Schlagwort-Archive: Corona-Journalismus

“3G-Pläne für Bahn- und Flugverkehr” und der Kolportagejournalismus

Eine vielleicht auf den ersten Blick völlig unspektakuläre Meldung der Tagesschau eignet sich gut, um die anhaltenden Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus aufzuzeigen. Abgesehen von Gegenreden zu einzelnen Punkten wird es einen generellen Einwand geben: Die hier geforderten journalistischen Recherchen ließen sich nicht für eine simple Meldung rechtfertigen.
Doch. Denn unvollständige Informationen sind in vielen Fällen Desinformation, und das lässt sich im vorliegenden Fall gut zeigen. Hätte die Tagesschau solide recherchiert (bzw. einfach die ihr ohnehin vorliegenden Informationen verarbeitet), wäre etwas ganz anderes dabei herausgekommen als eine Verlautbarung von Regierungs- und Gewerkschaftsstatements. Dies Leser bekämen ein völlig anderes Bild, wenn ihnen all das angeboten würde, was zur Beurteilung der politischen Idee notwendig ist.

Unter der Überschrift “3G-Pläne für Bahn- und Flugverkehr” schreibt die Tagesschau am 27. August 2021 (linke Spalte; rechts die Anmerkungen): Weiterlesen

Beruhigender Daueralarm

Es gibt viele Erklärungsmöglichkeiten für die permanente Wiederholung alter Nachrichten in den Medien – von Hinrnwäsche der Kunden (Verschwörungs-Ansatz) bis Selbstvergewisserung der Journalisten selbst (Religions-Hypothese), von Amnesie bis Apathie. So oder so, wenn es nicht so ein fürchterliches Thema wäre, könnte man es drollig finden, was uns die Medien  permanent als “news”  präsentieren.

Heute auf allen Kanälen: Christian Drosten warnt mal wieder, düstere Prognose, klare Ansage, beim “Redaktionsnetzwerk Deutschland” (RND) sieht das dann so aus: Wer sich nicht impfen lässt, wird sich infiizieren. Sagt Obervirologe Drosten.

Allerneuste Erkenntnis von Professor Drosten wird das allerdings nicht sein, denn schon vor drei Monaten warnte uns der Chef-Virologe bei RND: Wer sich gegen Impfung entscheidet, der wird sich unweigerlich infizieren.

Beide Male wurde die Aussage Drostens in zahlreichen Medien verbreitet.

Der Tagesspiegel und sein Corona-Weltbild

Nach anderthalb Jahren Medienanalyse und -kritik zum Corona-Journalismus frage ich mich ganz grundsätzlich: hat Medienkritik irgendeinen Sinn? Bringt sie irgendeine Verständigung über Aufgaben und Qualitäten des Journalismus voran? Ich sehe das nicht. Und zwar nicht, weil ich mit speziellen Positionen nicht durchdringe – sondern weil dem Betrieb jegliche Kritik an seiner Arbeit vollkommen wurscht ist. Das ist leider auch keine neue Erkenntnis, sie begleitet mich seit bald drei Jahrzehnten, allerdings in unterschiedlicher Intensität. Allein dieser Blog “Spiegelkritik” ist über die 15 Jahre seines Bestehens immer weiter gefüllt worden mit Hinweisen auf eklatante, unbestreitbare Qualitätsmängel in der Berichterstattung, allem voran falsche Tatsachenbehauptungen, – die weder eine Entschuldigung, nicht einmal eine Korrektur nach sich zogen. Weiterlesen

Einäugige Medienkritik

Aus den vielen, vielen Ungleichbehandlungen im Corona-Journalismus (siehe  laufende Serie bei Telepolis) hier ein Beispiel: Die Süddeutsche Zeitung schneidet eine statistische Darstellung so, dass der echte Maßstab nicht mehr optisch zu erkennen  ist, sondern abgelesen und ‘vor dem geistigen Auge’ angepasst werden muss, Twitter-Post:

Soweit, so normal-desorientierend. Wir warten jetzt aber darauf, dass die professionelle Medienkritik dies ebenso anprangert wie in Fällen, da ihr das Ergebnis der Manipulation mutmaßlich weniger gefällt, wie etwa BILD-Blog.


