Sozialtourismus in der journalistischen Notaufnahme

Über das journalistische Geschäftsmodell der Skandalisierung wird schon seit Jahrzehnten gesprochen. Und ja, derzeit erscheint es besonders ausgeprägt, besonders gegenwärtig und längst nicht mehr auf kommerzielle Medien begrenzt: von einer ganzen “hysterischen Gesellschaft” ist dann die Rede, was unmittelbar mit hysterischer Empörung ob des diskriminierenden Begriffs geahndet wird. Nun erscheint heute ein Buch der beiden Medienphänomene Harald Welzer und Richard Precht, das sich jedenfalls auch mit dem Skandalisierungsgeschäft des Journalismus befasst – und das  seit Monaten ungelesen selbst skandalisiert wird. “Die vierte Gewalt – Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist” heißt das Buch (S. Fischer Verlag, 22 Euro). Andreas Rosenfelder kommentiert zur Medienreaktion:

>Unendlich viel peinlicher aber ist das Reiz-Reaktions-Schema der beleidigten Medienblase, die gar nicht mehr bemerkt, dass sie auch im Falle von ‘Die vierte Gewalt’ jene routinierte Erregungs-, Verhöhnungs- und Ausschlussmaschinerie anwirft, von der das Buch handelt – und die schon an so vielen Migrations-, Corona- oder Ukraine-‘Skeptikern’ erprobt wurde.<

Dem ist fast nichts mehr hinzuzufügen – außer Praxisbeispiele (auch wenn die Hoffnung, mit Argumenten eine öffentliche Debatte beeinflussen zu können, nur noch sehr, sehr klein ist*).

Fall: “Sozialtourismus”

Friedrich Merz hat als CDU-Oppositionsführer des Bundestags in einem Gespräch mit BILD gesagt (auf die Frage, ob man in Krisen mit einer restriktiveren Flüchtlingspolitik arbeiten müsse):

>Wir sehen mit großer Besorgnis, dass die Entscheidung der Bundesregierung vom System der Asylbewerberleistung auf das System der Arbeitslosengeld-II-Zahlungen überzugehen im Frühjahr zu erheblichen Verwerfungen auch bei den Flüchtlingen aus der Ukraine führt. [Einwurf Interviewer Kai Weise: “mehr als 1,1 Millionen Flüchtlinge insgesamt bisher Stand heute”] Wir erleben mittlerweile einen Sozialtourismus dieser Flüchtlinge nach Deutschland, zurück in die Ukraine, nach Deutschland, zurück in die Ukraine, von denen sich mittlerweile eine größere Zahl dieses System zunutze machen. Da haben wir ein Problem, das größer wird. Wir haben im Frühjahr drauf hingewiesen, dass dieses Problem entstehen könnte – die Bundesregierung hat sich taub gestellt.<<

Merz kritisiert also eine konkrete politische Handlung, nämlich eine Gesetzesänderung durch die Regierungsparteien im Parlament, die er (und die Union insgesamt) nicht haben wollte (siehe Abstimmung und vorangegangene Debatten). Und dabei verwendet er den Begriff “Sozialtourismus”. Den Ausdruck kann man finden wie man mag, wer Bundestagsdebatten häufiger verfolgt wird da so viele gegenseitige Vorwürfe, Unterstellungen und Behauptungen vernehmen, dass er, zumal noch so unkonkret als Problemanzeige verwendet, keinerlei Erregungspotential hätte. Doch der Medienbetrieb und der mit ihm symbiotisch verbundene Politikbetrieb haben die Chance gesehen, aus der Verwendung des 2013 von einem winzigen, aber perfekt zum Mediensystem passenden Erregungsclub zum “Unwort des Jahres” gekürten Begriffs einen Skandal zu machen, genauer: sich selbst Druckzeilen und Sendezeit zu verschaffen. Der Ablauf war so vorhersehbar, dass jeder Medienprofi alle Texte, Statements, Pressemitteilungen und Twitter-Empörungen hätte vorab schreiben können, allein mit der Information versehen, Merz werde in einem BILD-Interview ukrainische Flüchtlinge und Sozialtourismus in einen Zusammenhang bringen.

