Der Berliner Tagesspiegel wirbt in seinem heutigen Newsletter folgendermaßen für einen Artikel:
>>die Unfallmeldungen der Polizei klingen oft wie aus der Perspektive des verständnisvollen Beifahrers geschrieben: Der Autofahrer „konnte einen Zusammenstoß nicht mehr verhindern“, „nicht mehr rechtzeitig bremsen“, „nicht mehr ausweichen“. Die Radfahrerin oder der Fußgänger dagegen „wurde touchiert“, „erfasst“, „stürzte“ oder „kam unter den Wagen“. Warum das so ist, ob das so bleiben muss und weshalb es nicht einfach heißt „Autofahrer rammte Radfahrer“ oder „Raser fuhr Fußgänger über den Haufen“, darüber sprach Checkpoint-Autor Stefan Jacobs mit der Polizei. Sein Text im Tagesspiegel ist einer der meistgelesenen dieser Woche.<<
Im Artikel kommen Polizei und die Fußgängerlobby „FUSS e.V.“ zu Wort. Als Problem werden die Polizeimeldungen identifiziert, als wären die verbreitenden Medien diesen machtlos ausgeliefert. Journalismus kommt nur am Rande vor, nämlich in Form der Kontrollstelle Deutscher Presserat.
Sicherlich kann man thematisieren, in welcher Form Behörden Informationen direkt verbreiten, auf Twitter, Facebook, Instagram. Medienmagazine tun dies allerdings meist sehr eigennützig aus Sorge um ihre Rolle als Informationsvermittler. Doch das elementare Problem der „Verharmlosung“, genauer und unvoreingenommener gesagt: das Problem der Parteilichkeit entsteht nicht durch Pressemitteilungen der Polizei, sondern durch deren unreflektierte, recherchefreie Weiterverbreitung durch den Medien. Alle falschen Skandalisierungen der letzten Jahre entstanden durch die Kolportage von Behördenmeldungen: Wir erinnern an die Inszenierung von Hitzacker (für die sich bis heute kaum ein Medium entschuldigt hat); oder an die schön von Bastian Berbner (ZEIT) aufbereitete Medienerfindung vom Mädchen verfolgenden Mob in einem Kieler Einkaufszentrum (Podcast; ZAPP bei Youtube; Erstbericht Kieler Nachrichten, bis heute ohne Update darunter).
Hier im Blog haben wir deshalb schon vor einiger Zeit zur Diskussion gestellt, wie Journalisten mit Pressemitteilungen der Polizei umgehen sollten. Unstrittig sein dürfte: Ohne eigene Recherche ist die Weiterverbreitung von Behörden-Mitteilungen schlicht PR, nicht Journalismus.
Aber nutzen wir die Gelegenheit, mal kurz in den Tagesspiegel zu schauen. Zum Fall im Kieler Einkaufszentrum Sophienhof zeigt das öffentliche Archiv genau eine Meldung: die ungeprüfte Übernahme der Polizeidarstellung (wenn auch via dpa und mit Kürzel „Tsp“ versehen). Besonders schön darin der Satz: „Zwei 19 und 26 Jahre alte Afghanen und zwei weitere Verdächtige wurden vorläufig festgenommen, nachdem sie gegen Polizisten Widerstand geleistet hatten.“ Gegen was genau haben sie wohl Widerstand geleistet, wenn sie erst danach festgenommen wurden, als Konsequenz?
Die Meldung im Tagesspiegel enthält keinerlei Update, keine Korrektur, nicht das Ergebnis des Verfahrens vorm Amtsgericht Kiel. Sondern einseitig die Darstellung der Polizei. Ist dafür wirklich die Polizei verantwortlich?
Auch zu Hitzacker: nur ein Beitrag, und der zeigt ganz überwiegend die Sicht der Polizei, sogar in der Subheadline: „Die Polizei sieht im Protest in Hitzacker eine neue Dimension der Gewalt„. Dass alle Verfahren gegen die damals von der Polizei Beschuldigten eingestellt worden sind, erfährt man im Tagesspiegel nicht.
Oder nehmen wir das besonders heikle Standardformat: Verfolgungsjagd. Für Berlin werden solche Wild-West-Szenen häufig vermeldet, das Archiv ist voll damit. Aber niemals stellt die Redaktion des Tagesspiegels die Frage, ob eine offene, sichtbare Verfolgungsjagd der Polizei objektiv aus der Zivilgesellschaft betrachtet notwendig oder sinnvoll war. Natürlich ist böser Bube, wer vor der Polizei flieht. Aber dass die Polizei an all den Unfällen und Tötungen, die dabei passieren, unbeteiligt ist, kann man nun wahrlich nicht sagen. Und anders als Gerichte dürfen Journalisten nach dem Sinn fragen, nicht nur den Vollzug von Gesetzen und Verordnungen melden.
Da bleibt also durchaus auch beim Tagesspiegel noch etwas Luft nach oben zum Top-Polizeijournalismus…
Siehe hierzu auch:
* Recherche bei Polizeimeldungen
* Pressefreiheit und Polizei