Rechtfertigung der SZ verdeutlicht Qualitätsdefizite ihrer Berichterstattung

Die Süddeutsche Zeitung veröffentlicht heute ein FAQ zu ihrer Aiwanger-Berichterstattung. Ergänzend zur umfangreichen Materialsammlung hier eine Autopsie des Textes.

 

Wie die SZ in Sachen Flugblatt vorgegangen ist
[Link zum Artikel]31. August 2023, 12:10 Uhr
[Überschrift]
Gegen Wirtschaftsminister Aiwanger stehen schwere Vorwürfe im Raum. Warum berichtet die „Süddeutsche Zeitung“ darüber? Wie hat sie recherchiert? Und warum wird dies alles vor der Landtagswahl öffentlich? Antworten auf die wichtigsten Leser-Fragen. [Teaser]
Die FAQ beginnen mit einer Wertung des Ergebnisses.
Die Süddeutsche Zeitung hat in der vergangenen Woche öffentlich gemacht, dass Bayerns stellvertretender Ministerpräsident Hubert Aiwanger (Freie Wähler) in seiner Schulzeit wegen eines rechtsextremistischen Flugblatts bestraft worden war. Bei dem aufgetragenen Referat handelt es sich um eine „Erziehungsmaßnahme“, heute nach Art. 86 Bayerisches Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen, damals Art. 63 BayEUG (und § 128 GSO).

Ein Strafrecht steht einer Schule gar nicht zu, und von den möglichen „Ordnungsmaßnahmen“ wurde nach bisherigem Informationsstand keine ergriffen.

Dieser Unterschied ist in vielerlei Hinsicht elementar, weil es z.B. gar keine „Strafarbeiten“ geben kann (was jeder halbwegs engagierte Schülerzeitungsredakteur auch 1987/88 wusste und bei Bedarf thematisierte).

Seitdem werden immer mehr Vorfälle bekannt, die auf eine damals rechte Gesinnung des heutigen Wirtschaftsministers hinweisen. Die SZ-Redaktion erreichen viele Fragen zu diesem Fall, auf die wir Antworten geben wollen. Wenn erst jetzt „immer mehr“ relevante (?) „Vorfälle bekannt“ werden, spricht das entweder für eine lückenhafte Recherche der SZ – oder für die Annahme, dass sich bei jedem etwas findet, wenn man nur hinreichend sucht (und sich durch öffentliche Aufmerksamkeit Menschen motiviert sehen, etwas zu äußern – in diesem Fall aus der zwangsläufig vagen Erinnerung von vor 35 Jahren).
Wieso wurde die Recherche jetzt veröffentlicht?

Der Zeitpunkt unserer Veröffentlichung hat nichts mit der bevorstehenden Landtagswahl zu tun. Die SZ publiziert die Ergebnisse von Recherchen immer dann, wenn sie öffentlich relevant sind und wenn die Geschehnisse so weit recherchiert sind, dass die SZ sie guten Gewissens veröffentlichen kann. Ganz egal, ob das vor oder nach einer Wahl oder sonst irgendwann der Fall ist. Die Recherche zum Flugblatt hat die SZ Anfang August begonnen, als der entsprechende Hinweis einging. Vorher wusste die Redaktion nichts von dem Flugblatt.

Wenn der Zeitpunkt einer Veröffentlichung für die SZ völlig egal ist, könnte man den Eindruck bekommen, dass sie keinerlei Abwägung von Nutzen und Schaden trifft. Das Stichwort hierfür hieße aber Verantwortungsethik.

Vielleicht äußern sich irgendwann noch Kollegen, die für andere Medien zum selben Fall recherchiert haben, warum sie (noch) nicht mit der Story rausgegangen waren?

Wieso findet die SZ, dass es relevant ist, einen Vorfall aus Aiwangers Schulzeit zu thematisieren?

Hubert Aiwanger ist Wirtschaftsminister und stellvertretender bayerischer Ministerpräsident. Er hat ein öffentliches Amt, gestaltet die Politik in Bayern maßgeblich mit und repräsentiert das Land. Außerdem geht es nicht um eine lässliche Jugendsünde.