Der publizistische Kniff zur Skandalisierung besteht dabei regelmäßig in der Interpretation, die niemals als Mutmaßung, sondern stets als Tatsachenfeststellung verkauft wird, ganz so wie bei den medial höchst beliebten Verschwörungstheorien (in denen es selten um Verschwörungen, aber immer um Interpretationen der Welt geht). Entsprechend eintönig ist der journalistische Kommentierungs-Chor: Merz hat als Profi natürlich absichtlich “Sozialtourismus” gesagt, damit “rechts geblinkt”, um sich kurz darauf zu entschuldigen, aber die ganz rechte Klientel doch erreicht und umworben zu haben. Deshalb ist er ein Populist. In vermutlich allen Zeitungen, in allen Nachrichtensendungen war das Thema. Aber eine Auseinandersetzung mit Merz’ Kritik gab es nicht. Man muss sich damit auch nicht zwingend befassen, aber die ganze publizistische Kraft stattdessen auf die Echauffage über ein einzelnes Wort zu konzentrieren ist der Orientierung sicherlich noch weniger dienlich. Beispielhaft Dominik  Rzepka in einem ZDF-Kommentar:

>Merz bedient das Raunen, das seit etwa drei Wochen durch die sozialen Netzwerke wabert. Seit Anfang September geistert eine Audionachricht durch WhatsApp-Gruppen. In ihr wird behauptet, Ukrainer würden in Deutschland Sozialbetrug begehen. Sie kämen angeblich mit dem Flixbus nach Deutschland, bezögen Hartz IV und führen dann sofort wieder in die Ukraine. Die Geschichte stimmt nicht, zeigt ein Faktencheck von ‘Correctiv’. Sowohl Flixbus als auch das Arbeitsministerium haben demnach keine Hinweise auf Sozialbetrug durch Ukrainer. Doch indem Merz den Sound dieser Geschichte aufnimmt, sendet er Signale in bestimmte Echokammern.<

“Die Geschichte stimmt nicht” stimmt natürlich nicht, was man sogar ohne Recherche annehmen  kann, da es eben nicht um die Behauptung eines konkreten Falls ging, der sich prüfen lässt. Correctiv selbst kennzeichnet daher “die Geschichte” auch nur als “unbelegt”. Dabei wird niemand ernsthaft annehmen, es gebe keinen Leistungsbetrug bei Flüchtlingen (etwa im Gegensatz zu Arbeitslosen, Steuerpflichtigen etc.). Aber Skandalisierung möchte ja auch keine Probleme lösen oder überhaupt nur Sachverhalte aufklären (die man dann ja vielleicht gar nicht als Problem betrachten möchte). Das Geschäftsmodell Skandalisierung setzt auf Emotion, darauf, mit wenigen Schlagworten oder Sätzen abzustecken, auf welche Seite sich die Guten zu schlagen haben und wer entsprechend zu den Bösen, Schlechten, Dummen gehört.

Fall: Erregung über die Erregung über medizinisches Chaos

Ein kleiner, lokaler, aber doch sehr anschaulicher Fall von heute. Der Berliner Tagesspiegel teasert dazu:

> Orkan Özdemir beschwerte sich übers Warten in der Kinderrettungsstelle. Der Politiker sei ‘abgehoben’ und ‘ahnungslos’, sagen viele – und fordern eine Entschuldigung.<

Die Geschichte gründet wie so viele skandalisierte Storys heute auf ein paar Twitter-Zeilen. Da beklagt am Montagabend der Berliner Abgeordnete Orkan Özdemir, mit seiner fiebrigen Tochter nach zwei Stunden in der Notaufnahme des St. Josef-Krankenhauses noch keine Ersteinschätzung erhalten zu haben. Eine Stunde später twittert er, weiterhin keine Ärztin oder Schwester gesprochen zu haben und deshalb nun zu einem befreundeten Arzt nach Hause zu fahren. “Absolut katastrophale Bedingungen” schreibt er und “Absolut traumatische Erfahrung in diesem offensichtlich gescheiterten Krankenhaus.”

