Leseverständnisprobleme

Eine Vielzahl von Fehlern in journalistischen Texten gründet in Rezeptionsschwäche. Oft scheitert schon die Wiedergabe einfacher Fakten. Betrüblich daran ist, dass viele Journalisten ihre Fehler gar nicht einsehen und ihre Darstellung für korrekt, wenigstens nicht beanstandenswert halten. Hier dazu einige Impressionen. Ausführliche Beispiele finden sich auch im zweiten Teil der Serie zum Corona-Journalismus, weiteres wird hier am Ende verlinkt.
Zunächst nur zwei Beispiele (wird ergänzt):

Die Menge und ihre Teile

+ Der Journalist Daniel Bröckerhoff korrigierte sich im Zusammenhang mit falscher Berichterstattung über Silvestervorfälle in Borna so:

>In #Borna sollen nach ZEIT-Recherchen nicht 200 Menschen, sondern „nur“ 30 vermummte Personen zu #Silvester randaliert und Polizisten angegriffen haben. Die Polizei kann auch „Sieg Heil“-Rufe (noch) nicht bestätigen.<

Ausgangspunkt war die Lesekompetenz des t-online-Redakteurs Andreas Raabe (alle Belege in „Zur medialen Debatte um Silvester-Ausschreitungen„). Er hatte geschrieben:

>Etwa 200 Personen wüteten an Silvester auf dem Bornaer Marktplatz in Sachsen.<

Grundlage dafür war eine Pressemitteilung der Polizei, in der es hieß:

>Als Einsatzkräfte am Ort eintrafen, befanden sich knapp 200 Personen am Ort. In der weiteren Folge kam es aus der Gruppierung heraus zum Abfeuern von pyrotechnischen Erzeugnissen in Richtung der Beamten. Dabei wurde auch ein Funkstreifenwagen beschädigt.<

Raabe hatte also die gesamte (lose) Versammlung zu Tätern gemacht, wofür es keinerlei Anhaltspunkte gab, im Gegenteil.

Anne Hähnig schrieb nach ihrer Vor-Ort-Recherche in der ZEIT und auf Zeit-online entsprechend:

>Ein kleinerer Teil von diesen 200 Feiernden, ungefähr 30 Personen, habe sich den Angaben der Polizei zufolge von anderen abgehoben: Diese 30 seien teilweise mit Sturmhauben vermummt gewesen und hätten in dem Moment, in dem ein Streifenwagen eintraf, eine Rakete auf die Beamten gerichtet und abgefeuert. Zudem sei versucht worden, den Weihnachtsbaum umzukippen oder mit Pyrotechnik anzuzünden, was jeweils misslang.<

Darauf bezogen ist auch Bröckerhoffs Korrekturhinweis wieder falsch. „Teilweise“ ist nicht „alle“, nicht einmal „die meisten“, es genügen zwei (und wer Polizeimitteilungen kennt würde sich nicht wundern, wenn es tatsächlich sehr wenige der 30 waren). Aus dem Zitat ergibt sich auch nicht, dass „30 […} Polizisten angegriffen haben“. Wie viele Menschen können eine Rakete abfeuern? Müßig zu betonen, dass das Verb „angreifen“ eine Interpretation ist. Da könnte man wenigstens noch erwähnen, was die Polizei selbst mitgeteilt hatte: „Verletzt wurde niemand.“

Expertenrat Einerlei

Watson schreibt:

Neben seiner anfänglichen Unterschätzung des Coronavirus prangert Yogeshwar bei sich selbst an, als Mitglied des Corona-Expertenrats häufig nicht energisch genug nachgehakt zu haben.<

Auch in der Textzeile zum großen Portraitbild über dem Artikel heißt es:

>Der ARD-Moderator und Physiker Ranga Yogeshwar war Teil des Corona-Expertenrats.<

Des Corona-Expertenrats? Damit kann nur der Expertenrat der Bundesregierung gemeint sein, der erst von Bundeskanzler Scholz installiert wurde. Und dem gehört(e) Yogeshwar nicht an. Sondern, wie er selbst schreibt, dem „Corona-Expertenrat der Helmholtz-Gemeinschaft“. Dieser war nur intern tätig, zum kollegialen Austausch über die verschiedenen Helmholtz-Zentren hinweg sowie mit Gästen, u.a. eben Yogeshwar. (Interpretation telefonisch bestätigt von Martin Trinkaus, Kommunikationsabteilung Helmholtz.)

Fälle, die schon in eigenen Artikeln erläutert sind

+ Spiegel über Lauterbach: Fehler beim indirekten Zitieren (aus „Lockerungsweltmeister“ wird „Lockerungsspirale“. Fener macht der Autor aus „ich glaube…“ ein „rechnet fest mit“. In: Autopsie: Lauterbach fürchtet Winterwelle – und rügt Länder für »populistische« Lockerungen

+ Armin Wolf über Ulrike Guérot und Hauke Ritz: Der ORF-Journalist fasst einen Buchauszug falsch zusammen und löst damit große Erregung und Berichterstattung aus. Dabei ist seine Fehlinterpretation offenbar dadurch begünstigt worden, dass er sich nur auf den an anderer Stelle veröffentlichten Buchauszug stützt und nicht das Gesamtwerk kennt. In: Vom Lesen und Verstehen

 

Ein Gedanke zu „Leseverständnisprobleme

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