Autopsie: Lauterbach fürchtet Winterwelle – und rügt Länder für »populistische« Lockerungen

Der folgende Beitrag von Marc Röhlig, Spiegel-Online kann stellvertretend für tausende solcher Artikel es Corona-Journalismus stehen. Wir stellen in erster Linie Fragen zur Argumentation. Dass sich der Beitrag auf Äußerungen des Bundesgesundheitsministers im Bayerischen Rundfunk stützt, steht dem nicht im Wege. Denn den BR-Beitrag gibt es ja bereits, journalistisch neu kann daher gerade nur die Beantwortung von relevanten Fragen sein. Zudem gibt es wieder Unrichtigkeiten (mindestens drei).

Artikel “ Lauterbach fürchtet Winterwelle…“ [Link] Anmerkungen zur Argumentatioin
Coronamaßnahmen

Lauterbach fürchtet Winterwelle – und rügt Länder für »populistische« Lockerungen

 

[Überschrift]

Viele Journalisten mögen Schuljargon, doch die damit behauptete Hierarchie ist oft falsch. Hier: Lauterbach hat an den Ländern gar  nichts zu rügen, weil es schlicht nicht seinen Kompetenzbereich betrifft. Er äußert sich dazu als Politiker und hat eine andere Meinung, mehr nicht. Auch wenn in den Medien der Föderalismus oft nur als „Problem: Flickenteppich“ erscheint – er ist ein Teil der Gewaltenteilung, der im übrigens im Grundgesetz unter der Ewigkeitsklausel steht.

Noch gilt vielerorts die Isolationspflicht und die Maskenpflicht im Nahverkehr, einige Bundesländer basteln jedoch am Aus der Maßnahmen. Falsch: die Maskenpflicht im Nahverkehr gilt derzeit noch in allen Bundesländern, nicht nur „vielerorts“.
Gesundheitsminister Lauterbach fürchtet eine Lockerungsspirale mitten im Winter. Falsch: Der Begriff „Lockerungsspirale“ stammt nicht von Lauterbach, es wäre korrekt, hier einen seiner Ausdrücke zu verwenden (z.B. „Überbietungswettbewerb“ oder „Lockerungsweltmeister“, siehe vier Abschnitte tiefer).
Die Corona-Infektionszahlen sinken, allerdings werden viele Infektionen nicht mehr erfasst. Falsch: Noch nie wurden alle Infektionen erfasst, was außer mit Totalüberwachung auch völlig unmöglich wäre. Das ist vom ersten Tag der Pandemie an bekannt, immer wieder wurde deshalb über die „Dunkelziffer“ spekuliert (und z.T. geforscht). Der Beitrag behauptet eine Änderung, die es nicht gab (oder die uns bisher unbekannt ist, so dass sie erläutert und belegt werden müsste, s.u.).
Nun rechnet Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) für den Winter fest mit einer Coronawelle – und kritisierte entsprechend voreilige Lockerungsmaßnahmen einiger Bundesländer. (Falsch.) Im Interview sagt Lauterbach: “ Ich glaube, dass wir nochmal eine Winterwelle bekommen werden, das könnte die BQ 1.1 Variante zum Beispiel sein.“ Glauben ist wohl etwas anderes als rechnen, was schon daran deutlich wird, dass er die Ursache einer Winterwelle offen lässt. Wenn er jedenfalls nur an eine Winterwelle glaubt ist jeder Glaube, es werde keine geben, gleichwertig.
Später sagt Lauterbach: „Wir sind jetzt vor einem möglicherweise schweren Winter…“
»Jetzt gibt es hier einen Überbietungswettbewerb: Welches Land kann zuerst lockern?«, sagte Lauterbach am Morgen im Bayerischen Rundfunk. Das sei »ein Stück weit populistisch«. Zudem gefährde es diejenigen, die sich selbst nicht gut schützen könnten. Das Argument des Fremdschutzes wird bis ans Ende aller  Tage im Raum stehen bleiben. Es müsste daher längst geklärt sein, wie weit es eine Verpflichtung der Allgemeinheit gibt, zum (nur potentiellen) Nutzen Dritter Einschränkungen akzeptieren zu müssen. Es fehlt also die sonst so gerne geforderte Einordnung durch den Journalismus.
Er verstehe die Eile der Bundesländer bei den Lockerungen nicht, sagte er mit Blick auf Pläne von Bayern und Schleswig-Holstein, in wenigen Wochen die Maskenpflicht im öffentlichen Nahverkehr abzuschaffen. Dass jemand etwas nicht versteht, sagt erstmal etwas über denjenigen aus. Ob es objektiv nicht zu verstehen ist, ob also viele oder gar alle am Verstehen scheitern, wäre zu recherchieren.
Einer solchen »leichtsinnigen« Entscheidung werde man sich nicht anschließen, betonte Lauterbach man = er? Oder „die Bundesregierung“? (Am Ende sagt Lauterbach allgemein, seine Position sei die des Kabinetts und auch des Bundeskanzlers.) Für das in dieser Frage zuständige Parlament jedenfalls ist Lauterbach nur als eine von 736 Stimmen sprechen, sein Anteil liegt also im Promille-Bereich.
und verwies auf rund tausend Menschen, die pro Woche mit dem Coronavirus sterben und eine unerwartet hohe Übersterblichkeit im Oktober. Auch hier müsste nachgefragt werden, welchen Zusammenhang es geben soll. Wenn es derzeit zu viele Coronatote gibt, spricht dies ggf. gerade nicht für den Erfolg der Maßnahmen, die Lauterbach für notwendig hält. Die Übersterblichkeit besteht schon deutlich länger, die Ursache gilt bisher als ungeklärt, jedenfalls kann auch sie gerade nicht den Sinn etwa der Maskenpflicht im öffentlichen Personenverkehr begründen. Im Interview sagte Lauterbach: „Im Moment haben wir eine relativ deutliche Übersterblichkeit, das heißt es ist zum jetzigen Zeitpunkt zu früh zum Entwarnen.“ Und er erwähnt mehrfach Long-Covid als Grund für die „Maßnahmen“. Auch Long-Covid wird es wie Covid-19 wohl ewig geben.
Der Minister will im Fernverkehr mindestens bis zum Auslaufen des Infektionsschutzgesetzes am 7. April an der Maskenpflicht festhalten. Wie stets wäre nach den konkreten Kriterien zu fragen, die für Änderungen in die eine wie die andere Richtung erfüllt sein müssen. „Mal schauen“ reicht nicht.
Im Interview sagt Lauterbach: „Nicht jeder kann sich jetzt durch eine Impfung perfekt schützen, da muss einfach nochmal Rücksicht aufeinander genommen werden.“ Nochmal? Warum dann irgendwann nicht mehr? Das Problem wird doch bestehen bleiben (und bestand immer).
Eine entspanntere Coronasituation stellte Lauterbach für das Frühjahr in Aussicht – vorausgesetzt, dass die Winterwelle gut gemeistert werde, Impflücken geschlossen und schwere Coronafälle erfolgreich mit Medikamenten behandelt würden. Was hat die Frühjahrssituation mit Erkrankungen und Behandlungen im Winter zu tun? Und was versteht Lauterbach unter „Impflücken“? Wenn er die Differenz zu 100% meinen sollte, wird es immer Impflücken geben, selbst mit Pflicht (solange keine Zwangsimpfung durchgeführt wird). Das müsste dargelegt werden.
»Wir müssen zu mehr Normalität kommen, aber das muss gut vorbereitet sein«, betonte der Bundesgesundheitsminister.

