeiter, die einige Zeit an Fahrkartenautomaten postiert wurden, um dem willigen Transportgut dessen Bedienung zu erläutern und damit den eigenen Arbeitsplatz oder den der Kollegen am Schalter abzubauen.

Das Presse-Äquivalent: Landauf landab übernehmen Redaktionen ohne jede eigene Recherche eine Pressemitteilung der Polizei, skandalisieren sie und kolportieren die von ihnen so geschaffene, bis aufs Komma völlig vorhersehbare Erregung. Das lässt sich bequem mit dem Smartphone vom Grill aus erledigen. Es lässt sich allerdings auch komplett ohne Journalisten erledigen.

Erst kürzlich echauffierte sich eine Journalisten-Gewerkschaft (die sinnigerweise und zukunftsweisende auch PR-ler vertritt), die Polizei mache mit ihren Pressemitteilungen im Internet den Job der freien Presse. Rauszuhören war schon damals, dass es nicht darum geht, selbst zu recherchieren (denn dann störten behördlich verbreitete Statements ja nicht), sondern die “Bullenmeldungen”, wie das in der stahlarbeiterkampferprobten Ausbildungsredaktion am Niederrhein  hieß, von einem nicht-öffentlichen Kanal auf einen öffentlichen zu heben. Früher wurden dazu Faxe abgetippt (und prosaisch aufgehübscht), heute geht’s mit Copy&Paste (weshalb die Damen von der Texterfassung längst zum privaten Sicherheitsdienst oder der mobilen Altenpflege gewechselt sind). Weiterlesen

FAZ: Wirtschaftsthema fett versemmelt

Einer der Gründe für den schlechten Zustand des Journalismus dürften die Großredaktionen sein. Großraumbüros und Großraumtoiletten sind einer natürlichen Ejakulationsrate abträglich. (Und den schnellen Bürosex gibts auch nur in der BILD-Phantasie, und in Wahrheit sind gerade Journalistenansammlungen absolut knisterfreie Zonen.)
Es ist zwar doof, dass wir schlechten Journalismus haben, weil die Damen und Herren zu selten kommen, aber – aber: wir müssen damit leben, und zwar stillschweigend, weshalb Sie bitte die ersten Zeilen auch gleich wieder vergessen. Denn Sex gehört – legal veranstaltet oder unterdrückt – zum “höchstpersönlichen Lebensbereich”. Mag des Nächsten Bemühen in diesem Intimbereich auch unsere Phantasie beflügeln und den Treppenhaustratsch nähren: es ist kein öffentliches Thema, und das meint konkret: keines für Medien und Politik. Weiterlesen

Ausländerkriminalität: Fragen wird man wohl noch müssen

Dass sich in den Sozialen Medien Leute reflexartig mit Juhu und Bäh profilieren wollen, mit Begeisterung und Verachtung, mit dem lukeschnell aus der Hüfte geschossenen Totalverriss tagelanger journalistischer Arbeit, gehört zur digitalen Ökologie – und die ist wertfrei. Es ist, wie es ist – der Journalismus muss sich des Phänomens nicht groß annehmen.
Wenn aber Journalisten selbst in dieser Art Journalismus infrage stellen, haben wir ein Problem. Denn wenn schon Journalisten mit einem Federstreich Journalismus aus markenstarker Quelle für Bullshit erklären, besteht wohl grundsätzlich Anlass, dieser angeblichen Info-Profession zu misstrauen.

Dass Journalisten so wie jeder Mensch ihre Meinung zu allem und jedem kund tun dürfen, ist unbestritten – wenn auch allein dies in vielen Zusammenhängen das Vertrauen in objektive Berichterstattung trüben kann. Weiterlesen

Empörung statt Recherche

Woran erkennt man die Qualität eines journalistischen Artikels? Diese Frage beschäftigt uns hier im Blog schon seit vielen Jahren, und die Suche wird weitergehen. Da sich auf die Schnelle ein Sachverhalt  vom Rezipienten meist nicht prüfen lässt (von persönlichen Spezialkenntnissen abgesehen) ist ein wichtiges Indiz die einem Beitrag zugrunde liegende Recherche – erkennbar an den genannten Quellen und ihrer Einordung. Erstaunlich oft ist da aber – wenig. Ein Beispiel:

Der Bürgermeister von Jüterbog, Arne Raue, schrieb am 3. November 2015 auf Facebook folgendes:

