Archiv des Autors: Timo Rieg

Tatsachen und Meinungen – Ein Differenzierungsvorschlag

Für das Orientierungsangebot des Journalismus ist es essentiell, bei Aussagen zwischen Tatsachen und Meinungen zu unterscheiden. Dies betrifft die Recherche genauso wie die Darstellung/ Vermittlung. Denn während einer Tatsache keine “alternativen Fakten” gegenüberzustellen sind, verlangt das Angebot zur Einordnung stets die gesamte Bandbreite an Meinungen.

Während der deutsche Pressekodex diesen Grundsatz nicht enthält, sagt das österreichische Pendant:  “Für die Leserinnen und Leser muss klar sein, ob es sich bei einer journalistischen Darstellung um einen Tatsachenbericht oder die Wiedergabe von Fremdmeinung(en) oder um einen Kommentar handelt.” (Österreichischer Presserat 2019: § 3.1)
Die Schweizer Selbstregulation formuliert: “Die Wahrheitssuche stellt den Ausgangspunkt der Informationstätigkeit dar.” (Schweizer Presserat 2022: § 1.1) Da Meinungen keine Wahrheiten darstellen, lässt sich das Diskriminierungsgebot davon ableiten. Entsprechend für Deutschland: “Die Achtung vor der Wahrheit […] und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse.” (Deutscher Presserat 2021: § 1)

In der Praktikerliteratur wie den Grundlagenwerken zur Journalistik taucht die Trennung von Tatsachen und Meinungen oft nur als selbstverständliche Randnotiz auf (Bölz 2018: 164; Thomaß 2012: 395; Russ-Mohl 2010: 61; Ludwig 2007: 68; kritisch Weischenberg 1995: 165-168; empirische Befunde bei Schönbach 1977).

Die Bedeutsamkeit einer Unterscheidung von Tatsachen und Meinungen für die Kommunikation und damit auch für Journalismus und Journalistik kann kaum überschätzt werden, denn die enthaltenen Informationen unterscheiden sich grundlegend. In einer Vielzahl von Fällen journalistischer Qualitätsdefizite ist die mangelhafte Unterscheidung von Tatsachen und Meinungen ursächlich (Rieg 2024: 15ff). Zugleich erscheint das Bewusstsein für dieses Qualitätsdefizit nicht sehr ausgeprägt.

Deshalb wird in diesem Beitrag die Unterscheidung von Tatsachen und Meinungen im Journalismus erörtert und mit Beispielen (B*, Quelle hinter dem Literaturverzeichnis) zur Diskussion gestellt. Leitendes Kriterium ist dabei das (mögliche) Orientierungsangebot journalistischer Produkte für Rezipienten (vgl. Meier 2018: 14f).

Dabei gibt es sicherlich noch Lücken, vielleicht auch Widersprüche. Entsprechend willkommen sind Kommentare, um die hiesigen Überlegungen weiterzuentwickeln, ggf. auch zu revidieren.

Übersicht:

a) Tatsachen
b) Meinungen
c) Die Äußerung einer Meinung
d) Tatsachen und Werturteile im Recht
e) Fallbeispiele zur Trennung von Tatsachen und Meinungen
f) Wertung mit (implizitem) Wertmaßstab
g) Wertungen ohne (verbindlichen) Wertmaßstab
h) Meinungen ohne Meinende
i) Plausibilität ist Meinung
j) weitere Begriffe und Abgrenzungen
k) Abgrenzungsprobleme
l) Weitere Fallbeispiele zur Abgrenzung
m) Definitionen
n) Indizien bzw. Indikatoren
o) Schlussfolgerungen für die journalistische Praxis
p) Tatsachen-Meinungs-Unterscheidung (erster Entwurf)
A1) Literatur
A2) Belege
A3) Fußnoten
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Volksverpetzer phantasiert über die Wahrheit

Weil der Blog “Volksverpetzer” gerade etwas präsenter als gewöhnlich in den Medien ist, nachdem er selbst publik gemacht hat, vom zuständigen Finanzamt die Gemeinnützigkeit entzogen bekommen zu haben, mal ein Hinweis auf aktuelle Desinformation derer, die sich “Fakten-Jünger” und “Anti-Fake-News-Blog” nennen.

