Das nicht aseptische Interview

Eine verantwortungslose Journalistin hat die Medien-Kolumne „Altpapier“ bei der Zeitung „Nordkurier“ entdeckt. Deren Textchefin Simone Schamann hatte den Rechtsanwalt Rolf Karpenstein interviewt, Überschrift: „Könnte EU-Recht den Corona-Lockdown sprengen?“. Das ausführliche Gespräch bleibt dicht an diesem Thema, das man wohl kaum als irrelevant abtun kann. Ob Karpenstein mit seiner Rechtsauffassung richtig liegt oder komplett auf dem Holzweg ist, bleibt natürlich offen, und trotz der Länge hätte es genau dazu sicher noch ein paar relevante Fragen gegeben, u.a. was laufende und vor allem ggf. von Karpenstein vertretene Verfahren betrifft. Das „Altpapier“ weist allerdings nicht auf das Interview selbst hin (etwa mit einer Einordnung, welche juristischen Fragen schon journalistisch dokumentiert sind oder was noch zu recherchieren wäre), sondern auf einen Beitrag dazu bei „Übermedien„. Dort ist am Vortag eine Kritik von Hendrik Wieduwilt erschienen, Titel: „Corona-Recht ohne Mundschutz: Der ‚Nordkurier‘ lässt einen Anwalt querdenken“.

Der geschätzte „Altpapier“-Kollege René Martens kommentiert zu diesem Kommentar:

Falls es Zeitgenossen gibt, die nach dem elften Bier über das Geschäftsmodell Telegram-Zeitung nachgedacht haben: Das Interview im Nordkurier liefert ihnen Anschauungsmaterial.

Da ich seit März 2020 auf der Suche nach substantieller Medienkritik zur Corona-Berichterstattung bin, wundert mich wie an diesem Beispiel, WAS der Journalismusjournalismus thematisiert. Die Skandalisierung des Interviews aus dem Nordkurier (der einige Jahre zu meiner beruflichen Tageslektüre gehörte) erscheint mir beispielhaft für eine Schieflage: Es wird nicht journalistische Arbeit kritisiert, sondern die gesellschaftliche Debatte – im Gewand des Medienjournalismus.

Die folgende Anmerkung habe ich unter dem Übermedien-Artikel geschrieben. Weil das dortige WordPress die Formatierungsversuche zunichte gemacht hat, erscheint sie hier nochmal, etwas übersichtlicher.

Nachdem vorgestern das „MDR-Altpapier“ auf diesen Beitrag hingewiesen und ihn im Ton bekräftigt hat, habe ich nochmals versucht, die Medienkritik darin zu verstehen. Nicht, weil das „Altpapier“ eine höhere Instanz als „Übermedien“ wäre; aber auf der Metaebene wird es halt richtig spannend in Sachen Selbstkontrolle des Journalismus: Wie geht Medienkritik mit Medienkritik um? Und was gilt als deutschlandweit relevant?

Wieduwilt kritisiert, die Interviewerin Schamann habe Rechtsanwalt Karpenstein nicht scharf genug befragt bzw. seinen geäußerten Meinungen nicht widersprochen. Gut, das kann, wer mag, zu sehr vielen Interviews einwenden, ein großer Teil der Gespräche verläuft ja doch recht wohlwollend (was für sich genommen Qualitätserfordernissen noch nicht widerspricht, bei einer ‚Grillpflicht‚ dürften vor allem viele von den Medien für nett und hilfreich gehaltene Protagonisten Interviews ablehnen). Doch nach Wieduwilt sind die (juristischen) Aussagen Karpensteins so sehr „Wahnsinn“, dass eine Veröffentlichung des Interviews wohl besser unterblieben wäre (so verstehe ich jedenfalls seinen Vorschlag, dem Gesprächspartner zu entgegnen „Ja danke, wir schauen dann mal, ob und wann wir das bringen.“). Aber mit was hat Karpenstein die Grenzen des Sagbaren überschritten, oder mit was hat er seine Sicht der Dinge objektiv irrelevant gemacht? (Denn ansonsten sollte die Entscheidung über Zeitungsinhalte doch wohl bei den Zeitungen liegen, so von wegen Pressefreiheit und Pluralismus; und Geschmacksfragen sind keine Zuständigkeit der Medienkritik.)