Infektionsgefahr-Fluechtlinge-Ausgangspost-BM

Kontakt mit Asylbewerbern und Flüchtlingen-
Warnung vor Infektionskrankheiten

Ich bin heute schriftlich durch eine Ärztin als Bürgermeister darauf hingewiesen worden, dass schon bei geringfügigem Kontakt mit Neuankömmlingen Gefahr von Infektionskrankheiten besteht. Einige Infektionskrankheiten können verstärkt auftreten:
-Windpocken
-Keuchhusten
-Poliomyelitis
-Röteln
-Mumps
-Hepatitis A
-Hepatitis B
Zusätzlich gibt es auch solche Infektionskrankheiten, gegen die es leider keine wirksame Impfung gibt und die in vielen Entwicklungsländern noch weit verbreitet sind. Hierzu zählt vor allem Tuberkulose. Sie wird durch Tröpfcheninfektion, also über die Luft, übertragen.
Ich weise die Bevölkerung von Jüterbog ausdrücklich darauf hin.
Für das städtische Personal werde ich vorsorglich (soweit für einzelne Krankheiten möglich) Impfungen anbieten.

In den Facebook-Kommentaren dazu gibt es die übliche Lagerbildung: “Hetze” werfen  die einen vor, “Verharmlosung” die anderen. Man giftet sich gegenseitig an, nur vereinzelt gibt es sachliche Beiträge. Soweit, so traurig-normal.

Doch wie greifen die Medien das Thema auf? Sie setzen wie so oft bei der Empörung an. Das geht besonders einfach, wenn sich politische Widersacher zu Wort gemeldet haben. So bringt die Märkische Allgemeine die notorische Rücktrittsforderung:

Angesichts von Stimmungsmache gegen Flüchtlinge sei Raue „unhaltbar“, so Grünen-Landeschef Clemens Rostock. Es sei ein von rechten Kräften in die Welt gesetztes Gerücht, dass Flüchtlinge die Gesundheit anderer gefährdeten.

Der kurze Beitrag des Bürgermeisters wird ohne weitere Erläuterungen als Tritt ins “Fettnäpfchen” bezeichnet, der nicht sein erster sei:

Zuletzt hatten Stadtverordnete im Mai seine Alleingänge gerügt und die Kommunalaufsicht des Kreises eingeschaltet.

Erst danach werden weitere Einschätzungen gebracht, die aber allesamt politisch sind. Eine Beschäftigung mit dem Kernthema erfolgt nicht, obwohl sie recht einfach wäre:

Gegen alle genannten Krankheiten außer Hepatitis B und Tuberkulose empfiehlt das Robert Koch Institut bzw. die Ständige Impfkommission grundsätzlich eine Impfung, und diese ist in Deutschland auch schon lange üblich, erfolgt also, wenn Eltern sie ihren Kindern nicht aktiv verwehren (weshalb immer wieder über eine Impfpflicht diskutiert wird). Schutzimpfungen gegen Hepatitis A wird nur für bestimmte Personengruppen bzw. bei bestimmten Aktivitäten (u.a. Reisen in Prävalenz-Gebiete, homosexuell aktive Männer, medizinisches Personal) angeraten.

Dass in Ländern, aus denen derzeit viele Flüchtlinge kommen, keineswegs von einer durchgängig vorhandenen Immunisierung gegen diese Krankheiten ausgegangen werden kann, ist bekannt – und ein wichtiges Thema der Gesundheitsämter. Allerdings besteht eben für Geimpfte in Deutschland keine Gefahr. Durch die Flüchtlinge hat sich also an der Situation nichts geändert: jeder darf bisher noch selbst entscheiden, ob er sich gegen bestimmte Infektionskrankheiten impfen lässt oder nicht – und die Nicht-Geimpften werden meist deshalb nicht krank, weil eben der größte Teil der Mitmenschen geimpft ist und damit eine Krankheitsausbreitung verhindert (auch dies beschreibt das Robert-Koch-Institut (RKI) an zig Stellen).

Eine Orientierungsleistung des Journalismus in dem Zusammenhang könnte also sein zu erläutern:
– dass für Personen mit Imfpschutz kein Risiko besteht
– eine Infektion immer direkten (bzw. nahen) Kontakt mit einem infektiösen Erkrankten voraussetzt (längst nicht jeder Infizierte kann auch zum Überträger einer Krankheit werden!)- dass es in Deutschland nicht-übertragbare Krankheiten gibt (Malaria etwa – bis der Klimawandel weiter vorangeschritten  ist jedenfalls)
– wie man sich vor nicht-impfbaren oder in Deutschland nicht geimpften Krankheiten schützen kann (dazu müsste man sich nur vergegenwärtigen, was Ärzte machen, die täglich mit allen möglichen Krankheiten zu tun haben und dies meist gut überstehen).

