Einäugige Medienkritik

Aus den vielen, vielen Ungleichbehandlungen im Corona-Journalismus (siehe  laufende Serie bei Telepolis) hier ein Beispiel: Die Süddeutsche Zeitung schneidet eine statistische Darstellung so, dass der echte Maßstab nicht mehr optisch zu erkennen  ist, sondern abgelesen und ‘vor dem geistigen Auge’ angepasst werden muss, Twitter-Post:

Soweit, so normal-desorientierend. Wir warten jetzt aber darauf, dass die professionelle Medienkritik dies ebenso anprangert wie in Fällen, da ihr das Ergebnis der Manipulation mutmaßlich weniger gefällt, wie etwa BILD-Blog.


Solche Grafik-Ausschnitte gehören übrigens zum Kleinen Einmaleins “So lügt man mit Statistik” (Walter Krämer, ab Seite 29).

In den meisten textlichen Darstellungen werden vom Corona-Journalismus natürlich ebensolche Ausschnitte gewählt, nur halt sprachlich statt bildlich, der Maßstab ist meist gar nicht angegeben.

Auch zum Text in der SZ kann man einiges anmerken, in aller Kürze soll es nur als Fragen gedacht sein, als Hinweise, in welche Richtungen noch zu recherchieren wäre oder zu interpretieren erlaubt ist. Dazu zwei Vorbemerkungen:

A) Natürlich verursacht die Corona-Pandemie Tote, das ist unbestritten. Nicht unbestritten (zumindest völlig unbewiesen) ist allerdings die Annahme, dass es sich dabei um etwas handelt, was die Politik verlässlich steuern könne, nach vieler Diskutanten Meinung offenbar zu 100%, sprich: mit der richtigen Politik gäbe es keine Toten.

B) Da die Corona-Toten sehr akribisch von den Ämtern gezählt werden, ist die Frage, wie ergebnisoffen die Analyse der Gesamtsterbezahlen durchgeführt wird. Soll sie zwingend verborgene, unerkannte Corona-Tote zeigen? Oder kann sie auch auf tödliche Nebenwirkungen der Pandemiebekämpfung hinweisen?

1. Im Text heißt es zum Erfolg der deutschen Politik:

>Dennoch hat Deutschland die Pandemie vergleichsweise gut eingehegt, vor allem in der ersten Welle: So gab es in Belgien übers Jahr 17 Prozent mehr Todesfälle, in England und Wales 15 Prozent.<

Abgesehen davon, dass die Vergleichsländer willkürlich sind, unterstellt diese Interpretation, dass die Politik das Infektionsgeschehen ganz überwiegend steuern kann, sie schließt andere Gründe aus (Wohnverhältnisse, Grundgesundheit, Gesundheitssystem etc.). Für solche Beurteilungen dürfte es schlicht noch zu früh sein, zumal die Begrenzung auf die “erste Welle” wieder willkürlich ist (wenn die Politik dort steuern konnte, müsste sie auch danach steuern können; dass der Erfolg trotz deutlich strikterer Maßnahmen geringer ausfällt, spricht nicht zwingend für die Wirkmächtigkeit der Politik).

2. Die in Prozent angegebenen Übersterblichkeiten einzelner Regionen berücksichtigen nicht die Altersstruktur, es fehlt die Altersadjustierung.
Oder allgemeiner: es fehlt eine Begründung, warum Covid-19 so regionenspezifisch sein soll.

3. Im Text heißt es zur Dunkelziffer:

> In Sachsen und Brandenburg liegt die Übersterblichkeit zum Jahresende sogar weit über der Zahl der vom RKI gemeldeten Covid-Toten vor Ort. Das deutet auf eine hohe Dunkelziffer hin – vermutlich sind also viele Menschen unerkannterweise an einer Corona-Infektion verstorben.<

Solche Kausalschlüsse lassen außer Acht, dass Menschen auch an den Folgen der Pandemiebekämpfung bzw. ihres entsprechenden Verhaltens sterben, wozu es natürlich keine Zählung gibt und was statistisch erst mit Abstand ermittelt werden kann. (Wie allerdings auch gesundheitlich positive Nebenwirkungen des Lockdowns geprüft werden müssen.)

4. Im Text heißt es:

> Zehn Jahre hätte jeder Covid-Tote vermutlich noch zu leben gehabt.<

Diese Behauptung geistert seit Monaten durch die Medien, ohne dass deutlich gemacht wird, dass diese Aussage allenfalls hoch-spekulativ ist. Sie unterstellt aufgrund von durchschnittlichen Lebenserwartungen in einem bestimmten Alter, dass Menschen ohne die Corona-Infektion eben noch zehn oder zwanzig Jahre lang gelebt hätten. Sie hält es nicht für möglich, dass es kein Zufall ist, wer eine Infektion gut übersteht und wer nicht, dass es also Unterschiede in der Fitness gibt, die sich bei jeder Konfrontation mit dem Immunsystem bemerkbar machen werden.
Auch hier kann allenfalls in einigen Jahren eine Interpretation der Daten erfolgen, denn dann muss es zu “Untersterblichkeiten” kommen, die sich am Ende auf diesen errechneten Lebenszeitverlust addieren.

5. Zu Nebenwirkungen heißt es im Text:

>Die These, wonach viele Todesfälle nicht auf das Virus, sondern auf die Folgen des Lockdowns zurückgehen, halten Statistiker für wenig plausibel: “Wenn es eine Folge der Maßnahmen wäre, dürfte der Effekt nicht nur dort auftreten, wo die Covid-Inzidenz besonders hoch ist”, sagt zur Nieden.<

Zum einen greift auch dies zu kurz. Die Kritik lautet eher: “nicht trotz sondern wegen der Maßnahmen gestorben”. Und das umfasst u.a. auch die Behandlung in Krankenhäusern (Beatmung) oder die Isolation von Alten (die durchaus “an Corona” gestorben sein können, deren Krankheitsverlauf aber bei anderer Umsorgung auch hätte anders sein können). Das ist alles hoch spekulativ, in die eine wie die andere Richtung.

Zum anderen: Bei den gesundheitlichen Nebenwirkungen im eigenen Land (ohne globale Hungerprobleme etc.) ist erst über die nächsten Jahre bis ggf. sogar Jahrzehnte mit tödlichen Auswirkungen zu rechnen (die natürlich nie mehr verlässlich auf die Pandemiebekämpfung zurückzuführen sind). Ökonomen haben etwa schon die verlorenen Lebensjahre der heutigen Jugend errechnet, die sie mit entgangener Bildung begründen. Das ist jedenfalls ein sehr großes Feld, das man nicht mit der Befragung eines Statistikers abstecken kann.

6. Zum Grippe-Vergleich heißt es:

Demnach kostete das Coronavirus 2020 in Deutschland mehr als doppelt so viele Lebensjahre wie die Grippe im langjährigen Mittel,[…]<<

Es ist allerdings unsinnig, die Letalität einer neuen Virusgruppe mit einer schon lange etablierten (und stets etwas mutierenden) zu vergleichen. Auch wenn es die heutige Neugier nicht befriedigt: Corona braucht erstmal Zeit, um auch ein “langjähriges Mittel” hergeben zu können, mit dem man dann vergleichen kann. Um es zugespitzt zu sagen: wer im einen Jahr an der Grippe gestorben ist, kann eben nächstes Jahr nicht mehr daran sterben. Wer sie aber gut überstanden hat, übersteht vielleicht auch die nächste noch.

Fazit: Bei aller Sachlichkeit interpretiert auch dieser Text nur in eine Richtung.

Ein Gedanke zu „Einäugige Medienkritik

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