“Fall Gil Ofarim” ist mal wieder ein “Fall Skandalisierungsjournalismus”

BILD, 6. Oktober 2021, Seite 3, mit Tatsachenbehauptung im Titel

Nach einem Geständnis hat das Landgericht Leipzig das Strafverfahren gegen Gil Ofarim vorläufig eingestellt. Der Sänger hatte vor zwei Jahren einen Hotelmitarbeiter öffentlich via Instagram beschuldigt, ihn antisemitisch diskriminiert zu haben. Nun räumte er ein, damals die Unwahrheit gesagt zu haben, wie es ihm die Staatsanwaltschaft vorgeworfen hatte. Die Lügengeschichte des Sängers Gil Ofarim war keine Bagatelle, doch zu einem Skandal wurde sie nur durch das Interesse von Journalisten an eben einem solchen. Siehe ausführlich: Gil Ofarims Geständnis führt den Vorverurteilungs-Journalismus vor

Weitere Medienresonanz, leicht kommentiert:

Alan Posener schreibt in der Welt: “Die Gesetze der Aufmerksamkeitsökonomie bringen es mit sich, dass Promis (und B- und C-Promis) als mögliche Täter und Opfer – egal bei welchen Delikten – interessanter sind als Sie und ich.” Diese “Aufmerksamkeitsökonomie” ist allerdings so wenig zwangsläufig wie etwa die Energiepreiserhöhungen in Deutschland mit Russlands Krieg gegen die Ukraine. Es sind schon die einzelnen Journalisten, die mit dieser Aufmerksamkeitsökonomie ihre Brötchen verdienen wollen.

Paul Linke kommentiert in der Berliner Zeitung: “Empathie ist kein französischer Stürmerstar, sondern eine im besten Falle absichtslose Nähe, die guttut, hilft, wenn viele auf Distanz gehen. […] Gewonnen haben auch alle, die etwas für die Zukunft lernen können. Dass man nämlich der Versuchung widerstehen sollte, Indizien als Beweise zu gewichten.”

Göran Schattauer kommentiert im Focus: Mit einer vorsätzlichen Lüge, die er am 4. Oktober 2021 per Instagram-Video in die Welt setzte und mehr als zwei Jahre ohne rot zu werden aufrechterhielt, hat er immensen Schaden angerichtet. […] Er gab sich als Opfer aus – war aber Täter! […] Der Lügner hat sich entschuldigt. Aber wo bleiben die Entschuldigungen all jener, die sich vor zwei Jahren mit dem Lügner vorbehaltlos solidarisiert hatten?”
Schaun wir mal, zum Beispiel bei der Süddeutschen Zeitung. [1]

Hendrik Zörner, Pressesprecher des Deutschen Journalisten-Verbands (DJV), resümiert: “Hätten wir Journalisten die Finger von dem Thema lassen sollen? Eindeutig nicht. Aber wir hätten deutlicher darauf hinweisen müssen, dass es sich vom ersten Augenblick an um unbewiesene Vorwürfe des Musikers handelte, die vom Hotel abgestritten wurden. Und der spekulative Teil der Berichterstattung nach dem Motto: “Kann es sein, dass…” wäre besser unterblieben.
Wir sollten daraus lernen. Die nächste Verdachtsberichterstattung kann nicht lange auf sich warten lassen.”

Zum Hintergrund

Das kurze Video, das die (mediale) Empörungswelle ausgelöst hatte, wurde von Gil Ofarim nicht erst nach seinem Geständnis, sondern laut seiner Aussage im Gericht bereits kurz zuvor gelöscht. Es findet sich aber noch in zahlreichen Artikeln.

Über den Deal zwischen Anklage, Angeklagtem, Nebenkläger und Gericht berichtet LTO. Zwei Stunden haben die Parteien hinter verschlossenen Türen miteinander verhandelt, bevor es zum öffentlichen Geständnis kam. “Nach WELT-Informationen bearbeiteten die Verteidiger Ofarims ihren Klienten tagelang, um ihn zum Geständnis und damit zum sozialen Offenbarungseid zu bringen.”

Eine Chronologie des Falls gibt es beim MDR. Dort ist auch eine kleine Sammlung mit Widerrufen früherer Vorverurteilungen erschienen. Journalisten, wie wohl im Teaser auch als vorschnell Urteilende benannt, finden sich darunter nicht.