Es ist eine der vielen Stellen in der Berichterstattung, denen die Angabe eines Maßstabs fehlt. Denn die SZ stellt es nicht als die individuelle Wertung ihrer Rechercheure dar, dass es sich „nicht um eine lässliche Jugendsünde“ handele, sie behandelt dies als Tatsache. Wie unter dem Stichwort „Maßstabsgerechtigkeit“  und in der SpKr-Materialsammlung unter Punkt 3 skizziert, hat die SZ in anderen Fällen anders geurteilt. Da sich die Öffentlichkeit bisher keineswegs einig ist, dass hier keine Jugendsünde vorliegt, muss für die Orientierung des Publikums der verwendete Maßstab deutlich benannt werden, anhand dessen auch die übrige SZ-Berichterstattung und -Nicht-Berichterstattung nachvollzogen werden kann (siehe dazu Abschluss des Radio-Beitrags „Eine Medienberichterstattung, die Fragen aufwirft„).
Zentral ist die Frage nach dem Maßstab auch, weil zunächst die Autorenschaft Aiwangers als belegt angesehen wurde und damit das Niveau einer „Jugendsünde“ als überschritten galt. Inzwischen genügt dafür aber der Besitz.
Das Pamphlet ist methodisch menschenverachtend in Anlehnung an zynischsten Nazi-Jargon und verhöhnt die Opfer der NS-Konzentrations- und -Vernichtungslager in übelster Weise. Auch diese Tatsachenbehauptung wurde in der Berichterstattung nicht belegt, insbesondere nicht im Ausgangstext, mit dessen Veröffentlichung ein Skandal zwingend zu erwarten war.
Auch Heribert Prantl hatte sich in einem Radio-Statement so geäußert, ohne Belege für seine Tatsachenbehauptung zu präsentieren. Die Ansicht einzelner Journalisten ist aber eine Meinung, keine Tatsachenfeststellung.
Eine solche Angelegenheit lässt möglicherweise Rückschlüsse zu auf die Gesinnung und demokratische Einstellung jener, die es verfasst oder verteilt haben.

 

Muss das nicht vor der Veröffentlichung geprüft werden? Wie groß oder klein muss die „Möglichkeit“ sein, damit eine Veröffentlichung gerechtfertigt ist, die ohne jeden Zweifel Aiwanger den Rest seines Lebens begleiten wird (und auch sonst zahlreiche Folgen hat)? Und auch hier: wie wird das gemessen?

Da hier ein einziger belegter Vorfall genügen soll, lebenslang auf die „demokratische Einstellung“ von Menschen zu schließen, muss wegen der Forderung nach Maßstabsgerechtigkeit sicher sein, dass Aiwanger mit Flugblattbesitz und angeblichen Hitler-Imitationen (die selbst heute etwa im Unterhaltungs-TV recht gegenwärtig sind) ein absoluter Ausnahmefall war.

Hat sich die SZ bspw. bemüht zu recherchieren (natürlich ebenfalls unter der Zusage der Anonymität), wie gegenwärtig oder geläufig ‚Judenwitze‘ oder ‚KZ-Sprüche‘ in der Gesellschaft Ende der 1980er Jahre waren?

Wer hat das Flugblatt an die SZ gegeben?

Die Redaktion ist vor wenigen Wochen auf das Flugblatt aufmerksam gemacht worden. Wir hatten vielfach und persönlich Kontakt mit einem Informanten, der uns namentlich bekannt ist und absolut glaubwürdig erscheint.

 

Nachdem u.a. der Focus ausführlich über die Bemühungen eines ehemaligen Lehrers berichtet hat, „dass wir diese braune Socke jetzt stürzen“, ist hier dringend mehr Transparenz notwendig.
Wieso nennt die SZ die Quellen nicht namentlich?

Das hängt mit dem Informantenschutz zusammen. Die SZ hat mit vielen Personen gesprochen, die Konsequenzen fürchten, entweder dienstrechtlicher oder gesellschaftlicher Art, sollte ihr Name bekannt werden.

Weiterhin benennt die SZ nicht, welche „Konsequenzen“ drohen sollten – außer eine öffentliche Verhandlung der Vorwürfe.
Könnte es sein, dass der Hauptinformant das Flugblatt gar nicht herausgeben durfte, wie Udo Vetter meint?
In solchen Fällen dürfen Journalisten die Identität dieser Menschen verschweigen und wichtige Dinge dennoch an die Öffentlichkeit bringen. Natürlich nur, wenn die SZ davon überzeugt ist, dass die Informationen richtig sind und wenn uns diese Zeugenaussagen in verlässlicher Form vorliegen. Der Informantenschutz leitet sich aus Artikel 5 des Grundgesetzes ab und ist eine wichtige Grundlage der Pressefreiheit. Informantenschutz kann auch bei Angabe weiterer  Informationen, die für die „Glaubhaftmachung“ notwendig sind, gewahrt werden. Spätestens vor Gericht ist dies unerlässlich. In einem Verfahren zum Erlass einer einstweiligen Verfügung etwa wären eidesstattliche Versicherungen tragfähig (wenn aus ihnen hervorgeht, dass sie zur Vorlage bei Gericht gedacht sind), die ab diesem Moment allerdings der Klägerseite bekannt werden und die Anonymität der Zeugen aufheben. Kommt es zu einem Verfahren in der Hauptsache, wird i.d.R. auch die Öffentlichkeit davon erfahren müssen (hier genügen eidesstattliche Versicherungen nämlich nicht mehr).
Zwar ist der (zeitweise) Ausschluss der Öffentlichkeit möglich, weil diese dem Grundsatz der öffentlichen Verhandlung jedoch widerspricht kann dies stets nur die Ausnahme sein, die für ein rechtsstaatliches Verfahren und den Meinungsbildungsprozess in einer Demokratie gut und nachvollziehbar begründet sein muss.
Auf welche Quellen beruft sich die SZ in der Aiwanger-Recherche?