Am 9. Mai 2024 postete Volksverpetzer auf X:

>Die Schwurbler haben jetzt “enthüllt”, was alle, die sich auch an 2021 und 2022 erinnern können, mitbekommen haben. Sie erfinden einfach nur noch einen Pseudo-Skandal nach dem anderen. Übrigens war mit 1G “getestet” gemeint, Impfstatus egal. #Lauterbach<

Dem eingefügten Screenshot nach bezieht sich diese Darstellung auf einen Bericht der Berliner Zeitung (und andere offenbar “Schwurbler”) zu den Protokollen des Corona-Expertenrats der Bundesregierung. Weiterlesen

Updates zu “Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus”

Das Working-Paper “Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus – Eine kommentierte Fallsammlung” (DOI: 10.13140/RG.2.2.13364.01927) wurde am 8. Februar 2023 veröffentlicht und anschließend drei Mal aktualisiert, zuletzt am 26. Juli 2024. Weitere Updates sind nicht geplant. Hinweise auf Neuerungen zum Thema gibt es dann ggf. hier.

Eine Sammlung von medienkritischen Zitaten und Literatur zum Corona-Journalismus gib es in einem eigenen Blog-Post, der nicht mehr erweitert wird. Weiterlesen

Framing statt Berichterstattung

DJV-Blog korrigiert intransparent

Die journalistische, also kollegiale Reaktion auf einen Reformaufruf für den Öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ÖRR), “Meinungsvielfalt jetzt”  fiel vor allem kommentierend auf – und wenig berichtend. Dass ausgerechnet bei einem solchen Medienthema Journalisten selbst wieder meinen, den Diskussionston angeben zu müssen, anstatt zunächst einmal nach sachlicher Berichterstattung die Reaktionen des (also: ihres) Publikums abzuwarten, zeigt wohl schon einen wesentlichen Teil des Problems. Weiterlesen

Bauern-Protest und demokratische Kultur in der Tagesschau

Die Tagesschau präsentiert zum heutigen Beginn der “Bauernproteste” online als erste Meldung:

>Forscher, Verfassungsschützer und Politiker warnen: Extremisten unterwandern zunehmend Demos. Von den Landwirten fordern sie eine klare Abgrenzung. Wenn an Traktoren Galgen hängen, sei eine Grenze überschritten, so Minister Habeck.<

Entgegen der Ankündigung im Teaser kommen jedoch nur ein Forscher und ein Verfassungsschützer im Beitrag zu Wort. Nach welchem Kriterium die beiden ausgewählt wurden, wird nicht dargelegt. Damit ist u.a. völig unklar, ob ihre Positionen als repräsentativ für ihr Metier gelten können – was bei dem Allgemeinbegriff “Forscher” schon an sich unmöglich wäre. Eine Vielfalt an Perspektiven kann so keinesfalls aufgezeigt werden, womit das Qualitätskriterium der Vollständigkeit tangiert ist.

Denn was der zitierte Forscher Matthias Quent (Institut für demokratische Kultur, Hochschule Magdeburg-Stendal) vorträgt, sind vor allem Bewertungen, ja konkrete Handlungsempfehlungen: Weiterlesen

Personalpolitik des Bayerischen Rundfunks per Twitter

Die öffentlich-rechtlichen Sender Bayerischer Rundfunk und Arte haben am Wochenende öffentlich verkündet, mit dem Journalisten und Moderator Malcolm Ohanwe nicht mehr zusammenzuarbeiten. Anlass waren wohl Äußerungen auf X/ Twitter zu den Angriffen der Hamas auf Israel.

Beide Sender machten die Personalentscheidung zwar öffentlich, lieferten aber keine für eine Beurteilung notwendigen Fakten. Stattdessen präsentierten sie ein Dauerproblem des Journalismus: Meinungen und Tatsachenannahmen statt Fakten.