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Das nicht aseptische Interview

Eine verantwortungslose Journalistin hat die Medien-Kolumne “Altpapier” bei der Zeitung “Nordkurier” entdeckt. Deren Textchefin Simone Schamann hatte den Rechtsanwalt Rolf Karpenstein interviewt, Überschrift: “Könnte EU-Recht den Corona-Lockdown sprengen?”. Das ausführliche Gespräch bleibt dicht an diesem Thema, das man wohl kaum als irrelevant abtun kann. Ob Karpenstein mit seiner Rechtsauffassung richtig liegt oder komplett auf dem Holzweg ist, bleibt natürlich offen, und trotz der Länge hätte es genau dazu sicher noch ein paar relevante Fragen gegeben, u.a. was laufende und vor allem ggf. von Karpenstein vertretene Verfahren betrifft. Das “Altpapier” weist allerdings nicht auf das Interview selbst hin (etwa mit einer Einordnung, welche juristischen Fragen schon journalistisch dokumentiert sind oder was noch zu recherchieren wäre), sondern auf einen Beitrag dazu bei “Übermedien“. Dort ist am Vortag eine Kritik von Hendrik Wieduwilt erschienen, Titel: “Corona-Recht ohne Mundschutz: Der ‘Nordkurier’ lässt einen Anwalt querdenken”.

Der geschätzte “Altpapier”-Kollege René Martens kommentiert zu diesem Kommentar:

Falls es Zeitgenossen gibt, die nach dem elften Bier über das Geschäftsmodell Telegram-Zeitung nachgedacht haben: Das Interview im Nordkurier liefert ihnen Anschauungsmaterial.

Da ich seit März 2020 auf der Suche nach substantieller Medienkritik zur Corona-Berichterstattung bin, wundert mich wie an diesem Beispiel, WAS der Journalismusjournalismus thematisiert. Die Skandalisierung des Interviews aus dem Nordkurier (der einige Jahre zu meiner beruflichen Tageslektüre gehörte) erscheint mir beispielhaft für eine Schieflage: Es wird nicht journalistische Arbeit kritisiert, sondern die gesellschaftliche Debatte – im Gewand des Medienjournalismus.

Die folgende Anmerkung habe ich unter dem Übermedien-Artikel geschrieben. Weil das dortige WordPress die Formatierungsversuche zunichte gemacht hat, erscheint sie hier nochmal, etwas übersichtlicher. Weiterlesen

Medienkritik zum Corona-Journalismus (Sammlung)

Die journalistische Berichterstattung zur Corona-Pandemie und deren politischer Handhabung wird die Medienforschung (hoffentlich) noch lange Zeit beschäftigen. Die nachfolgende Sammlung mit Literatur, Links und Ergänzungen zur Diskussion wurde von Herbst 2020 bis Ende 2022 kontinuierlich fortgeführt. Nun soll der Themenkomplex abgeschlossen werden. Eine Zusammenfassung der medienkritischen Aspekte findet sich seit April 2023 in einem Paper bei Researchgate: “Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Eine kommentierte Fallsammlung”  Wenn es doch noch zu einer nennenswerten Aufarbeitung kommen sollte, könnte dies in einem neuen Beitrag gesammelt werden. Für die bessere Orientierung und ggf. Bezugnahme in Kommentaren unter dem Beitrag werden die Einträge bzw. Abschnitte nummeriert.  [Letztes Update: 02.07.2023] . Weiterlesen

Desinfektionsjournalismus

“Aber nein, wir geben uns doch nicht mehr die Hand. Jetzt ist ‘Elbow-Bump’ angesagt.” Einige Male wörtlich so und in zig Variationen ähnlich habe ich es bei der letzten Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK) am 11. März 2020 in München vernommen. War ich schon seit der Heimholung Deutscher aus Wuhan am 1. Februar auf Hab-Acht-Stellung, wurde mir spätestens in München klar: Der Journalismus erlebt gerade keine Sternstunde. Ob er nicht besser konnte oder nicht anders wollte, war damals noch nicht ausgemacht, die Journalistik wird sich damit noch lange beschäftigen. Elbow-Bumb gegen das Virus, vor dem wir (damals noch) alte und kranke Menschen schützen sollten. Nicht die Hand geben. Und in jedem Fall die Hände oft und ausreichend lang waschen. Das intellektuelle Level der Pandemiebekämpfung be- und vertont nichts sympathischer als Ursula von der Leyen, die uns als Stoppuhr für die neue Bürgerhygiene die europäische Freudenhymne singt.
Schon kurze Zeit nach dem ersten von mir wahrgenommenen Elbow-Bump wurde die ganz Münchner Versammlung der Kommunikationsforschung aufgelöst. Weil es die Umstände und die Universitätsleitung forderten, weil die studentischen Hilfskräfte paternalistisch geschützt werden mussten und Krise gerade so groß wie selten geschrieben wurde. Weiterlesen