 

Welche Vorbereitungen braucht es dazu? Zumal Lauterbach direkt zu Beginn des Interviews sagt, „wir haben gute Vorberatungen [gemeint ist wohl: Vorbereitungen] getroffen“.
Das Robert Koch-Institut (RKI) gab die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz am Donnerstagmorgen mit 186,9 an. Am Vortag hatte der Wert der Corona-Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner und Woche bei 177,9 gelegen (Vorwoche: 199,2; Vormonat: 584). Allerdings liefern diese Angaben nur ein sehr unvollständiges Bild der Infektionszahlen. Unvollständiges Bild: s.o. Was ist daher mit den anderen Parametern, die doch schon lange anstelle der Inzidenz relevant sein sollen?
Expertinnen und Experten gehen seit einiger Zeit von einer hohen Zahl nicht vom RKI erfasster Fälle aus – vor allem, weil bei Weitem nicht alle Infizierten einen PCR-Test machen lassen. Nur positive PCR-Tests zählen in der Statistik. Welche Experten und seit wann? s.o.
Warum kommt dieses Null-Argument vom Journalisten? Es ist kein Lauterbach-Zitat, es ist vielmehr das von der dpa vorgelegte Framing.

Fazit: Es wäre ein deutlich besserer Service gewesen, das BR-Interview einfach zu verlinken, anstatt es selbst irgendwie zusammenzufassen. Eine journalistische Leistung wäre gewesen, die vielen offenen Fragen zu klären, die Lauterbachs Aussagen beim interessierten Publikum verursachen müssen.

Rundblick:
Das BR-Interview wurde natürlich flächendeckend als Meldung verbreitet. Relevanz? Lauterbach sagt in dem Gespräch nichts Neues und bleibt bei den Schlagworten/ Phrasen wie oben gezeigt inhaltsarm. Die journalistischen Leistungen sind bei allen bisher gesichteten Beiträgen bescheiden. Nochmal: Beim Bayerischen Rundfunk stehen online sowohl das komplette Interview als auch nachrichtliche Textfassungen verschiedener Länge.
# Besonders gruselig mutet die Videoversion beim RND an – denn es gibt kein Filmmaterial zu dem Radiogespräch. Also werden recht wahllose irgendwelche Lauterbach- und Sarg-Schnipsel aneinandergereiht und ein fürchterlich automatenhaft klingender Off-Ton draufgelegt. Journalismus so richtig grotesk veralbern: so geht das.
# Dass man den Framing-Absatz von dpa auch streichen kann, wenn schon ein Redakteurskürzel am Text steht, zeigt die ZEIT. Rechercheleistung fällt allerdings auch dort nich auf.
# Die Welt verknüpft das Lauterbach-Interview mit einem Drosten-Interview in der Zeit. Die Behauptung, Experten gingen erst „seit einiger Zeit von einer hohen Zahl nicht vom RKI erfasster Fälle“ aus.

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