Obwohl laut Wieduwilt „der juristische Anteil in Karpensteins Ausführungen […] ziemlicher Quatsch“ ist, benennt er nur eine Aussage als falsch: „Diese Normen [Unionsrecht] stehen über jedem deutschen Recht“. Einen Beleg für die Unrichtigkeit bietet Wieduwilt nicht, so dass im Zweifelsfall ohne eigene juristische Expertise eben zwei unterschiedliche Rechtsinterpretationen stehen, was nicht nur nichts Ungewöhnliches ist, sondern der ganze Motor der „Rechtspflege“ (andernfalls wäre jede Frage von jedem Juristen, einschließlich journalistisch tätiger, verbindlich zu klären). Ohne schlaumeiern zu wollen verweise ich jedenfalls mal auf eine Passage aus Rudolf Streinz „Europarecht“ (10. Auflage, 2016, S. 72):

>Ungeachtet unterschiedlicher dogmatischer Begründungen besteht in der Wissenschaft sowie in der europäischen und nationalen Rechtsprechung aller Mitgliedstaaten über die grundsätzliche Lösung des Verhältnisses von Unionsrecht und nationalem Recht Einigkeit. Dem Unionsrecht kommt vor nationalem Recht Vorrang zu. Die dafür gegebenen Begründungen unterscheiden sich allerdings nicht nur in den einzelnen Argumenten, sondern auch im Grundsätzlichen, und auch die Art des Vorrangs (Geltungs- oder Anwendungsvorrang) wird unterschiedlich gesehen.<

Was ansonsten bleibt, ist sehr viel Interpretation (garniert mit Phantasie), die offenbar schon der Wahrnehmung von Fakten im Wege steht (und nicht erst deren Kommentierung darstellt). Zum Einstieg fasst Wieduwilt wie folgt zusammen:

> Karpenstein meint: „Der Lockdown verstößt gegen EU-Recht“, was noch klingt wie ein Beitrag für ein Fachblatt. Doch dann wird es knallbunter als die „Neue Juristische Wochenschrift“ je sein könnte: Die Beschränkungen „werden von Großkonzernen und Politik genutzt, um dauerhaft Freiheitsrechte auszuhebeln“, weil es sich dann – huch Moment, ist das hier eine Telegramgruppe? – „bequemer herrschen“ lasse.<

Die Passage enthält drei Fehler. Zum einen stammen die ersten beiden Zitate nicht von Karpenstein, sondern vom Nordkurier. Und die „weil“-Verknüpfung stellt einen unzutreffenden Bezug her, der korrekte Kontext lautet:

>Damit jedoch ein Großteil der (Welt-)Bevölkerung freiwillig die Freiheitsrechte aufgibt – denn dann lässt es sich bequemer herrschen – werden Werbung und Propaganda vorgenommen.<

Dann hält Wieduwilt offenbar die Gleichsetzung von symptomlos mit gesund für falsch:

>Ach so ist das: Gesund ist, wer keine Symptome hat  – und wir machen hier so ein Tamtam mit PCR-Test diesdas!<

Hier könnte man vermutlich juristenmäßig lange Wortklauberei betreiben, im Kontext jedenfalls ist Karpensteins Aussage richtig: wer keine Symptome hat, ist nicht krank (und wer alles ’nicht gesund‘ ist, obwohl er keinerlei Beeinträchtigung hat/ spürt, dürfte eine sehr heikle, hier aber vor allem irrelevante Diskussion werden). Es ist ja nun wahrlich keine neue Kritik, dass in den Medien ständig  Ergebnisse der PCR mit Krankheit und Infektion gleichgesetzt werden. Für die Medienkritik(kritik) sind die Inhalte völlig unerheblich, es genügt festzustellen, dass es diese Kritik gibt – und dass sie von vielen Medien ignoriert oder unbegründet als faktisch falsch dargestellt wird, Wieduwilts Beitrag eingeschlossen.

