Nenne mir deine Quelle

Der „Fall Relotius“ führt, wie es erwartbar war,  zu öffentlichen Grundlagendiskussionen. Das ist schön. Ein Problem, über das Spiegelkritik schon oft geschrieben hat, wird bei diesen Gesprächen selbst deutlich: die mangelnde Fähigkeit oder Bereitschaft von Journalisten, Fakten und Fiktionen zu trennen.

Das Problem ist normalerweise nicht die falsche Hausnummer in einem Artikel, und es ist sicherlich auch nicht die erfundene Zahl von Treppenstufen in irgendeiner Reportage. Das Problem ist, sauber zu sortieren, was eine beschreibbare Wirklichkeit ist und was die Interpretation dieser oder sogar eigener Imaginationen. Es geht um Recherche.

Beispiel 1: die meisten

In einer Auseinandersetzung um die Notwendigkeit kommentierender Einordnungen von Nachrichten schreibt der „Korrespondent von SPIEGEL ONLINE und DER SPIEGEL in Wien, Österreich“ Hasnain Kazim auf Twitter: „[…] die Wahrheit ist, dass die meisten eben nicht selbst denken, sondern irgendwelchen Bullshit im Netz aufgreifen.“

Solche Zuspitzungen sind in Diskussionen selbstverständlich in Ordnung, aber zumindest wenn nach den Fakten gefragt wird, sollte man liefern können – oder eben zurückrudern: „Mir kommt es so vor, als ob…“ wäre ja in Ordnung, aber nicht „die Wahrheit ist…“. (Siehe auch ergänzend auf Twitter Gesprächspartner Schlüter; im selben Gesprächsverlauf schrieb Kazim auch  auf die Frage „Was richtig ist und was nicht entscheiden Sie?“: „Wenn Sie so fragen: Ja, natürlich.“)

Beispiel 2: Ich weiß, was du denkst?

Im Text „Im toten Winkel“ des SZ-Magazins heißt es:

Sylvia Schnürer stört das [Wetter] nicht. Es geht ihr gut, nein, mehr als das, sie ist glücklich. […] Seitdem kommt es ihr vor, als würde sie schweben.

Eine Leserin kritisiert dies:

Woher weiß der Autor, dass sie das Wetter nicht gestört hat und dass es ihr seit dem Heiratsantrag ihres Verlobten vorgekommen ist, als würde sie schweben? Nicht nur #Relotius

Chefredakteur Timm Klotzek verteidigt:

Weil sie morgens fast zeitgleich mit ihrem Verlobten das Haus verlassen hat und die beiden über das Wetter gesprochen hatten.

Und:

Und weil dieses Gefühl des Schwebens in der ganzen Familie thematisiert wurde in den Wochen vor dem Tod: Verlobter, Schwester, Mutter, Vater.

Auf den Hinweis, dass die Aussage damit trotzdem unbelegt ist, dass sie unbelegbar sei, reagiert er nicht. Dabei können wir uns alle hochtrabenden Philosophieexkurse über Konstruktivismus und die Grenzen der Erkenntnis schenken, wenn selbst Chefredakteure den Unterschied zwischen Behauptung und Fakt nicht begreifen. Niemand kann wissen, was jemand denkt, fühlt, meint, glaubt, plant etc. Immer, immer wieder das simple Beispiel von Wolf Schneider:
Wenn der damalige Hamburger Bürgermeister Helmut Schmidt sagt: “Ich will nicht Bundeskanzler werden”, dann ist die Überschrift “Schmidt will nicht Bundeskanzler werden” reine Spekulation, denn was jemand wirklich will und was er sagt, sind gerade bei Karriereplanungen oft zwei verschiedene Dinge – wie ja dann auch der weitere Lauf der Geschichte gezeigt hat.

Dazu passt natürlich der nun vielfach zitierte  Teaser zu dem in weiten Teilen erfundenen Relotius-Text Königskinder:

Ahmed und Alin sind zehn und elf Jahre alt, als ihre Eltern in Aleppo sterben. Sie fliehen in die Türkei und arbeiten hier, getrennt voneinander, als Schrottsammler und Näherin. Manchmal, im Traum, erscheint ihnen Angela Merkel.

(Wobei man dazu sagen muss, dass dieser Schmarrn so nicht im Text selbst steht – da lässt Relotius Alin erzählen, was eben etwas anderes ist.)

Beispiel 3: Die falsche Zusammenfassung

Auf Twitter behauptet Timo Lokoschat:

Positiver Nebeneffekt der Causa #Relotius: Der Bürgermeister von Fergus Falls überlegt, das großartige Westernfest mit den marinierten Rinderhälften, das sich der Reporter ausgedacht hat, nun wirklich stattfinden zu lassen.

Die Nachfrage zu seiner Quelle beantwortet er nicht. Vielleicht hat der Bürgermeister irgendetwas dazu gesagt (was er überlegt, werden wir – siehe oben – nie wissen). In einem Spiegel-Interview heißt es dazu jedenfalls:

Einige Leute aus Fergus Falls schlagen bereits vor, dass wir einmal pro Jahr ein solches Fest veranstalten sollten. Wir haben den Bürgermeister gefragt, mit dem wir gut befreundet sind und dem das Restaurant gehört, in dem das Fest stattgefunden haben soll. Er sagt, es habe nie ein solches Fest gegeben.