Auch die (vorsichtige) Warnung vor Tuberkulose von Bürgermeister Raue könnte man journalistisch, also recherchierend, aufarbeiten, anstatt sie aus dem Bauch heraus zur Panik- oder Stimmungsmache zu erklären. Man könnte dabei u.a. feststellen:
– dass das RKI Flüchtlinge durchaus als Risikogruppe sieht:

In Deutschland ist die aktive Fallsuche von Erkrankten eine wichtige Voraussetzung für die Reduzierung der Erkrankungshäufigkeit an Tuberkulose. Diese besteht in der Umgebungsuntersuchung von Kontaktpersonen infektiöser Tuberkulosepatienten.8 Zu den Zielgruppen für eine aktive Fallsuche gehören darüber hinaus Migranten aus Ländern mit hoher Tuberkulose-Prävalenz (wie Asylsuchende, Flüchtlinge, Aussiedler) und Personengruppen mit erhöhtem Infektionsrisiko, z.B. Obdachlose, Drogengebraucher und Gefängnisinsassen.

– dass längst nicht alle Flüchtlinge sofort bei Aufnahme in eine Sammelunterkunft (Erstaufnahmeeinrichtung, entsprechende Außenstellen oder “Überlauflager”) auf Tuberkulose untersucht werden, sondern i.d.R. nur ein medizinischer Schnellcheck erfolgt (Anamnese, also Befragung, Fibermessen etc.), eine TBC-Prüfung erst später erfolgt (was einige Zeit dauern kann, zumal wenn Flüchtlinge sich auf eigene Faust auf den weiteren Weg machen)
– dass eine “geschlossene Tuberkulose” nicht ansteckend ist
– die allermeisten Flüchtlinge, die in Deutschland ankommen, gesund sind*, was kein politisches Bekenntnis ist, sondern schlicht der Tatsache geschuldet ist, dass mit einer schweren Erkrankung die strapaziöse Reise bis hier meist gar nicht machbar wäre und die Inkubationszeit der meisten Krankheiten ggf. im Zeitverlauf der Flucht liegen müsste. (*=Diese Einschätzung stammt von einem niedergelassenen Arzt, der bei Erstuntersuchungen mitwirkt.)

Das Fazit könnte also sein: Es besteht natürlich die Gefahr einer Krankheits-Infektion für Personen, die unmittelbaren, nahen Kontakt mit infizierten Flüchtlingen haben, aber die Gefahr unterscheidet sich nicht vom Risiko bei der Begegnung mit anderen Personen (z.B. Deutschen, die im Urlaub waren), die nicht geimpft sind und sich eine Bakterien- oder Virusinfektion eingefangen haben. Es schützen die empfohlenen Grundimpfungen und die Regeln der Hygiene (u.a., – peinlich, dass man darauf in Deutschland immer noch hinweisen muss: regelmäßiges Händewaschen).

Was wäre nach einer solchen Recherche noch am Posting des Bürgermeisters von Jüterbog auszusetzen? Dass er nicht das lange Erklärstück geliefert hat, welches auch die Journalisten nicht zustande bringen? An seiner Information ist nichts falsch, sie entspricht dem, was das für maßgeblich gehaltene RKI selbst ständig schreibt; sein Angebot, für städtische Mitarbeiter Imfpungen anzubieten (was wohl meint: die Kosten zu übernehmen, die nicht regulär von den Kassen getragen werden, das betrifft regulär Hepatitis und die Schutzimpfungen gegen “Kinderkrankheiten” im Erwachsenenalter) ist konstruktiv und nach dem Stand der Dinge verantwortungsvoll, nicht Panik verbreitend. Und es bleibt die Frage, warum die Medien selbst das Thema nicht (flächendeckender) selbst aufgegriffen haben – denn wer vor Ort recherchiert, bei den Helfern etwa, der stößt geradezu unweigerlich darauf.

Die Märkische Allgemeine (MAZ) war natürlich nicht die einzige Zeitung, die aus einer Info einen Eklat gemacht hat.
Der Tagesspiegel (Berlin) etwa dichtet schon in der Überschrift: “Bürgermeister bezeichnet Flüchtlinge als ansteckend”. Der Teaser in BILD-Erregung:

Jüterbogs Bürgermeister warnt vor Kontakt zu Flüchtlingen – weil die angeblich Infektionskrankheiten übertragen. Und er hat kein Problem damit, als Rassist beschimpft zu werden. Das Sozialministerium ist entsetzt.

Daran ist – zumindest bezogen auf den hier zitierten Facebook-Eintrag (sollte es andere Publikationen geben, bitten wir um Hinweise – der Tagesspiegel verlinkt sie nicht), so viel falsch als möglich. Raue hat nicht vor Kontakt zu Flüchtlingen gewarnt! Infektionskrankheiten können (von jedem, Flüchtlinge eingeschlossen) nicht nur angeblich, sondern tatsächlich übertragen werden. Die Bezeichnung als “Rassist” sollte vor der Verbreitung geprüft und im Artikel nachvollziehbar dargelegt werden. Und ein Sozialministerium kann wohl kaum entsetzt sein (es wird auch nur ein namentlich nicht weiter identifizierter Sprecher des Ministeriums zitiert).