Überlaufene Notaufnahmen sind ein bekanntes Thema, ebenfalls, dass da auch viele Patienten aufschlagen, die gar keine Notfälle sind. Man könnte die Tweets also schlicht ignorieren, so wie twitterales Gejammer über Bahnverspätungen. Oder man geht der Sache nach, prüft, wie akut der Fall wirklich war, recherchiert sein Alleinstellungsmerkmal oder seine Symptomhaftigkeit für eine Pathologie des Gesundheitswesens. Der Tagesspiegel entscheidet sich stattdessen für preisgünstigere Skandalisierung. Denn wo immer kritisiert wird, ist die Replik der Kritisierten nicht weit, spätestens wenn man sie fragt. Soweit, so traurig-normal. Das Drollige hier ist nur: die Echauffierten weisen nicht etwa die Kritik zurück, sondern teilen sie vielmehr, halten den Kritiker als Politiker der Berliner Regierungskoalition allerdings für einen Mitverursacher. Dass dabei die Argumentation arg ins Straucheln kommt, stört Autor Hannes Heine offenbar wenig, denn auf Fakten-Support verzichtet er ebenso wie auf eine Stellungnahme des  gescholtenen Kritikers (der kommt nur mit seinen nächtlichen Tweets zu Wort). So machen gleich zwei Re-Kritiker die Vergütung durch Fallpauschalen dafür verantwortlich, dass Özdemirs Tochter drei Stunden lang nicht untersucht wurde – wie immer man da einen Zusammenhang basteln will.
Eine mögliche Skandalgeschichte in der Skandalgeschichte hat Heine möglicherweise übersehen, weil er Özdemir unvollständig zitiert. Heine schreibt:

> Dem Partner einer vom Klinikpersonal in Tempelhof weggeschickten Frau habe er, schrieb Özdemir, seine Visitenkarte gegeben, ‘falls er rechtlich gegen das St. Joseph Krankenhaus’ vorgehen wolle<<.

Tatsächlich war die Geschichte bei Özdemir aber zweiteilig. Im ersten Teil schrieb er:

> Gerade wurde eine Frau einfach weggeschickt, die mit ihrem Neugeborenen ankam und kaum laufen konnte. Keine Aufnahme o Ersteinschätzung. Wenn der Frau oder dem Baby nun was geschieht, wer ist verantwortlich?<

Eine Stunde später twittert Özdemir:

> Übrigens wurde die Frau die weggeschickt wurde via Krankenwagen eben eingeliefert. Habe dem Partner meine Visitenkarte gegeben und meine Unterstützung zugesichert falls er rechtlich gegen das St Joseph Krankenhaus in Berlin vorgehen will.<

Ist da nun ein tatsächlicher Notfall zu Unrecht und mit bösen Folgen der Notaufnahme verwiesen  worden? Oder hat da jemand den nicht ganz unbekannten Trick gewählt, sich via 112-Ruf zuhause als Notfall abholen zu lassen, um so in die Notaufnahme des Krankenhauses zu gelangen?

Weitere Beiträge zu journalistischer Skandalisierung (Auswahl):

Helikopterjournalisten: Verteidigungsministerin Christine Lambrecht und ihr Flug mit Sohn

Unfassbare Ahnungslosigkeit: Bundesweite Erregung über eine kleine Gesangsdarbietung vor dem Wohnhaus eines Polizisten

Entsorgte Objektivität: Verbale Entsorgung politischer Gegner

Empörung statt Recherche: Anekdote aus einer Zeit, als Geimpft zu sein und niemanden mit einer Krankheit anzustecken noch nicht erste Bürgerpflicht war

Anmerkungen

* Dazu sei just auf einen Podcast mit Harald Welzer verwiesen: Denken mit Kinnert und Welzer, Podcast-Episode vom 26. September 2022: Anthropozän – Das Zeitalter der Dummheit
https://open.spotify.com/episode/7BZzio64Bg9OrO2S1XaqXL?go=1&sp_cid=2c2633a8edf490d190d8c0527e35ba19&nd=1

 

 

rechts geblinkt
https://www.msn.com/de-de/nachrichten/politik/irrlichternder-cdu-chef-rechts-geblinkt-und-dann-mit-karacho-gegen-die-wand/ar-AA12iBU9

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