Zur Rammstein-Berichterstattung

Mehrere Frauen erheben neue Vorwürfe gegen Rammstein-Frontmann Lindemann. Gegenüber NDR und SZ beschreiben sie, wie junge Frauen offenbar gezielt für Sex mit ihm rekrutiert werden. Zwei Frauen berichten zudem von mutmaßlichen sexuellen Handlungen, denen sie nicht zugestimmt hätten.

So beginnt die Tagesschau (NDR) einen Bericht am 2. Juni 2023. Die Recherchen von NDR und Süddeutscher Zeitung werden breit kolportiert. Einige lose Anmerkungen zur Verdachtsberichterstattung über Till Lindemann und Reaktionen darauf.

1. Wir können uns alles Bohei um nicht-identifizierende Berichterstattung und die juristische Hoheit von Gerichten klemmen, wenn Investigativ-Journalisten einseitige Erzählungen wie Reportagen nachplappern:

Es ist ein Spätnachmittag im Februar 2020, das Konzert ist noch nicht einmal gestartet, als Till Lindemann im Backstage einer Konzerthalle durch die Tür schaut und mit dem Finger eine “Komm her”-Bewegung macht.

Oder:

Beide Frauen, sowohl Cynthia A. als auch Kaya R., sind nach ihren Erlebnissen […]

Da gibt es keinerlei Distanz der Reporter, sie setzen einzelne Aussagen als Wahrheit.

2. Was das Rechercheteam bisher vorlegt, ist wahlweise Entrüstung über die Sexualmoral des Rammstein-Sängers oder die Behauptung unzurechnungsfähiger Frauen. Gerade wenn Drepper im Tagesschau-Interview nochmal als Beleg für ‘das System’ die eine Aussage zitiert, die auch im Text steht – “Eine Frau berichtet, dass ihr klar kommuniziert worden sei, dass es den Zugang zu Konzert und Aftershow-Party nur bei Interesse an Geschlechtsverkehr mit Lindemann gebe” – sollte im Beitrag erörtert werden, wo das Problem liegt.

3. Zur Untermauerung der Tatvorwürfe wird auch in diesem Fall auf Eidesstattliche Versicherungen verwiesen.

>Die Frauen haben gegenüber NDR und „Süddeutsche Zeitung“ eidesstattliche Versicherungen abgegeben, bleiben auf eigenen Wunsch anonym. (Bild)<

Hierbei wird nicht deutlich gemacht, ob es sich um gerichtsfeste Beteuerungen handelt, die zwar den Journalisten anvertraut werden, aber explizit zur Vorlage bei Gericht bestimmt sind. Das ist nicht nur ein großer Unterschied in der Rechtswirkung, sondern auch für den Informantenschutz. Denn im Falle einer Klage gegen die Berichterstattung müsste eine gerichtsfeste Eidesstattliche Versicherung im schriftlichen Verfahren vorgelegt werden und geht damit auch an die Klägerseite zur Stellungnahme. In einem Hauptsacheverfahren müssten die Zeugen sogar persönlich erscheinen. Schon mit der Einreichung einer Eidesstattlichen Versicherung bei Gericht verlieren Zeugen somit ihre Anonymität. Soweit sie ihre Behauptung allerdings nur gegenüber den Journalisten versichern, droht ihnen der Verlust der Anonymität nicht – allerdings haben entsprechende Erklärungen dann auch keine rechtliche Bedeutung.

4. Dass der Verlag Kiepenheuer & Witsch (KiWi) “die Zusammenarbeit mit Till Lindemann mit sofortiger Wirkung” beendet hat, ist zwar allen Nachrichtenmedien eine Meldung wert, gehört aber zum Ablauf wie Betroffenheitsbekundungen von Politikern nach Unfällen. Wie weit es den Verlagsmenschen tatsächlich um ihre Werte geht, muss für immer Spekulation bleiben. Klar ist aber: wirtschaftlich angezeigt ist immer die sofortige Beendigung jedes Kontakts mit medial infizierten Personen bzw. Namen. Fynn Kliemann hat das im Podcast “Baby got Business” ein Jahr nach seinem Sturz so berichtet: bisherige Partner hätten ihm gesagt, da sei zwar nichts dran, aber sie könnten nicht anderes als die Zusammenarbeit mit ihm öffentlich zu beenden.
Die Berichterstattung täte daher gut daran, wenigstens die vorgetragene Begründung zu hinterfragen. KiWi-Verlegerin Kerstin Gleba schreibt nämlich:

>Im Zuge der aktuellen Berichterstattung haben wir Kenntnis erlangt von einem Porno-Video, in dem Till Lindemann sexuelle Gewalt gegen Frauen zelebriert und in dem das 2013 im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienene Buch “In stillen Nächten” eine Rolle spielt. Wir werten dies als groben Vertrauensbruch und als rücksichtslosen Akt gegenüber den von uns als Verlag vertretenen Werten.
Wir verteidigen aus voller Überzeugung die Freiheit der Kunst. Durch die Frauen demütigenden Handlungen Till Lindemanns im besagten Porno und die gezielte Verwendung unseres Buches im pornographischen Kontext wird die von uns so eisern verteidigte Trennung zwischen dem “lyrischem Ich” und dem Autor/ Künstler aber vom Autor selbst verhöhnt.<

Wo hebt Lindemann die Trennung zwischen Kunstfigur und Realperson hier auf? Ob er in Gedichten herumfantasiert oder in einem Film – es handelt das “lyrische Ich”. Sexualität  und Gewalt in dem Video sind und bleiben gespielt, fiktional, so wie die Gedichte in dem Buch, das Lindemann wohl auch “seines” nennen dürfte (und nicht “das von KiWi”).

