Die Berichterstattung ist nicht besser geworden. Das Narrativ von der letzten Großdemo in Berlin gegen die Corona-Politik von Bund und Ländern wurde beibehalten, wie schon die Vorberichte zeigten: Es kommen da „Coronaleugner“ zusammen, die latent rechtsradikal sind, sich zumindest davon nicht abgrenzen, sie werden keinen Abstand halten und so zu einem „Superspreader-Event“. Ein paar passende Bilder werden sich zu dieser Erzählung jederzeit finden, und fertig ist das Erregungskontinuum. Reporter berichten gefärbt, wie sie die Welt sehen, und in einer Art Stille-Post-Spiel landen diese Selektionen, vielfach nachbearbeitet, in den Kommentaren der Regionalzeitungen, die man allesamt auch schon Wochen vorher hätte schreiben können, so erkenntnisbringend sind sie. (Uwe Westdörp von der Neuen Osnabrücker Zeitung etwa begründet die notwendige Entrüstung, „weil etwas ins Rutschen gerät, wenn so viele Demonstranten eine gefährliche Einstellung offenbaren: Sie verachten das frei gewählte Parlament.„)
1. Bei der Kundgebung am Großen Stern gab es keine berichtenswerten Probleme. Die Veranstaltung lief einfach. Das wäre die Hauptnachricht gewesen: mehrere zehntausend Menschen versammeln sich friedlich, um ihren Unmut über die Politik zu äußern. Absolut nichts besonderes, aber angesichts dessen, dass die Medien Kritik am Corona-Kurs der Regierungen nur außerhalb des diskutablen Bevölkerungsspektrums sehen, doch mal eine Meldung wert.
2. Bei den Aufzügen zu dieser Kundgebung hin ist die Polizei eine Taktik gefahren, die in den Qualitätsmedien mit keinem Wort zur Sprache kommt. Man muss sie nicht kommentieren, aber man muss sie wenigstens mal nüchtern beschreiben. Der intellektuelle Twitter-Mob sah schließlich nur wie von ihm erwartet: überall wird der Abstand nicht eingehalten, also hatte man die Demo tatsächlich verbieten müssen. Die Wirklichkeit in Berlin war aber etwas anders.
3. Es gab in Berlin eine Vielzahl von Veranstaltungen, darunter angemeldete und unangemeldete. Nirgends in der Berichterstattung wird das sauber getrennt. Demo und Kundgebung werden zurecht mit der Stuttgarter Gruppe „Querdenken 711“ in Verbindung gebracht. Das Theater vor der Russischen Botschaft wie auch die Fahnen auf den Stufen zum Bundestag waren aber eben keine Veranstaltungen von Querdenken.
4. Während im stets medienkritischen Medienmagazin des Bayerischen Rundfunks ARD-Korrespondentin Lena Bodewein sich selbst dafür lobt, in der Berichterstattung über den Prozess gegen Brenton Tarrant, den Attentäter von Christchurch, dessen Namen seit Monaten nicht genannt zu haben, um ihm keine Bühne zu geben (und damit den Sinn von Gerichtsberichterstattung sehr eigentümlich auslegt), breiten die Medien ein paar geschäftsfördernden Demonstranten selbstverständlich die ganz große Bühne und verkünden nun schon den dritten Tag in Folge: „Sturm auf den Reichstag„.