Auch in der folgenden Passage wird Karpenstein falsch wiedergegeben:

>Dann führt der Anwalt aus, der Staat müsse es wirklich ernst meinen, er dürfe nicht heucheln. Und das sei ja meist nicht der Fall, wenn es um „Geld und Macht“ gehe.<

Tatsächlich aber spricht Karpenstein davon, dass es bei „Geld und Macht“ meist nicht um das „Ziel des Allgemeininteresses“ gehe, „auf welches sich die Behörde beruft“.

Zentrale Bedeutung kommt aber diese Falschdarstellung zu:

>Und eben das ist es, was Karpenstein bestreitet: wissenschaftliche Belege für eine Gesundheitsgefahr. Er hat also nicht einen findigen juristischen Kniff gefunden – er hat nur eine handelsübliche Querdenker-These herausgehauen und mit allerlei Jura-Lametta geschmückt.<

Karpenstein spricht überhaupt nicht von Wissenschaft, er bestreitet daher auch keine Belege (=Tatsachen) dieser. Vielmehr spricht er mehrfach von „Risikogruppen“ (die es ohne Gesundheitsgefahr für ihn nicht geben könnte). Er sagt stattdessen, „dass keine Gefahren außerhalb des allgemeinen Lebensrisikos bestehen“. Das darf man ein Verharmlosen finden (wobei es für eine objektive Bewertung immer noch schlicht zu früh ist), es ist aber in jedem Fall eine zulässige und für den Diskurs notwendige Meinung.

All diese fehlerhaften Darstellungen passen wohl nicht zufällig zur Kommentierung. Wieduwilt phantasiert mehrfach darüber, was die Interviewerin während des Gesprächs möglicherweise tut („rührt die interviewende Textchefin vom ‚Nordkurier‘, vermuten wir, mit vor Bewunderung geweiteten Augen in ihrem Kakao“, „lauscht, nickt, gießt die Zimmerpflanzen, lauscht weiter, abonniert ein paar Telegram-Kanäle“, „Schockstarre“). Karpenstein wird der Querdenker-Bewegung zugeordnet, obwohl er objektiv schlicht Kritik an der Corona-Politik äußert, mit Michael Wendler, mit KenFM (über eine zweistufige Kontaktschuld) und dem Begriff „Regime Merkel“ in Verbindung gebracht (obwohl er sich zu Merkel mit keinem Wort äußert). Auch die von Wieduwilt gelesenen  „EU-Ressentiments“ vom „übermächtige[n] Brüssel“ wird man im Interview vergeblich suchen; vielmehr beruft sich Karpenstein doch ständig auf EU-Recht.

Unterm Strich bleibt schlicht, dass Wieduwilt der Kritik von Karpenstein nichts abgewinnen kann. Was er als Medienkritik deklariert, strotzt vor Fraiming, Fehlern und Unsauberkeiten. Das wäre recht bedeutungslos, wenn es nicht einer der wenigen Übermedien-Beiträge zum ‚Corona-Journalismus‚ wäre, und wenn René Martens im MDR-Altpapier die Stoßrichtung nicht bekräftigt hätte:

>Das Schlagwort „Telegramgruppe“ ist hier allemal angebracht. Falls es Zeitgenossen gibt, die nach dem elften Bier über das Geschäftsmodell Telegram-Zeitung nachgedacht haben: Das Interview im Nordkurier liefert ihnen Anschauungsmaterial.<

Er ergänzt leider nichts, was bei der Freilegung substantieller Journalismuskritik helfen könnte. Was genau hat der Nordkurier jetzt falsch gemacht? Jemanden zu Wort kommen lassen, den professionelle Medienkritiker nicht zu Wort kommen lassen würden, weil sie dessen Ansichten idiotisch finden?

Aber da sich alle Meinungsbildner derzeit ganz besonders für Wissenschaft interessieren: Die Ausstoßung von normabweichenden Artgenossen wird ethologisch seit mindestens 1923 erforscht und ist von Vögeln bis Primaten gleichermaßen evolutionsstabil. Journalistische Aufklärung verfolgt allerdings m.E. die Idee, das intellektuell Steuerbare auszuloten, weil biologische Mechanismen, die über Jahrmillionen erfolgreich waren, für Größe und gegenseitige Abhängigkeit heutiger Menschenpopulationen nicht mehr taugen.

 

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