Es wäre der Klassiker einer falschen Zusammenfassung, wie wir sie täglich dutzendfach finden können.

Beispiel 4: Glauben statt Wissen

Die Freunde des konstruktiven  Journalismus von „Perspective Daily“ beglückten am Samstag mit folgender Rechercheleistung:

zu Weihnachten feiern die meisten Deutschen die Geburt eines Flüchtlingskindes, die restlichen 362 Tage sind Geflüchtete für manche ein Reizthema. Das ist irgendwie … schizophren.

Von der Logik der Schlussfolgerung (und der fürchterlich duzigen  Anrede, siehe Screenshot oben,) abgesehen bleibt die Frage, weil wiederum nicht beantwortet: Um die Geburt welches Flüchtlingskindes soll es an Weihnachten gehen? Mutmaßlich hat Juliane Metzker, die „bei Perspective Daily über Migration und Arabische Welten“ schreibt, wie sie sagt, eine sehr verquere, gonzo-journalistische Story im Kopf. In der üblichen Geschichte des Lukas-Evangeliums jedenfalls gibt es gar keine Flucht, bei Matthäus folgt die Flucht deutlich nach der Geburt – und die Eltern waren bis zu diesem Zeitpunkt in beiden Versionen nicht auf der Flucht. Aber was interessieren Fakten, wenn man doch einen Glauben hat.

Beispiel 5: Die unbegründete Behauptung

Christoph Keese, Geschäftsführer der Axel Springer hy GmbH, behauptet auf Facebook, ein vom Leiter des Spiegel-Gesellschaft-Ressorts, Matthias Geyer, geschriebenes Portrait über Springer-Vorstandsvorsitzenden Mathias Döpfner sei faktenfern. Keese spricht von einer „Ohnmacht“, weil man sich „nach Erscheinen eines solchen Textes kaum verteidigen“ könne. Geyer stehe „als Autor für jene Art des Spiegel-Journalismus, der diese Krise verursacht hat: These kommt vor Fakten, Haltung vor Vielschichtigkeit, Ästhetik vor Nachricht, Schlaglicht vor Ambivalenz.“

Mehreren Bitten um Beispiele faktenferner Behauptungen kam Keese nicht nach, stattdessen antwortete er: „Hauptfehler: Die geschilderte Person gibt es nicht.“ Das ist in der laufenden Debatte um Qualitätsstandards im Journalismus natürlich wenig hilfreich, weil Keese so selbst wiederum Fakten durch Fiktionen ersetzt: dass er Döpfner ganz anders sieht als Geyer, ist völlig normal, und als arrogant werden viele Menschen den Spiegel-Stil (hin und wieder) empfinden. Aber bei Claas Relotius geht es um Fälschungen, um die Erfindung von Tatsachen, es geht nicht um Eindrücke, Gefühle.

Der frühere Bild-Chefredakteur Kai Diekmann legt in den Kommentaren zu Keeses Beitrag in dieser Art faktenferner Kritik nach und schreibt einmal:

>>Geyer? Kommt mir irgendwie bekannt vor…. http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-91675481.html  <<

und danach:

>…und an Ullrich Fichtner, den amtierenden Geschichtsschreiber in Sachen Relotius, erinnere ich mich auch sehr gerne – besonders an die Umstände und die Abwicklung des Interviews😂😂😂 http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-77222663.html <<

Auch hier folgten (bisher) keinerlei Belege für Falschbehauptungen.

Weiteres zum Thema:

+ Simon Hurtz auf Twitter
+ Alexander Marinos: „So habe ich das nicht gesagt – Die Authentizität der Redewiedergabe im nachrichtlichen Zeitungstext“ (Dissertation von 2001)

PS:
Vermutlich könnten wir eine eigene Weihnachts-Edition machen, aber aus Zeit- und Lustgründen belassen wir es bei zwei Fundstücken:

Update 27.12.2018: der Tweet von Christian Buck, Director for Near and Middle East and North Africa,  wurde kommentarlos gelöscht.

 

Die SZ bewirbt auf Twitter eine Video-Ansprache Prantls mit der falschen Zusammenfassung: „Deutschland und Europa sollten sich nicht so verhalten wie der abweisende Wirt in der Weihnachtsgeschichte.“
In der Weihnachtsgeschichte gibt es allerdings keinen „abweisenden Wirt“, im Gegenteil: die Futterkrippe, die als Kinderbett dient, steht ja nicht auf irgendeinem Feld, sondern in einer überfüllten „Herberge“. Prantl allerdings sagt in seinem Beitrag auch gar nicht „Weihnachtsgeschichte“, sondern sehr korrekt: „im Krippenspiel“, denn dort wird tatsächlich in tausend Varianten eine lange vergebliche Herbergssuche geschildert. Die Süddeutsche hat schlicht einen falschen Teaser geschrieben, und das passt ganz genau in diese kleine Sammlung schlampiger journalistischer Arbeit.

Ein Gedanke zu „Nenne mir deine Quelle

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