Alexander Fröhlich schreibt auf tagesspiegel.de:

Der parteilose Bürgermeister von Jüterbog (Teltow-Fläming), Arne Raue, macht mit der Warnung vor ansteckenden Krankheiten Stimmung gegen Flüchtlinge. In einer Mitteilung warnte er die Bürger seiner Stadt „ausdrücklich“ vor dem Kontakt mit Asylbewerbern.

“Stimmung gegen Flüchtlinge” ist eine gewagte Interpretation, die der Faktenlage nicht standhält. Und dass er “‘ausdrücklich’ vor dem Kontakt mit Asylbewerbern” warnt, ist schlicht falsch, denn das zitierte Wort “ausdrücklich” steht in einem anderen Zusammenhang (Hervorhebung von spiegelkritik.de):

Zusätzlich gibt es auch solche Infektionskrankheiten, gegen die es leider keine wirksame Impfung gibt und die in vielen Entwicklungsländern noch weit verbreitet sind. Hierzu zählt vor allem Tuberkulose. Sie wird durch Tröpfcheninfektion, also über die Luft, übertragen.
Ich weise die Bevölkerung von Jüterbog ausdrücklich darauf hin.

(Tg)

Bonusmaterial:

Wer mag, konnte sich über die Diskriminierung von Flüchtlingen und anderen Gruppen schon lange aufregen:

Nach dem „Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen“ (Infektionsschutzgesetz – IfSG) sind Bewohner von „Altenheim, Altenwohnheim, Pflegeheim“ und in einer „Gemeinschaftsunterkunft für Obdachlose, Flüchtlinge, Asylbewerber oder in eine Erstaufnahmeeinrichtung des Bundes für Spätaussiedler“ verpflichtet, „ein ärztliches Zeugnis darüber vorzulegen, dass bei ihnen keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer ansteckungsfähigen Lungentuberkulose vorhanden sind.“ Flüchtlinge und Asylsuchende über 15 Jahre müssen dazu eine in Deutschland erstellte Röntgenaufnahme ihrer Lunge vorweisen, Schwangere ausgenommen (§ 36 Absatz 4 IfSG). Die entsprechenden Untersuchungen müssen sich die Menschen gefallen lassen, das Gesetz legt dazu explizit fest: „Das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit (Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz) wird insoweit eingeschränkt.“

Ferner bestimmt das Asylgesetz (AsylG) in § 62:

„Ausländer, die in einer Aufnahmeeinrichtung oder Gemeinschaftsunterkunft zu wohnen haben, sind verpflichtet, eine ärztliche Untersuchung auf übertragbare Krankheiten einschließlich einer Röntgenaufnahme der Atmungsorgane zu dulden. Die oberste Landesgesundheitsbehörde oder die von ihr bestimmte Stelle bestimmt den Umfang der Untersuchung und den Arzt, der die Untersuchung durchführt.“

(Im Jahr 2014 gab es in Deutschland insgesamt 4.488 Tuberkulose-Fälle.)

Zur Prävention empfiehlt das Robert Koch Institut, auch bei den hier ankommenden Flüchtlingen umgehend fehlende Impfungen nachzuholen. Liegen keine Impfdokumente vor, sei davon auszugehen, dass kein Schutz besteht und daher geimpft werden müsse. (Diese Info für jene, die in den FB-Kommentaren darauf hinweisen, dass Flüchtlinge doch meist gar keine Impfpässe bei sich tragen.)

Ergänzungen:

  1. Hier noch der fast wortgleiche Text des Bürgermeisters auf www.jueterbog.de – wie im Tagesspiegel-Artikel erwähnt, steht hier noch der Zusatz “Bitte prüfen Sie Ihren Impfschutz!”
  2. Landrätin Kornelia Wehlan (Landkreis Teltwo-Fläming) hat sich am 9.11 auch geäußert und schreibt unter anderem: “Herr Raue warnte in den sozialen Medien davor, dass Asylbewerber Krankheiten einschleppen und somit eine Gefahr für die Bevölkerung darstellen würden. Das deckt sich in keiner Weise mit unseren Erfahrungen und den Einschätzungen des Gesundheitsamtes.” Dies steht jedoch nicht im Widerspruch zu dem viel diskutierten Hinweis Raues, “dass schon bei geringfügigem Kontakt mit Neuankömmlingen Gefahr von Infektionskrankheiten besteht.” Wann und wie diese Gefahr besteht, ist oben ausführlich beschrieben.
  3. Auch RBB hat berichtet.