 

Siehe auch: 

# Medienkritik, wo ist der Journalismus (zur metoo-Debatte und der Kritik von Thomas Fischer an der Verdachtsberichterstattung über Dieter Wedel)

# Spekulativer Nachrichtenwert (über die Verdachtsberichterstattung zu Julian Reichelt)

# Strafanzeigen haben keine journalistische Relevanz (Fallsammlung)

Hinweis: 

Die Autoren dieser losen Anmerkungen hier sind nullkommanull Fans von Rammstein, finden Musik wie Show vielmehr schon immer abstoßend. Die Beschäftigung mit diesem Medienfall ist daher mit besonderen Leiden und keinerlei Leidenschaft verbunden.

Zu Rammsteins Umgang mit Pressefotografen siehe einen Beitrag von 2009: “MoPo zeigt Rammstein die schwarze Schulter

Updates:

Die Staatsanwaltschaft Berlin hat die Ermittlungen gegen Till Lindemann eingestellt. Anzeigen von betroffenen Frauen lagen nach Angaben seiner Anwälte nie vor. Kommentar bei der Berliner Zeitung.
Eine rechtliche Einordnung auch mit Bezug auf den “Fall Aiwanger” gibt Rechtsanwalt Carsten Brennecke (Partner Kanzlei Höcker) im Video-Interview mit der Welt (30.08.2023).

Wir haben den Abschnitt 3 umformuliert, um die zwei verschiedenen Anwendungsfälle Eidesstattlicher Versicherungen deutlicher zu machen. Siehe dazu auch den “Recherchebrief” von Daniel Drepper “So schützen wir Menschen, die mit uns sprechen” (Substack, 14.07.2023).
In einem Interview mit dem SWR erklärt Drepper, wie er den Unterschied zwischen öffentlicher Debatte und strafrechtlicher Bewertung sieht. Das Dilemma der Eidesstattlichen Versicherungen wird dabei auch deutlich: Denn die Staatsanwaltschaft Berlin erklärte zur Einstellung ihrer Ermittlungen u.a.:

>Die in der Presseberichterstattung wiedergegebenen Angaben von Zeuginnen und Zeugen haben sich durch die Ermittlungen nicht bestätigt. Mutmaßliche Geschädigte haben sich bislang nicht an die Strafverfolgungsbehörden gewandt, sondern ausschließlich – auch nach Bekanntwerden des Ermittlungsverfahrens – an Journalistinnen und Journalisten, die sich ihrerseits auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht berufen haben. Die Möglichkeit, etwaige Tatvorwürfe ausreichend zu konkretisieren, bestand daher ebenso wenig wie die, einen Eindruck von der Glaubwürdigkeit der mutmaßlichen Geschädigten und der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben im Rahmen von Vernehmungen zu gewinnen.<

 

3 Gedanken zu „Zur Rammstein-Berichterstattung

  1. Carsten Kröger

    Gestern Abend bei HAF (ARD) hat die NDR-Redakteurin auch sehr exponiert über die ihr gegenüber abgegebenen “Eidesstattlichen Versicherungen” doziert, nach denen sich die Informantinnen bei Falschaussagen strafbar machen.

    Gut dass Ihr das hier auch richtig stellt.

    Übrigens hat Elena Kuch dann ab Minute 13 der Sendung berichtet, dass es im Fall Rammstein auch gar nicht so wichtig ist, ob Straftaten begangen wurden. Es ginge um die Frage von Machtmissbrauch
    “Und wir als Journalisten sind nicht die Justiz, aber wir können darauf aufmerksam machen, wir können recherchieren, wenn es ein Thema gibt von öffentlichem Interesse und von gesellschaftlicher Revelanz – und das sehen wir hier.”

    Ich frage mich nach langer Tätigkeit in den Medien, ob die gegenseitige Übernahme von Zitaten, die gegenseitige Verstärkung (“Journalist interviewt Journalisten” – “Moderator bittet Journalisten um Lageeinschätzung”) inzwischen nicht auch schon eine Form von Machtmissbrauch ist.

  2. Pingback: Insider-Debatten blauer Haken über das Elterngeld – Timo Rieg – Statements

  3. Bernhard

    “Sexualität und Gewalt in dem Video sind und bleiben gespielt, fiktional” Ahem, in besagtem Video penetriert Lindemann eine Frau, deepthroatet sie, ohrfeigt sie, zwickt sie in die Nippel und schlägt sie gegen eine Wand. Ich gehe davon aus, dass das alles einvernehmlich stattgefunden hat, Das macht das Geschehen aber noch lange nicht “fiktional”. Das ist schon alles so passiert.

    Wie Lindemann ohne sexuelle Erregung eine Erektion bekommen könnte, ist mir auch unklar. Insofern ist mir folglich ebenso unklar, wie seine Sexualität in besagtem Video ausschließlich “gespielt” sein könnte.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.