Die Basis unserer Arbeit sind Fakten. Dazu müssen wir profund recherchieren und nach Wahrheit in der Berichterstattung streben. Dazu gehört auch Fairness gegenüber den Personen, denen ein Fehlverhalten vorgeworfen wird. Sie müssen rechtzeitig vor einer Veröffentlichung mit diesen Vorwürfen konfrontiert werden und die Gelegenheit bekommen, dazu Stellung nehmen zu können. Redakteure der SZ haben für die Recherche mit mehr als zwei Dutzend Menschen gesprochen, mit ehemaligen Lehrern, Mitschülern und anderen Personen. Wir haben Dokumente vorliegen und in Archiven recherchiert. Zudem haben wir ein Gutachten in Auftrag gegeben.

Von den „mehr als zwei Dutzend Menschen“ macht die SZ aber nur Statements von wenigen publik und diese nur in sehr kurzen Ausschnitten. Im ersten großen Text „Das Auschwitz-Pamphlet“ fragte die SZ: „Kann es sein, dass ein halbes Dutzend Leute das alles nur erzählt, um Aiwanger zu schaden?“

Natürlich kann das sein. Aber viel wichtiger ist: Was sagen die anderen etwa 18 Befragten? Warum taugen die nicht als Zeugen? Die SZ hat kein einziges entlastendes Statement gebracht (etwa ‚kann mich nicht erinnern‘ oder ‚war damals kein großes Thema‘).

Was wurde zur Urheberschaft des Flugblatts geprüft?

Da sind zunächst die Aussagen, wonach Hubert Aiwanger als Urheber des Flugblattes vom Disziplinarausschuss der Schule bestraft worden sein soll, weil in seinem Schulranzen eines oder mehrere Exemplare des Pamphlets entdeckt worden sein sollen, was er inzwischen beides eingeräumt hat. Diese Vorgänge bestätigten mehrere Zeugen übereinstimmend.

Die Beweisführung in der SZ lautete: „Ein Lehrer, der damals dem Disziplinarausschuss angehörte, sagte der SZ, dieser [der Ausschuss] habe ‚Aiwanger als überführt betrachtet, da in seiner Schultasche Kopien des Flugblatts entdeckt worden waren‘. Ein anderer sagte, Aiwanger habe seine Urheberschaft nicht bestritten.“ Die SZ selbst nennt das an dieser  Stelle nur: „Ein schwerer Verdacht […]“

Ein Verdacht ist aber kein Faktum. Das Nicht-Bestreiten einer Tat ist kein Geständnis (man frage den Strafverteidiger seiner Wahl).

Auch hat die SZ ein Gutachten beauftragt, in dem festgestellt wurde, dass das Flugblatt wie auch eine Facharbeit von Hubert Aiwanger aus dem Jahr 1990 „sehr wahrscheinlich“ auf derselben Schreibmaschine geschrieben wurden. Wer alles auf diese Schreibmaschine Zugriff hatte oder haben konnte, wird im entsprechenden, nachgereichten SZ-Text (Stichwort: Salami-Taktik) nicht einmal offen gefragt.
Inzwischen hat sich Helmut Aiwanger, der ältere Bruder, als Verfasser des Flugblattes bekannt. Warum Hubert Aiwanger sich demnach damals zu Unrecht vom Disziplinarausschuss bestrafen ließ und nicht gleich protestiert hatte, dazu gibt es von ihm bislang lediglich die Aussage, dass es nicht seine Art sei, jemanden zu verpfeifen. Welche weiteren Gründe verlangt die SZ als den, nicht gegen ein Familienmitglied aussagen zu wollen? (Siehe hierzu Udo Vetters Lawblog)
Wie hat die SZ Aiwanger dazu Stellung nehmen lassen?