Zerrspiegel 2: Sturm auf die Entrüstung

Die Berichterstattung ist nicht besser geworden. Das Narrativ von der letzten Großdemo in Berlin gegen die Corona-Politik von Bund und Ländern wurde beibehalten, wie schon die Vorberichte zeigten: Es kommen da “Coronaleugner” zusammen, die latent rechtsradikal sind, sich zumindest davon nicht abgrenzen, sie werden keinen Abstand halten und so zu einem “Superspreader-Event”. Ein paar passende Bilder werden sich zu dieser Erzählung jederzeit finden, und fertig ist das Erregungskontinuum. Reporter berichten gefärbt, wie sie die Welt sehen, und in einer Art Stille-Post-Spiel landen diese Selektionen, vielfach nachbearbeitet, in den Kommentaren der Regionalzeitungen, die man allesamt auch schon Wochen vorher hätte schreiben können, so erkenntnisbringend sind sie. (Uwe Westdörp von der Neuen Osnabrücker Zeitung etwa begründet die notwendige Entrüstung, “weil etwas ins Rutschen gerät, wenn so viele Demonstranten eine gefährliche Einstellung offenbaren: Sie verachten das frei gewählte Parlament.“) Weiterlesen

Corona-Journalismus: Zerrspiegel einer Demo

Eine aktuelle Qualitätsstudie zum “Corona-Journalismus” in der Schweiz kommt zu einer mittelprächtigen Bewertung, eine frühere (methodisch fragwürdige) deutsche Studie, als Pre-Print veröffentlicht, sieht die deutsche Corona-Berichterstattung positiv (zu beiden Studien ein anderes Mal mehr). Wir schauen hier lieber, wie schon seit 14 Jahren, auf Einzelfälle, weil es journalistischer Medienkritik nicht um eine Gesamtbeurteilung geht (niemand nutzt ja die “Gesamtmedien”), sondern um Missstände im Detail.
Die regelmäßig kritischen Punkte haben wir schon oft benannt (ein ausführlicher Debattenbeitrag anlässlich der Pandemie erscheint in Kürze in der Fachzeitschrift “journalistik” 2/2020):
—Durch Voreingenommenheit, Mangel an Recherche und das Verwechseln von Meinen und Wissen, Ansichten und Tatsachen, kommt es im Journalismus permanent zu Verzerrungen.
—Es werden für die Orientierung wichtige Informationen ausgeblendet, andere über ihr repräsentatives Maß hinaus hervorgehoben und simple Faktenwiedergaben durch Interpreation oder Umformulierung zu Falschbehauptungen.

Wir werden hier in loser Folge an Einzelbeispielen Defizite der Corona-Berichterstattung aufzeigen. Dabei geht es wie üblich nicht um die Bewertung von Veranstaltungen oder Ereignissen, sondern ausschließlich um ihre journalistische Darstellung. Es wird hier keine Diskussion geführt um “Corona-Politik” o.ä. Maßstab für die Medienkritik ist ausschließlich die Orientierungsleistung, die der untersuchte Journalismus bietet. Dazu schauen wir heute auf die Spiegel-Berichterstattung über die Demonstration und Kundgebung “Das Ende der Pandemie – Der Tag der Freiheit” am 1. August 2020 in Berlin. Weiterlesen

Mehr Reflexion und Forschung zur Corona-Berichterstattung

War die zurückhaltende, kritiklose Berichterstattung über die politischen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie journalismusethisch gerechtfertigt? Welche Nebenwirkungen hat die starke Fokussierung auf das eine Thema in allen Medien? Wie gut macht die journalistische Medienkritik derzeit ihren Job? Ein Gespräch mit dem Medienethiker Prof. Dr. Christian Schicha:
“Kritik ist immer erlaubt und wichtig”