So schrieb Arte am Samstagabend auf Twitter/X: Weiterlesen

Die SZ-Berichterstattung über das “Auschwitz-Pamphlet” ist mindestens handwerklich defizitär

>Der bayerische Wirtschaftsminister und stellvertretende Ministerpräsident Hubert Aiwanger steht im Verdacht, als Schüler ein antisemitisches Flugblatt verfasst und im Burkhart-Gymnasium in Mallersdorf-Pfaffenberg ausgelegt zu haben.<

Mit diesem Satz eröffnete die Süddeutsche Zeitung am vergangenen Freitag eine vermeintliche Top-Story, die sofort von Medien im ganzen Land aufgegriffen wurde.

Doch die Berichterstattung der SZ hat schwerwiegende Qualitätsmängel, von denen ich vier skizzieren möchte.

Der erste Schwachpunkt ist, dass die SZ die Relevanz ihres Themas nicht nachvollziehbar begründet hat. Von heute aus betrachtet scheint sie klar: schließlich berichten alle intensiv, die Emotionen kochen hoch. Doch das wäre unlauter. Zu prüfen ist, ob wir es mit einer Orientierung bietenden Aufklärung zu tun haben oder mit einer Skandalisierung, die von Eigeninteressen der Medien und möglicherweise auch von einigen der in ihr vorkommenden Protagonisten getrieben wird. Weiterlesen

Medienkritik zur Berichterstattung über Aiwangers Flugblatt aus Jugendtagen

Das Skandalthema dieses Wochenendes lautet, der bayerische Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) habe als Schüler ein antisemitisches bzw. rechtsextremistisches Flugblatt verfasst. Dies hatte die Süddeutsche Zeitung anonyme Zeugen behaupten lassen und in ihrer Print-Ausgabe (26.08.2023) auch das Corpus Delicti präsentiert. In kurzen Zeitabständen folgten öffentliche Anschuldigungen, Dementis und weitere “Enthüllungen” – die erwartbare Empörungswelle war losgetreten. Auch ungeachtet der weiteren Entwicklung hat die SZ-Berichterstattung zahlreiche handwerklich Mängel. Eine Medienkritik mit nachfolgender Materialsammlung. Eine kürzere Zusammenfassung wesentlicher Kritikpunkte gibt es in einem eigenen Beitrag hier im Blog. 

Flugblatt aus SZ vom 26.08.2023 Seite 3

Flugblatt aus SZ vom 26.08.2023 Seite 3

Sechs Wochen vor der bayerischen Landtagswahl präsentierte die Süddeutsche Zeitung (SZ) am Freitag online und am Samstag  ausführlicher in Print auf Seite 3 eine Verdachtsberichterstattung über den Vize-Ministerpräsidenten und Vorsitzenden der Freien Wähler Hubert Aiwanger. Dieser stehe im Verdacht, “als 17-Jähriger” “ein antisemitisches Flugblatt verfasst und im Burkhart-Gymnasium in Mallersdorf-Pfaffenberg ausgelegt zu haben”. Der Artikel wirft zahlreiche Qualitätsfragen auf, die von grundlegender Bedeutung für zahlreiche journalistische Darstellungen sind.

Aus dem “Schriftstück mit dem rechtsextremistischen Inhalt, das im Schuljahr 1987/88 in der Schule auftauchte”, zitiert die SZ online nur Bruchstücke. Was andere Medien – wie zu erwarten – nicht davon abhält, die Geschichte nur auf dieser Basis nachzuerzählen. t-online etwa hat, obwohl mit einem Redakteurs-Kürzel versehen, nichts weiter beizusteuern und folgt sogar dem Aufbau des Originals und bleibt auch in der Wortwahl so nah dran, dass Plagiatsjäger ihre Freude hätten.

Doch was spricht nun aus Sicht der Medienkritik gegen den SZ-Online-Artikel? Vor allem eine Minderleistung bei den Qualitätskriterien Relevanz, Maßstabsgerechtigkeit, Vollständigkeit, Einordnung, Richtigkeit und Transparenz. Weiterlesen