Die SZ hat Hubert Aiwanger mehrmals mit dem Vorgang und detaillierten Fragen konfrontiert – zum ersten Mal am 17. August und insgesamt drei Mal vor der Veröffentlichung und auch noch mehrmals danach. Das heißt: Die Redaktion hat Aiwanger nicht nur mitgeteilt, dass sie in der Angelegenheit recherchiert, sondern sie hat ihm auch gesagt, was sie erfahren hat beziehungsweise was ihm vorgeworfen wird. Und sie hat ihn gebeten, dazu Stellung zu nehmen.

Die Fragen der SZ wurden nur in Auszügen benannt. Dabei kann sich erst aus dem gesamten Fragenkatalog ergeben, wie jemand darauf reagieren kann oder sollte oder muss.
Aiwanger hatte mehrmals die Gelegenheit, sich umfassend zu äußern. Das tat er jedoch lange nicht, stattdessen ließ er einen seiner Pressesprecher die Vorwürfe pauschal zurückweisen und mit juristischen Konsequenzen drohen. Die Ankündigung, juristische Mittel zu ergreifen, kann in einem Rechtsstaat niemals eine Drohung sein. Auch hier macht die SZ wieder ihre Meinung (Interpretation/ Wertung) zu einer Tatsachenbehauptung.
Seine Reaktion hat zusätzlich Zweifel aufgeworfen, ob ihm als bayerischem Wirtschaftsminister und stellvertretendem Ministerpräsidenten zu vertrauen ist. Denn wie er inzwischen einräumen musste, gab es die Sanktion seiner Schule gegen ihn, und es gab sie dafür, dass ihm die Urheberschaft und Verbreitung jenes Pamphlets vorgeworfen wurde. Dass er damals nicht bestritten habe, der Urheber zu sein, berichtet er auch. Konfrontiert mit den Zeugenaussagen hatte Hubert Aiwanger der SZ aber nicht etwa erklärt, dass die Geschichte so nicht stimme und er nicht der Urheber sei – er ließ zunächst pauschal dementieren. Welche Zweifel daran, ihm „zu vertrauen“ gab es zuvor, ohne den Flugblatt-Vorwurf und dessen Bestreiten? Hier gerät die Argumentation durcheinander.

Und wieder die Frage nach einem Maßstab: Ab wann, bei welcher Vorwurfdichte muss sich jemand zu allem oder einzelnem äußern? (Provokativ gefragt: Genügt es, in einen solchen Fragenkatalog den Vorhalt des Geburtsdatums aufzunehmen, damit ein „pauschales dementieren“ nicht mehr möglich ist?)
Es geht hier, das muss vielleicht nochmal in Erinnerung gerufen werden, nicht um den Minister Hubert Aiwanger, sondern den Schüler vor 35 Jahren.

Das stärkt seine Glaubwürdigkeit nicht und erhöht die öffentliche Relevanz der Berichterstattung.. Nach dieser Logik ist die Relevanz in jedem Fall gegeben, ob sich der Befragte äußert oder nicht.
Das gilt auch für den Fall, dass es zutreffen sollte, dass sein Bruder der Verfasser des Pamphlets war In diesem Fall wäre der zentrale Vorwurf der SZ schlicht falsch gewesen – für die Relevanz soll das keine Rolle spielen?
Wieso sind die meisten Artikel nicht frei zugänglich und hinter einer Bezahlschranke?

Investigative Recherchen haben eine wichtige Wächterfunktion in einer lebendigen Demokratie. Zugleich sind sie sehr aufwendig. Damit die Presse ihrer Aufgabe nachkommen kann, kann journalistische Arbeit nicht kostenlos sein. Es wäre zudem ungerecht, wenn all diejenigen, die verlässlichen Qualitätsjournalismus durch ihre Abonnements ermöglichen und finanzieren, erleben müssten, dass andere denselben Zugang kostenlos erhalten. Guter Journalismus fällt nicht einfach so vom Himmel, er ist auch etwas wert.

Dem ist zuzustimmen. Allerdings verschweigt die SZ, bei ihrer ersten Veröffentlichung am Freitagabend mindestens juristisch einen Fehler gemacht zu haben, indem sie zwar ihren Vorwurf, nicht aber Aiwangers Dementi vor die Bezahlschranke setzte (siehe Punkt 2.3 in der Materialsammlung).

 

 

Ein Gedanke zu „Rechtfertigung der SZ verdeutlicht Qualitätsdefizite ihrer Berichterstattung

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