Strafrechts-Professor Holm Putzke kritisiert den Beschluss des Landgerichts im Cicero. Und die Ausführungen von Ofarims Verteidiger Alexander Stevens, es gelte auch nach Geständnis und Entschuldigung die Unschuldsvermutung. Ferner kritisiert Putzke, dass mit Einstellung des Verfahrens die Kosten bei der Allgemeinheit liegen und nicht bei dem, der durch eine mutmaßliche Falschbeschuldigung den ganzen Aufwand verursacht hat.

Ergänzungen

[1]  In der SZ stand am 2. April 2022 auf Seite 4 im Rahmen eines Kommentars (“Fakten?” von Antonie Rietzschel) ein Satz, der durchaus als Selbstkritik gelesen werden kann:

“Das Ganze ist ein Lehrstück über eine von sozialen Medien getriebenen Gesellschaft, in der schnelle Positionierung verlangt, Vorsicht dagegen als Verharmlosung auslegt wird. Auch die SZ nahm Wertungen vor, die sie heute so nicht mehr treffen würde.”

Gleichwohl wäre eine dezidiertere Auseinandersetzung mit der eigenen Voreingenommenheit und falschen Präsentation von Mutmaßungen als Fakten im Sinne von Transparenz und Vollständigkeit angezeigt. Der dazu angefragte Verlagssprecher hat bisher noch nicht geantwortet.

5 Gedanken zu „“Fall Gil Ofarim” ist mal wieder ein “Fall Skandalisierungsjournalismus”

  1. Lena Dietz

    Fair ist das nicht. Gil Ofarim verursacht durch Falschaussage hohe Prozesskosten, die nun durch die Einstellung des Verfahrens von der Allgemeinheit zu tragen sind. Der beschuldigte Hotelmitarbeiter ist – trotz Geständnis von Gil Ofarim, gelogen zu haben – nicht reingewaschen – da durch Einstellung des Verfahrens, die Unschuldsvermutung für Gil gilt. Das Leben ist ungerecht oder die Justiz ‘will den Fall los sein’.

  2. SpKr

    Die Sache mit der “Unschuldsvermutung” hat vor allem Ofarims Verteidiger Alexander Stevens verbreitet. Er schrieb (wohl auch in einer PM, die uns nicht vorliegt), u.a.:

    „Da im Falle einer Verfahrenseinstellung eine gerichtliche Schuldfeststellung gerade nicht getroffen wird, darf aus einer Einstellung keine Schuldfeststellung abgeleitet werden und wäre ein eklatanter Verstoß gegen die Unschuldsvermutung. Darüber hinaus darf man – ganz unabhängig von @gilofarim – nicht vergessen, dass 1. aufgrund einer durch die Verfahrenseinstellung schnellen Verfahrensbeendigung, 2. dem hierdurch fehlenden Strafmakel oder 3. weil man sich weitere Auslagen für die Verteidigung ersparen will, ein gewichtiger Anreiz für ein prozesstaktisches Geständnis liegen kann. Gerade die Angst vor einer ungerechtfertigten Verurteilung kann maßgebliches Motiv für die Unterwerfung einer Verfahrenseinstellung nach §§ 153, 153a StPO sein.“

    Quelle (ein lesenswerter Kommentar von Holm Putzke auf Cicero): https://www.cicero.de/kultur/verleumdungsprozess-gegen-gil-ofarim-auf-kosten-der-gerechtigkeit

    Dazu hat sich der Jurist und SZ-Redakteur Ronen Steinke wie folgt geäußert:

    “Erstens ist das seltsam, denn so etwas zu betonen, steht ziemlich konträr zu der Botschaft eines Geständnisses, wie es Ofarim gerade abgelegt hat. Und zweitens: Es stimmt auch juristisch gar nicht. Ofarims Verfahren ist wegen geringer Schuld, wie es in Paragraf 153a der Strafprozessordnung heißt, gegen Geldleistung eingestellt worden. Geringe Schuld ist etwas anderes als Unschuld.”

    https://www.sueddeutsche.de/leben/gil-ofarim-prozess-gestaendnis-antisemitismus-anwaelte-taktik-1.6311498

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