Bauern-Protest und demokratische Kultur in der Tagesschau

Die Tagesschau präsentiert zum heutigen Beginn der “Bauernproteste” online als erste Meldung:

>Forscher, Verfassungsschützer und Politiker warnen: Extremisten unterwandern zunehmend Demos. Von den Landwirten fordern sie eine klare Abgrenzung. Wenn an Traktoren Galgen hängen, sei eine Grenze überschritten, so Minister Habeck.<

Entgegen der Ankündigung im Teaser kommen jedoch nur ein Forscher und ein Verfassungsschützer im Beitrag zu Wort. Nach welchem Kriterium die beiden ausgewählt wurden, wird nicht dargelegt. Damit ist u.a. völig unklar, ob ihre Positionen als repräsentativ für ihr Metier gelten können – was bei dem Allgemeinbegriff “Forscher” schon an sich unmöglich wäre. Eine Vielfalt an Perspektiven kann so keinesfalls aufgezeigt werden, womit das Qualitätskriterium der Vollständigkeit tangiert ist.

Denn was der zitierte Forscher Matthias Quent (Institut für demokratische Kultur, Hochschule Magdeburg-Stendal) vorträgt, sind vor allem Bewertungen, ja konkrete Handlungsempfehlungen:

>Das bestätigte auch der Extremismusforscher Quent. Nationalistische, rechtsextremistische und verschwörungsideologische Akteure versuchten, die Bewegung politisch zu instrumentalisieren, sagte Quent im Deutschlandfunk. Ihnen gehe es nicht um Agrardiesel, sie “wollen Deutschland lahmlegen”. An die Bauern richtete er den Appell, sich nicht nur verbal abzugrenzen. Man könne gegen die Ampel-Regierung demonstrieren und gleichzeitig ein Zeichen gegen rechts setzen – beispielsweise durch Schriftzüge wie “Nazis raus” oder Regenbogensymbole auf Plakaten.<

Mal ganz von der Frage abgesehen, ob sich ein Wissenschaftler nicht für Feldforschung disqualifiziert, wenn er genau diesem Feld vorgibt, wie es sich zu verhalten hat, damit eine irgendwie geartete Bewertung seiner wie auch immer erhobenen (Beobachtungs-)daten in einer bestimmten Weise ausfallen werden, kann es sich hierbei unmöglich um einen wissenschaftlichen Konsens handeln. Das hätte sich spätestens gezeigt, wenn die Tagesschau nachgefragt hätte, wie denn Quents Forderung umzusetzen sei, damit die Forschung reliabel und valide zum Befund gelangt, ‘die Bauern’ hätten sich hinreichend “gegen rechts” abgegrenzt. Muss jedes Fahrzeug eine “Nazis raus”-Flagge zeigen oder genügt ein bestimmtes Quorum?

Und wie sieht es im Falle der Befolgung von Quents Forderung mit einer Vereinnahmung etwa der Antifa-, Queer-, Friedens- oder Umweltbewegung durch das völlig andere Anliegen der Landwirte aus, wenn sie mit Regenbogenfahnen protestieren? Gibt es dann dort auch Distanzierungsgebote? Und ist gesichert, dass “Schriftzüge wie ‘Nazis raus’ oder Regenbogensymbole auf Plakaten” insbesondere in der öffentlichen Wahrnehmung hinreichend präzise bestimmt sind, dass sich darunter keine unbotmäßigen Positionen verstecken können?

Warum werden dazu nicht weitere Sozialwissenschaftler befragt? Warum können sich nicht wenigstens Bauernvertreter zu der konkreten Forderung äußern, die ja nun quasi als ungeeichte und bisher sogar undefinierte Messlatte im Raum steht? (Das einzige Statement eines Bauern-Lobbyisten ist einem anderen Gespräch entnommen, ohne jeden Bezug zu Quent, der sich auch nicht gegenüber der Tagesschau, sondern dem Deutschlandfunk geäußert hatte).

Und um noch kurz auf die Maßstabsgerechtigkeit zu verweisen: Selbst wenn man einer optischen Abgrenzungspflicht zustimmen möchte und einen geeigneten Modus Operandi findet – werden dann alle Veranstaltungen mit heterogener Teilnehmerschaft danach bewertet? Wie grenzen sich etwa an jedem Wochenende die demokratisch legitimen Fußballfans im Stadion und während der An- und Abreise von den extremen Hooligans ab? Wie viel Risiko muss ein Musikfan beim Besuch eines Konzerts in Kauf nehmen, für seine Distanzierungsschriftzüge auf Kutte oder Shirt eine aufs Maul zu bekommen?

Wenn sich Journalismus nicht dem Vorwurf des Framings ausgesetzt sehen will, dann darf er so nicht arbeiten. Der Orientierung ist damit jedenfalls nicht gedient.

PS: Da es eine dpa-Meldung zu Quents Äußerungen im Deutschlandfunk gibt, finden sich zahlreiche Bericht ähnlich dem der Tagesschau, ohne ergänzende Recherche. Z.B. Rheinische Post, Süddeutsche Zeitung (Direktübernahme von dpa ausgewiesen), RND

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