Die SZ-Berichterstattung über das “Auschwitz-Pamphlet” ist mindestens handwerklich defizitär

>Der bayerische Wirtschaftsminister und stellvertretende Ministerpräsident Hubert Aiwanger steht im Verdacht, als Schüler ein antisemitisches Flugblatt verfasst und im Burkhart-Gymnasium in Mallersdorf-Pfaffenberg ausgelegt zu haben.<

Mit diesem Satz eröffnete die Süddeutsche Zeitung am vergangenen Freitag eine vermeintliche Top-Story, die sofort von Medien im ganzen Land aufgegriffen wurde.

Doch die Berichterstattung der SZ hat schwerwiegende Qualitätsmängel, von denen ich vier skizzieren möchte.

Der erste Schwachpunkt ist, dass die SZ die Relevanz ihres Themas nicht nachvollziehbar begründet hat. Von heute aus betrachtet scheint sie klar: schließlich berichten alle intensiv, die Emotionen kochen hoch. Doch das wäre unlauter. Zu prüfen ist, ob wir es mit einer Orientierung bietenden Aufklärung zu tun haben oder mit einer Skandalisierung, die von Eigeninteressen der Medien und möglicherweise auch von einigen der in ihr vorkommenden Protagonisten getrieben wird.

Antisemitismus eines Spitzenpolitikers ist zweifellos relevant. Aber Antisemitismus eines Jugendlichen vor 35 Jahren?
Ja, sagt die Süddeutsche seitdem in vielerlei Variationen, allerdings ohne ihren Maßstab dafür zu nennen. Was das zentrale Problem der Geschichte ist. Denn ohne Maßstab ist jede Enthüllung willkürlich. Stattdessen ist Gleiches gleich zu behandeln, will man nicht parteilich sein oder gar aktivistisch. Es muss zum Beispiel klar sein, ab welchem Lebensalter Verfehlungen nicht mehr unter sogenannte “Jugendsünden” fallen. Das Handeln eines 16-jährigen gehört für die SZ nicht dazu. Wo liegt dann die Grenze? Bei 14? Bei der Einschulung? Ab Sprachfähigkeit? Es ist der alles entscheidende Punkt in der Geschichte, aber er wird einfach übergangen.

Der zweite Schwachpunkt ist die schlecht gespielte Ergebnisoffenheit. Die SZ bemühte sich zwar, alle unbewiesenen Tatsachenbehauptungen nur anonyme Zeugen vortragen zu lassen. Doch dass Hubert Aiwanger sich nicht um Kopf und Kragen gebracht haben könnte, ist nicht vorgesehen. Die lange Geschichte vom Samstag endet mit den Worten:

>Wenn das alles stimmt, kann man sich kaum mehr vorstellen, dass er in einer Gedenkstunde sitzen könnte für Auschwitz oder Dachau […].<

Aber was, wenn das eben nicht alles stimmt? Wie darf, soll, muss es dann mit Aiwanger weitergehen? Und wie mit der Süddeutschen Zeitung? Darüber verliert das Blatt kein Wort. Ebenso wenig dazu, wie Aiwanger sich verhalten müsste, damit ihm Absolution zu teil werden könnte.

Stattdessen, dritter Schwachpunkt, hatte sich die Redaktion wohl von vornherein auf einen Berichterstattungsmarathon eingestellt. Häppchenweise brachte sie in überwiegend redundanten Beiträgen stets ein bisschen was Neues. Am zweiten Tag etwa zog sie ein Schriftgutachten aus der Tasche, für welches das Flugblatt mit der Abiturs-Facharbeit von Hubert Aiwanger verglichen wurde. Ein anderer Artikel verrät endlich, wie es zur Story kam: Ein Lehrer von damals hatte sich an die SZ gewandt. Eine solche Salamitaktik ist nicht nur ein unschöner Umgang mit den Kunden, sie spricht für ein Kalkül, die Kuh möglichst lange zu melken. Aber das ist Netflix-Journalismus.

Es war klar, dass der SZ vorgeworfen würde, sie greife mit der Hebung des uralten Flugblatts in die Politik ein – schließlich wird in fünfeinhalb Wochen in Bayern gewählt. Solche Reaktionen gibt es immer, aber das Blatt hat sie – vierter Schwachpunkt – durch maximale Intransparenz selbst befeuert. Kein einziger Zeuge wird namentlich benannt. Doch was sollte den Aufklärern drohen? Auch die politischen Kommentatoren bleiben fast alle im Dunkeln, werden höchstens Parteien zugeordnet. Wer hat hier welche Interessen? Wer spricht mit geschlossenem Visier anders als mit offenem? Wann genau wurden die Flugblätter verteilt oder gefunden? Wie groß war das Thema seinerzeit? Die SZ behält es für sich. Oder weiß sie es gar nicht?

Die Artikel der Süddeutschen wären wohl nicht der Rede wert, wären nicht alle Nachrichtenmedien darauf angesprungen. Landauf landab wurde ab Freitagabend nacherzählt, was die SZ häppchenweise präsentierte. Und natürlich gab es sofort einen übervollen Meinungsmarktplatz, auf dem Statements, Forderungen, Empörung und Analysen en masse gehandelt wurden. Die Relevanz, die die SZ für ihre Story nicht begründet hatte, war nun gegeben. Jetzt gab es ein aktuelles Ereignis, nämlich den Enthüllungsbericht und jede Menge Reaktionen darauf. Und in Nullkommanichts hatte ein jeder seine Meinung dazu und damit seine ganz persönliche Wirklichkeit.

In der echten Wirklichkeit sah es hingegen am Samstagabend ganz anders aus als in der SZ 24 Stunden zuvor. Hubert Aiwangers Bruder Helmut bekannte sich als Autor des Flugblatts. Was die weitere SZ-Berichterstattung zwar mit deutlichen Fragezeichen versieht, damit aber unterstreicht, dass sie diese Möglichkeit gar nicht auf dem Zettel hatte. Nun haben sie und alle anderen Medien dennoch viele Fragen an den bayerischen Wirtschaftsminister. Und viel Material für Spekulationen aller Art.

Sind wir Leser nun schlauer? Oder sieht sich ein jeder von uns nur bestätigt in dem, was man eh dachte?

Die Faktengrundlage der SZ war dünn, juristisch womöglich zu dünn. Aiwanger hatte rechtliche Schritte angekündigt.

Für den Medienhype um das Aiwanger-Flugblatt ist die SZ nicht verantwortlich. Aber für die Initialzündung, die nicht nur zu politischen Veränderungen in Bayern führen wird. Sie wirft die Fragen auf: Was kommt als nächstes? Wer oder was wird ausgegraben? Und können wir Mediennutzer uns darauf verlassen, dass bei allen mit demselben Maßstab gemessen wird, dass klar ist, was zur Story wird und was Redaktionen zwar wissen, aber aus gutem und nachvollziehbarem Grunde nicht verbreiten?

Siehe hierzu auch die umfangreiche Materialsammlung

 

Ein Gedanke zu „Die SZ-Berichterstattung über das “Auschwitz-Pamphlet” ist mindestens handwerklich defizitär

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