Wie üblich möchte man die Kollegen aller Dotierungen bitten, das Geschehen doch mal in eine kurze Meldung zu packen, ganz nach alter Schule, und wie seit Relotius doch wohl auch beim letzten Kreisblatt üblich mit Quellen für jede einzelne Behauptung. Es dürfte vermutlich für einen kurzen Informationsblock reichen, der Art: „Etwa 300 Demonstranten einer separaten Kundgebung auf der Wiese vor dem Reichstagsgebäude überschritten die Absperrung und versammelten sich auf den Treppenstufen zum Parlament, dessen Eingang von drei Polizisten gesichert wurde. Einige Demonstranten schwenkten in rechtsextremen Kreisen gebräuchliche Fahnen. Der Anmelder der Querdenken-Veranstaltung am Großen Stern, Michael Ballweg, distanzierte sich von dieser Aktion.“
Stattdessen geben die Medien dieser Störaktion das größte Gewicht, schreiben sie „den Corona-Demonstranten“ zu und schaffen sich damit wie üblich selbst die Grundlage für weiter Nachrichten, nämlich die erwartbare Reaktion von Politikern, Lobbyisten und anderen, die auf den Zug aufspringen wollen. Dabei war schon das Etikett „Sturm auf den Reichstag“ eine völlige Desinformation, die jedem Redakteur im berlinfernen Stübchen hätte auffallen müssen: eine Stürmung, die von drei Polizisten aufgehalten wird, ohne Waffengewalt? Eine Stürmung, zu der mit den Worten aufgerufen wurde:
>Wir werden gleich diese komischen kleinen Dinger brav niederlegen und gehen da hoch und setzen uns friedlich auf die Treppe und zeigen Präsident Trump, dass wir den Weltfrieden wollen und dass wir die Schnauze gestrichen voll haben. Wir haben gewonnen.<
Dass Menschen vor ihrem Parlamentsgebäude demonstrieren, ist nun wahrlich nichts ungewöhnliches, unsere Auslandsnachrichten berichten regelmäßig darüber. (Dass der amerikanische Präsident Donald Trump Demonstranten vor seinem Amtssitz vertreiben ließ, war allen deutschen Medien eine Nachricht wert.) Für eine tiefergehende Analyse mit dem möglichen Ergebnis, darin Bedeutsameres zu sehen, haben sich die Medien wie üblich keine Zeit gelassen. Dabei ist es natürlich elementar wichtig zu wissen, wer da unterwegs war, mit welchem Ziel – und ob dieses Ziel nicht allein die erreichte Medienöffentlichkeit war.
Wie sehr diese professionelle Erregung über alles Schlagzeilentaugliche im Journalismus als Geschäftsmodell verankert ist, zeigt sehr schön Gabor Steingart in seinem Morningbriefing (31.08.2020). Obwohl Steingart permanent gegen die Erregungskultur wettert und konkret auch für die Berliner Demo bzw. Kundgebung wohlwollende Worte findet, steigt er mit der maximalen Erregung ein:
>“die zunächst friedlichen Corona-Proteste sind im Schlussakkord doch noch entgleist. Wir haben Bilder gesehen, die wir nie wieder sehen wollten. […] Der versuchte Sturm auf das Reichstagsgebäude und die Tatsache, dass vor dem Heiligtum des deutschen Parlamentarismus die schwarz-weiß-rote Fahne des deutschen Kaiserreichs geschwenkt wurde, muss jeden Demokraten verstören. Der Rechtsstaat wirkte wie weggetaucht.“<
Rein faktisch war die Aktion vor dem Reichstagsgebäude maximal eine Randnotiz. Weil daran alles erwartbar war, weil es im Ergebnis bedeutungslos war (hätten die Medien nicht für den „Sturm der Entrüstung“ gesorgt), weil es völlig unrepräsentativ für das Gesamtgeschehen an diesem Tag war, weil es gerade nicht die Notwendigkeit für irgendetwas zeigt, weil es schlicht nicht der Orientierung über die gesellschaftlichen Zustände dient, sondern wiedermal für große Verzerrung.
Die Kommunikationswissenschaft müsste weniger über die „Konstruktion von Wirklichkeit“ philosophieren, wenn sich der Journalismus bemühen würde, bei seiner „Reduktion von Komplexität“ nicht ständig einer eigenen (kommerziellen) Agenda zu folgen, sondern das zu sehen, was in einem Experiment auch die Mehrheit (oder Summe) aller Probanden sehen würde.
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